"Komm Mit!" – Wissenschaftliche Begleitstudie - Fördern statt Sitzenbleiben

 

Deutschland ist eines der wenigen Länder Europas, in denen Schülerinnen und Schüler sitzen bleiben. Bundesweit wiederholen 2,7 Prozent - das sind ca. 234.000 Kinder und Jugendliche - von der Primar- bis zur Sekundarstufe II eine Klassenstufe (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008). Begründet wird die Klassenwiederholung vor allem damit, dass sie den Leistungsverzögerten eine Chance bietet, wieder Anschluss an das Leistungsniveau der Lerngruppe zu finden. Denn: Sitzenbleiben gilt unter Pädagogen als Mittel zur Reduzierung der Leistungsstreuung in Jahrgangsklassen bzw. als Maßnahme der Leistungshomogenisierung von Lerngruppen.

Aktuell wird die Klassenwiederholung kritisiert. Immerhin zeigen sich in Bezug auf Leistung weder für die Sitzenbleiber noch für die verbleibenden Klassenverbände mittel- und langfristig Vorteile des zweimaligen Durchlaufens ein- und derselben Klassenstufe (Einsiedler & Glumpler 1989; Tietze & Roßbach 2001; Bless,Schüpbach & Bonvin 2004; Krohne & Tillmann 2006).

Eine wesentliche bildungspolitische Entscheidung der Landesregierung NRW ist die individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Der verstärkte Einsatz von Maßnahmen der begabungsgerechten Förderung soll zur Reduzierung von Sitzenbleiben beitragen, ohne das Leistungsniveau zu senken. Es gilt, Kenntnisse über pädagogische Fördermaßnahme zu gewinnen, die zur Leistungssteigerung der Schülerinnen und Schüler einen Beitrag leisten und damit das Sitzenbleiben verhindern können. Diese Maßnahmen sollen den Lehrerinnen und Lehrern bekannt gemacht werden, mit dem Zweck, dass sie zukünftig flächendeckend in Schulen angewandt werden.

Auf dieser Grundlage initiierten die nordrhein-westfälischen Lehrerverbände, Lehrergewerkschaften und das Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen die Initiative „Komm Mit -Fördern statt Sitzenbleiben". Seit November 2008 beteiligen sich in NRW 412 Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen an dem Projekt, dessen Ziel es ist, durch Maßnahmen der individuellen Förderung die Sitzenbleiberquote zu reduzieren.

Die wissenschaftliche Begleitung des Projektes bezog sich auf die folgenden Schwerpunkte:

  • die Dokumentation schulischer Fördermaßnahmen zur Reduzierung der Sitzenbleiberquote,
  • die Evaluation der Maßnahmen unter Berücksichtigung schulischer Rahmenbedingungen,
  • die Qualifikation der Maßnahmen im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und Übertragbarkeit in den Schulalltag.

Im Einzelnen standen folgende Ziele im Zentrum der wissenschaftlichen Begleitstudie:

  • Entwicklung, Einsatz und Auswertung von Instrumenten zur Erhebung schulischer Förderkonzepte
  • Erstellung eines Glossars schulischer Fördermaßnahmen,
  • Entwicklung, Einsatz und Auswertung von Instrumenten zur Erhebung schulischer Rahmenbedingungen,
  • Entwicklung, Einsatz und Auswertung von Instrumenten zur Evaluation ausgewählter schulischer Fördermaßnahmen,
  • Bereitstellung von Onlinetools zur Kommunikation der Schulen untereinander,
  • Entwicklung und Einsatz von schulbezogenen Rückmeldestrategien von Evaluationsergebnissen (dabei sollten die Schulen online-gestützte Rückmeldungen der Ergebnisse erhalten),
  • Längsschnittliche Begleitung einer Stichprobe von vom Sitzenbleiben bedrohten Schülerinnen und Schülern unter Berücksichtigung schulischer Rahmenbedingungen und Fördermaßnahmen,
  • Analyse der empirischen Daten mit dem Ziel, Standards für die Förderung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler zu formulieren.

Die Datenanalye und Datendokumentation der Ergebnisse sollte derart erfolgen, dass sie sowohl für Fragestellungen der wissenschaftlichen Begleitung dem MSW, den beteiligten Lehrerorganisationen und der Fachöffentlichkeit, als auch für die Ausschärfung der Förderkonzepte den beteiligten Schulen zur Verfügung stehen. Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Ergebnisse sollten valide Hinweise über Modelle zur Gestaltung einer wirksamen Förderung und ihrer möglichen Übertragbarkeit identifiziert werden.

Die wissenschaftliche Begleitung strebte an, dass die Teilnehmenden der Evaluation einen wahrnehmbaren Nutzen der Evaluation und deren Ergebnisse verbuchen. Die Evaluationsinstrumente wurden so konzipiert, dass sie von den Schulen auch über den Zeitraum der Initiative hinaus für Selbstevaluationsmaßnahmen mit dem Ziel der Schul- und Unterrichtsentwicklung genutzt werden können.

Eine Schulausgangslagenuntersuchung erfolgte im Januar 2009. Sie bestand aus einer Fragebogenerhebung für Schüler und Lehrer sowie aus einer onlinebasierten Datenerhebungen. Die Onlineerhebung umfasste:

  1. Eine Analyse der Sitzenbleibersituation in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 für die Schuljahre 2006/2007 und 2007/2008 (alle 412 Projektschulen) sowie
  2. Eine Erhebung schulischer Maßnahmen zur Reduzierung von Sitzenbleiben (alle 412 Projektschulen).

Bei der Onlineerhebung und Dokumentation der Förderkonzepte wurden die schulischen Rahmenbedingungen (u. a. Sitzenbleibersituation, Einschätzungen und Erfahrungen aus Schüler-, Lehrer- und Elternperspektiven sowie Strukturdaten der Schule) berücksichtigt.

Die Befragung mittels Fragebögen bezog sich auf:

  1. eine Schülerbefragung zu schulbezogenen Einstellungen unter besonderer Berücksichtigung von Einstellungen zu Sitzenbleiben (Achtklässlerbefragung in 80 Projektschulen);
  2. eine Lehrerbefragung zu Schule, Unterricht und zu „beliefs" gegenüber Sitzenbleiben (Lehrerbefragung in 80 Projektschulen).

Das Projekt unterlag einem Projektcontrolling. Planungen, Umsetzungensowie Ergebnisse des Projektes wurden mit dem Beirat der Initiative „Komm Mit!- Fördern statt Sitzenbleiben" kommuniziert. Der Beirat setzte sich aus Vertretern der Lehrerorganisationen (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft NRW, Philologenverband NRW, Verband Bildung und Erziehung NRW, Verein katholischer deutscher Lehrerinnen) den Generalisten „Individuelle Förderung" der Bezirksregierungen, Prof. Dr. Rainer Peek und Vertretern des MSW zusammen.

Prof. Dr. Rainer Peek verantwortete die wissenschaftliche Begleitung bis zu seinem Tod. Die Konzeption des Projektes sowie erste Datenauswertungenwurden bisher auf verschiedenen Veranstaltungen präsentiert:

  • von Prof. Dr. Rainer Peek auf den Regionaltagungen der Regierungsbezirke in NRW,
  • von Prof. Dr. Rainer Peek und Dipl.-Päd. Kerstin Darge auf der 5. Tagung der Sektion „Empirische Bildungsforschung" der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGFE) im März 2009 in Landau
    von Dr. Michaela Artmann und Dipl.-Päd. Kerstin Darge: Landesweite Fachtagung "Komm mit! Fördern statt sitzenbleiben" am 20. Juni 2009 in Bochum
  • von Dr. Johannes König und Dipl.-Päd. Kerstin Darge auf der Herbsttagung 2009 der Kommission Bildungsorganisation, Bildungsplanung, Bildungsrecht (KBBB). Sektion Empirische Bildungsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) im Oktober 2009 in Münster,
  • von Dipl.-Päd. Kerstin Darge und Dr. Johannes König in einem Workshop auf dem zu Ehren Prof. Dr. Rainer Peeks stattfindenden Symposiums im November 2009 an der Universität zu Köln.

Aus der Projektarbeit sind folgende Veröffentlichungen erschienen:

  • König, J., Darge, K.  Schreiber, M. (2012). Teachers’ Beliefs about Retention:
    Effects on Teaching Quality. In J. König (ed.), Teachers`Pedagogical Beliefs:
    Definition and Operationalisation - Connections to Knowledge and Performance - Development and Change
    (pp. 191-204). Münster: Waxmann. Google-Books
  • König, J. & Darge, K. (2010). Sitzenbleiben - Erfahrungen und Einstellungen von Lehrern und Schülern: Erste Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitstudie zur Initiative „Komm Mit! - Fördern statt Sitzenbleiben" des Schulministeriums NRW und der nordrheinwestfälischen Lehrerverbände. In W. Böttcher, J. N. Dicke & N. Hogrebe (Hrsg.), Evaluation, Bildung und Gesellschaft. Steuerungsinstrumente zwischen Anspruch und Wirklichkeit (S. 89-104). Münster: Waxmann.
  • Darge, K., König, J., Schreiber, M. (2010). Skalendokumentation zum Projekt „Komm Mit - Fördern statt Sitzenbleiben". Universität zu Köln. (Onlinepublikation).
  • Darge, K. & Peek, R. (2010).Das Projekt „Komm Mit! – Fördern statt Sitzenbleiben“. Konzept und Evaluation einer Initiative gegen das Sitzenbleiben. In B. Schwarz, P. Nenniger & R. S. Jäger (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliche Forschung – nachhaltige Bildung. Beiträge zur 5. DGfE-Sektionstagung „Empirische Bildungsforschung“ / AEPF-KBBB im Frühjahr 2009 (S. 374-380). Landau: Verlag empirische Pädagogik.
  • Peek, R. & Darge, K. (2008). Sitzenbleiben – aus Sicht von Bildungsforschung und Schulpädagogik. Schule heute, 12/08 / 1/09, 4-8.

Bis zum 31. Oktober 2009 konnten sich weitere 400 Schulen (Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien) an der Teilnahme des Projektes des Schulministeriums "Komm mit!"- Fördern statt Sitzenbleiben" beteiligen. Damit erhöht sich die Zahl der teilnehmenden Schulen auf insgesamt rund 800. Die Initiative ist auf drei Jahre angelegt und wird seit November 2009 von Prof. Dr. Andreas Helmke und Prof. Dr. Ingmar Hosenfeld (Universität Landau) wissenschaftlich begleitet.

Das Projekt erzielte zeitnah erste Erfolge, wie Horst Ellinghaus (CDU) am 14.09.2009 berichtet: "Die Quote der Wiederholer ist auf 2,7 Prozent gesunken und ist damit auf dem niedrigsten Stand seit dem Beginn des Erhebungszeitraums 1997/98. Im Vergleich zum Vorjahr ist das eine Reduzierung um 15 Prozent. Das ist zwar erfreulich, kann aber lediglich als Ansporn verstanden werden, weiter an der Senkung der Wiederholerquote zu arbeiten."

(http://www.horst-ellinghaus.de)

Literatur

  • Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2008): Bildung in Deutschland 2008. Einindikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss anden Sekundarbereich I. Bielefeld.
  • Bless, G., Schüpbach, M.& Bonvin, P. (2004): Klassenwiederholung. Determinanten, Wirkungen und Konsequenzen. Bern.
  • Einsiedler, W.& Glumpler, E. (1989): Analysen zur Entwicklung des Sitzenbleibens (unter besonderer Berücksichtigung der Grundschule). In: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, Band 81, 2/1989, Weinheim, S. 248-259.
  • Krohne, J. & Tillmann, K.- J.: „Sitzenbleiben" - eine tradierte Praxis auf dem Prüfstand. In:SchulverwaltungSpezial, 4/2006, S. 6-9.
    Tietze, W. & Roßbach, H. G. (2001): Sitzenbleiben. In: Rost, D. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim, S. 641-646.