Dissertationsprojekt von Barbara Hövels:

Positionierungen zu Krisen im digitalen Raum. Dokumentarische Rekonstruktionen zur Diskursgestaltung in virtuellen Lehrer*innenzimmern.

Das Dissertationsprojekt widmet sich der Frage, wie Lehrkräfte professionsbezogene Diskurse im Kontext handlungspraktischer Anforderungen mithilfe schriftsprachlicher Kommunikationsbeiträge innerhalb von virtuellen Lehrer*innenzimmern initiieren und wechselseitig gestalten, welche Orientierungen dabei rekonstruierbar werden und inwiefern diese im Zuge der kollektiven Aushandlungen persistent oder transformierbar erscheinen. Vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen innerhalb der Dokumentarischen Professionsforschung (vgl. z.B. Wittek/Martens 2022; Kramer/Pallesen 2019) soll nach Rekonstruktionen lehrer*innenseitiger Bearbeitungen der durch die Corona-Krise bedingten offenen Situation der Schulschließungen, die auf Vergemeinschaftungs- und Verwisserungstendenzen der Akteur*innen im digitalen Raum deuten (Hövels/Herzmann 2021; Hövels/Herzmann i.E.), beispielhaft anhand von Diskursen zum Ausstieg aus dem Lehrer*innenberuf untersucht werden, welches Verständnis von (gelingender bzw. misslingender) Professionalisierung die Akteur*innen entwerfen, inwiefern sie auf vertraute normative Deutungsfolien von Professionalisierungsprozessen rekurrieren bzw. inwiefern sie (gelingende bzw. misslingende) Professionalisierung (neu) entwerfen und wie die jeweiligen Entwürfe in den informellen Professionalisierungsgemeinschaften kollektiv verhandelt werden.

Dabei werden strukturtheoretische Perspektivierungen zugrundegelegt, die die Krisenhaftigkeit als Normalfall der komplexen pädagogisch-unterrichtlichen Praxis fassen, so dass sich das Unterrichtsgeschehen „erst in der Kombination von Krise und Routine […] zureichend verstehen“ (Helsper 2001, S. 3) lässt. Dies wiederum erfordere eine reflexive Auseinandersetzung mit den handlungspraktischen Anforderungen im Rahmen von Professionalisierungsprozessen, deren Relevanz im professionstheoretischen Diskurs im Zusammenhang mit der Herausbildung eines Lehrerhabitus (Helsper 2018; Kramer/Pallesen 2019) im Spannungsfeld zwischen impliziten Orientierungen und externen Normen und Erwartungen diskutiert wird. In diesem Zusammenhang können virtuelle Räume einer Netzwerkgesellschaft (Castells 2017) Lehrer*innen Möglichkeiten eröffnen, in einen Austausch mit anderen zu treten, um (handlungspraktische) Situationen, die nicht routinisiert zu bewältigen sind, gemeinschaftlich zu verhandeln. So deuten Rekonstruktionen im Kontext der pandemiebedingten Schulschließungen auf kollektive Auslotungen und Abwägungen bspw. hinsichtlich der erforderlichen (modalen) Umgestaltung und Anpassung von Unterrichtsangeboten und Beziehungsgestaltung zu den Schüler*innen (Hövels/Herzmann 2021; Hövels/Herzmann i.E.). Das Projekt nutzt Kommunikationsbeiträge aus virtuellen Lehrer*innenzimmern innerhalb sozialer Netzwerke wie Twitter und Instagram. Es handelt sich demzufolge um „nichtreaktive Daten” (Stegbauer 2014, S. 244), die „nicht für eine bestimmte Fragestellung erhoben (Interview, Befragung etc.) [sind], sondern […] ‚Spuren‘ von Interaktionen und Kommunikationen, die nun erneut befragt werden“ (Meißner 2015, S. 39), darstellen. In diesen Daten sind „immer sowohl das Medium als auch die Interaktion des handelnden Subjekts präsent“ (ebd.). Damit spiegeln sie kommunikatives Handeln wider, dessen Beobachtung sich als ‚virtuelle Ethnographie‘ (Hine 2000) verstehen lässt. Die Beiträge werden mithilfe der Dokumentarischen Methode (Nohl 2017) analysiert. Untersucht wird, welche Verständnisse von Profession und Professionalisierung im Zusammenhang mit Krisen und spezifisch Ausstiegsszenarien aus dem Lehrer*innenberuf entworfen werden, welche Orientierungen sich dabei zeigen und wie sich die wechselseitigen Bezüge und Prozesse von Verhandlungen vollziehen. Erste Rekonstruktionen deuten auf Legitimierungen und Grenzverschiebungen des Sag- und Machbaren im Kontext der kollektiven Aushandlungen und (Neu)-Bestimmungen von Professionalisierung, die etwa mit einer Enttabuisierung und normativen Aufwertung des Ausstiegs als Möglichkeit persönlicher Weiterbildung einhergehen.

 

Projektbezogene Publikationen:

Hövels, B./Herzmann, P. (2021). Kontingenzbearbeitung in der Krise. Eine dokumentarische Rekonstruktion von Kommunikationsbeiträgen im #twitterlehrerzimmer zu Zeiten der pandemiebedingten Schulschließungen. Zeitschrift für Qualitative Forschung 22 (1), 139-158.

Hövels, B./Herzmann, P. (i.E.). Positionierungen von Lehrer*innen in Zeiten der Covid-19-Pandemie. Krisendeutungen im Modus von Normalitätsherstellungen. In: Beier, F./ Epp, A./Hinrichsen, M./Kollmer, I./Lipkina, J./Vehse, P. (Hrsg.): (Neue) Normalitäten? Erziehungswissenschaftliche Auslotungen, Kontextualisierungen und Explikationen. Weinheim: Beltz.

 

Literatur:

Bohnsack, R. (2020). Professionalisierung in praxeologischer Perspektive. Zur Eigenlogik der Praxis in Lehramt, Sozialer Arbeit und Frühpädagogik (1. Auflage). Opladen: Barbara Budrich.

Castells, M. (2017). Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter. Wirtshaft. Gesellschaft. Kultur. Band 1. Wiesbaden.

Helsper, W. (2001). Praxis und Reflexion. Die Notwendigkeit einer „doppelten Professionalisierung“ des Lehrers. In: journal für lehrerinnen- und lehrerbildung 3/2001, S. 7-15.

Helsper, W.  (2018). Lehrerhabitus. Lehrer zwischen Herkunft, Milieu und Profession. In A. Paseka, M. Keller-Schneider & A. Combe (Hrsg.), Ungewissheit als Herausforderung für pädagogisches Handeln (S. 105-140). Wiesbaden: Springer.

Hine, C. M. (2000). Virtual Ethnography. Thousand Oaks: Sage.

Höfler, E. (2020). Die „Gefahr” der Bildungsinfluencer*innen. In: Trültzsch-Wijnen, C./Brandhofer, G. (Hrsg.): Bildung und Digitalisierung. Auf der Suche nach Kompetenzen und Performanzen. Baden-Baden: Nomos, S. 309-324.

Kramer,  R.-T. & Pallesen, H. (Hrsg.) (2019). Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Meißner, S. (2015). Die Medialität und Technizität internetbasierter Daten. In: Schirmer, Dominique; Sander, Nadine und Andreas Wenninger (Hrsg.): Die qualitative Analyse internetbasierter Daten. Methodische Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien. Wiesbaden, S. 33-49.

Nohl, A.-M. (2017). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. 5., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden.

Stegbauer, C. (2014). Beziehungsnetzwerke im Internet. In: Weyer, J. (Hrsg.): Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung. München, S. 239-263. In: Wittek, D./Martens, M. (2022): Der reflexive Habitus als implizite Reflexion? Strukturtheoretische und praxeologische Perspektiven auf eine zentrale Begründungsfigur professionellen Handelns von Lehrpersonen. In: Empirische Pädagogik 36, H. 3, S. 5-19.