Empfehlungen für die Förder- vs. allgemeine Schule (EFA)

Schulformempfehlungen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach einer inklusiven Grundschulzeit

 

Projektleitung

Jun.-Prof. Dr. Katrin Lintorf (Universität zu Köln)

Dr. Sina Schürer (Westfälische Wilhelms-Universität, Münster)

 

Projektdauer

Seit 04/20 - fortlaufend

 

Projektbeschreibung

Zielsetzung

Am Ende einer inklusiven Grundschulzeit können Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) entweder eine Förderschule oder eine Regelschule als weiterführende Schule besuchen (Steinmetz, Wrase, Helbig & Döttinger, 2021). Diese Wahl ist bedeutsam, da die beiden Institutionen unterschiedliche Entwicklungsbedingungen bieten, z. B. hinsichtlich Leistung (z. B. Stein & Ellinger, 2018), motivational-emotionaler Merkmale (z. B. Wild et al., 2015), schulischen Wohlbefindens (z. B. Stelling, 2017) sowie sozialer Partizipation (z. B. Kohrt, Gresch & Mahler, 2021).

In den meisten Bundesländern dürfen die Eltern die Entscheidung darüber treffen (Steinmetz et al., 2021), allerdings kommt Lehrkräften dabei häufig eine Beratungsfunktion zu (z. B. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSB NRW], 2021a §11; MSB NRW, 2021b §8). Befunde zur elterlichen Schulformwahl bei Schüler/innen ohne SPF (z. B. Ditton & Krüsken, 2009) oder zur Entscheidung über den (Grundschul-)Förderort bei Schüler/innen mit SPF (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 2003, 2004) lassen vermuten, dass sich Eltern auch bei der Wahl zwischen Regel- und Förderschule am Grundschulübergang an der in der Beratung ausgesprochenen Empfehlung orientieren.

Angesichts der Bedeutsamkeit der Schulformempfehlung untersucht dieses Projekt (1) die Kriterien, die Lehrkräfte für ihre Empfehlung heranziehen, sowie (2) den diagnostischen Prozess, der auf Seiten der Lehrkraft zu einer Empfehlung für eine Förder- bzw. Regelschule führt.

(1) Kriterien und ihre Relevanz: Während Kriterien der Schulformempfehlung für Kinder ohne SPF umfänglich untersucht sind (van Ophuysen, 2018), stehen vergleichbare Studien für Kinder mit SPF noch aus. Für sie zeigt sich konsistent, dass zwar Leistungen und leistungsnahe Merkmale die höchste Relevanz besitzen, aber auch leistungsferne Kriterien (z. B. familiärer Hintergrund) weisen immer wieder einen Zusammenhang mit der Empfehlung auf (Glock, Krolak-Schwerdt, Klapproth & Böhmer, 2013). Es stellen sich daher Fragen wie: Welche Merkmale des Kindes bzw. seines familiären/sozialen Umfelds sind für Lehrkräfte relevant bei der Empfehlung einer Förder-/Regelschule? Wie bedeutsam sind im Vergleich dazu schulstrukturelle Rahmenbedingungen?

(2) Diagnostische Prozessqualität: Studien zur diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften begrenzen sich typischerweise auf die Qualität ihrer Diagnosen, also das Ergebnis des diagnostischen Prozesses (Südkamp, Kaiser & Möller, 2012). Studien zum diagnostischen Prozess selbst sind rar, erst recht in der Forschung zur Übergangsempfehlung (z. B. Krolak-Schwerdt, Böhmer & Gräsel, 2013). Sie fehlen gänzlich für den Übergang von Kindern mit SPF. Das Vier-Komponenten-Modell der Diagnosequalität (Lintorf, Behrmann & van Ophuysen, 2016; van Ophuysen, 2018) legt einen besonderen Fokus auf die Prozessqualität der Diagnostik. Das Projekt orientiert sich an diesem Modell und untersucht vor allem Merkmale, die aufgrund ihrer Handlungsnähe als leicht veränderbar gelten. Dazu zählen: eingesetzte Methoden, Formen der Dokumentation, (multiprofessionelle) Kooperation (zwischen Lehrkräften, aber auch mit Eltern und anderen Beteiligten) sowie Prozessimplementation.

Methode

Das Projekt ist explorativ ausgerichtet und nutzt einen qualitativen methodischen Zugang. Befragt wurden fünf Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung und sieben Regelschullehrkräfte aus inklusiv arbeitenden Grundschulen in NRW. In leitfadengestützten Interviews gaben sie Auskunft über die Formation der Übergangsempfehlung für einzelne von ihnen unterrichtete Kinder. Der dafür entwickelte Interviewleitfaden besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil beinhaltet Fragen, die Narrationen über die für die Lehrkräfte empfehlungsrelevanten Kriterien über das ausgewählte, individuelle Kind anstoßen. Der zweite Teil des Interviews thematisiert fallübergreifend Aspekte zum diagnostischen Prozess bei der Formation der Übergangsempfehlung. Die transkribierten Interviews werden inhaltsanalytisch (Kuckartz, 2018).

Literatur

Ditton, H. & Krüsken, J. (2009). Bildungslaufbahnen im differenzierten Schulsystem. Entwicklungsverläufe von Laufbahnempfehlungen und Bildungsaspirationen in der Grundschulzeit. In J. Baumert, K. Maaz & U. Trautwein (Hrsg.), Bildungsentscheidungen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Sonderheft 12 | 2009 (S. 74–102). Wiesbaden: VS. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92216-4_4

Glock, S., Krolak-Schwerdt, S., Klapproth, F. & Böhmer, M. (2013). Prädiktoren der Schullaufbahnempfehlung für die Schulzweige des Sekundarbereichs I. Pädagogische Rundschau, 67(3), 329–347.

Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2003). Beratung der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Bezug auf die Wahl der für ihre Kinder geeigneten Schulform - Aussagen der Eltern. Heilpädagogische Forschung, 29(3), 133–147.

Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2004). Beratung der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Bezug auf die Wahl der Schul- bzw. Unterrichtsform: Sichtweise der Schulaufsicht. Heilpädagogische Forschung, 30(1), 29–42.

Kohrt, P., Gresch, C. & Mahler, N. (2021). Die soziale Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen und Förderschulen. Die Rolle individueller und klassenbezogener Kompetenzen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 24(5), 1205–1229. https://doi.org/10.1007/s11618-021-01031-6

Krolak-Schwerdt, S., Böhmer, M. & Gräsel, C. (2013). The impact of accountability on teachers’ assessments of student performance: A social cognitive analysis. Social Psychology of Education, 16(2), 215–239. https://doi.org/10.1007/s11218-013-9215-9

Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung (4. Aufl.). Weinheim: Juventa.

Lintorf, K., Behrmann, L. & van Ophuysen, S. (2016). Diagnostik im Lehrerberuf. In M. Rothland (Hrsg.), Beruf Lehrer/Lehrerin. Ein Studienbuch (S. 187–203). Münster: Waxmann.

Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. (2021a). Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen. SchulG NRW. Zugriff am 24.01.2022. Verfügbar unter: https://bass.schul-welt.de/6043.htm

Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. (2021b). Verordnung über den Bildungsgang in der Grundschule. AO-GS. Zugriff am 24.01.2022. Verfügbar unter: https://bass.schul-welt.de/6181.htm

Stein, R. & Ellinger, S. (2018). Zwischen Separation und Inklusion. Zum Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. In R. Stein & T. Müller (Hrsg.), Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (2. Aufl., S. 80–114). Stuttgart: Kohlhammer.

Steinmetz, S., Wrase, M., Helbig, M. & Döttinger, I. (2021). Die Umsetzung schulischer Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention in den deutschen Bundesländern. Baden-Baden: Nomos.

Stelling, S. (2017). Schulisches Wohlbefinden von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Lernen. Eine vergleichende Analyse in inklusiven Klassen und Förderschulklassen des dritten und vierten Jahrgangs. Dissertation. Universität Bielefeld. Zugriff am 26.01.2022. Verfügbar unter: https://pub.uni-bielefeld.de/download/2917002/2917003/Dissertation_Silke_Stelling_Schulisches_Wohlbefinden.pdf

Südkamp, A., Kaiser, J. & Möller, J. (2012). Accuracy of teachers' judgments of students' academic achievement: A meta-analysis. Journal of Educational Psychology, 104(3), 743–762. https://doi.org/10.1037/a0027627

Van Ophuysen, S. (2018). Die Übergangsempfehlung als Aufgabe von Grundschullehrkräften. Theorie und Forschungsstand. In R. Porsch (Hrsg.), Der Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen. Grundlagen für die Lehrerausbildung, Fortbildung und Praxis (S. 89–113). Münster: Waxmann.

Wild, E., Schwinger, M., Lütje-Klose, B., Yotyodying, S., Gorges, J., Stranghöner, D. et al. (2015). Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen in inklusiven und exklusiven Förderarrangements. Erste Befunde des BiLieF-Projektes zu Leistung, sozialer Integration, Motivation und Wohlbefinden. Unterrichtswissenschaft, 43(1), 7–21.

 

Publikationen

Lintorf, K. & Schürer, S. (2023). Kriterien der Übergangsempfehlung bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf: Die Bedeutung kindbezogener, familiärer und schulstruktureller Merkmale im Vergleich. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 26, 1547–1570. https://dx.doi.org/10.1007/s11618-023-01181-9

Schürer, S. & Lintorf, K. (2023). Erziehungs- und Bildungspartnerschaften mit Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – Ein einlösbarer Anspruch am Grundschulübergang? In M. Haider, R. Böhme, S. Gebauer, C. Gößinger, M. Munser-Kiefer & A. Rank (Hrsg.), Nachhaltige Bildung in der Grundschule (S. 158–164). Verlag Julius Klinkhardt. https://doi.org/10.35468/6035-19

Schürer, S. & Lintorf, K. (2021). „Also das ist ja ein ganz enger Austausch“ – Multiprofessionelle Kooperation als Qualitätsmerkmal diagnostischen Handelns am Grundschulübergang bei Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. QfI - Qualifizierung für Inklusion, 3(2). https://doi.org/10.21248/QfI.69

 

Tagungsbeiträge

Lintorf, K., Schürer, S. & van Ophuysen, S. (2021, September). Kriterien der Übergangsempfehlung bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF). Die Bedeutung familiärer, individueller und schulstruktureller Merkmale im Vergleich. Jahrestagung der DGFE-Sektion Schulpädagogik, Osnabrück.

Schürer, S., Lintorf, K. & van Ophuysen, S. (2021, September). Diagnostikbezogene Kooperation beim Übergang von Kindern mit Förderbedarf zur weiterführenden Schule. Sektionstagung empirische Bildungsforschung der DGfE, Mainz.

Lintorf, K. & Schürer, S. (eingereicht). Erziehungs- und Bildungspartnerschaften mit Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – ein einlösbarer Anspruch am Übergang zur weiterführenden Schule? Symposiumsbeitrag bei der 30. Jahrestagung der DGfE-Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe, Regensburg.

Schürer, S. & Lintorf, K. (eingereicht). Kooperation in inklusiven Settings: Ein Blick auf Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf. Symposium bei der 30. Jahrestagung der DGfE-Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe, Regensburg.

 

Betreute Abschlussarbeiten

Kersten, L. (2020). Die Übergangsempfehlung bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – Die Relevanz von kind-bezogenen und familiären Kriterien. Bachelorarbeit. Universität zu Köln.

Bach,T. (2021). Kriterien der Übergangsempfehlung bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – Eine Interviewstudie zur Relevanz von schulstrukturellen Rahmenbedingungen und kind-bezogenen Merkmalen. Bachelorarbeit. Westfälische Wilhelms-Universität, Münster.

Weißenberg, K. (2021). Die Bedeutsamkeit kind-bezogener, familiärer sowie schulstruktureller Kriterien beim Übergang von Grundschulkindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – Inhaltsanalytische Auswertung von Lehrkraftinterviews. Masterarbeit. Westfälische Wilhelms-Universität, Münster.