Promotionsprojekt von Laura Court: Unterrichten ohne Klassenzimmer: Habituelle Orientierungen von Lehrerinnen und Lehrern zur Neuvermessung von Unterricht im Kontext der Covid-19-Pandemie
 
 

Bezugnehmend auf eine kommunikationstheoretische Bestimmung von Unterricht (Meseth, Proske & Radtke, 2011) wird untersucht, wie Lehrer*innen die (wahrgenommenen) Anforderungen der aus der Covid-19-Pandemie resultierenden Schulschließungen im Hinblick auf ihr Unterrichten thematisieren. Hierzu wurden bislang zwischen Mai und August 2020 fünfzehn leitfadengestützte Interviews mit Lehrer*innen der Sekundarstufen I und II von insgesamt sechs Gymnasien bzw. Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen telefonisch durchgeführt und ausgewertet (Nohl, 2017). Ziel ist es, unter den (spezifischen) Bedingungen der „traumatischen Krise", auf die die Lehrer*innen „nicht nicht" reagieren können ([Herv. i.O.] Oevermann, 2004, S. 165), (Handlungs-)Orientierungen in der alltäglichen Gestaltung des Fernunterrichts zu rekonstruieren.

Die Analysen schließen damit an professionstheoretische Überlegungen zum Lehrerhabitus (Helsper, 2018; Kramer & Pallesen, 2019) an. Erkenntnisleitend ist die Frage, ob und inwiefern sich dieser im Spannungsfeld zwischen den impliziten und habituellen Orientierungen der Lehrer*innen einerseits sowie den von außen induzierten Erwartungen und Normen an die Lehrer*innen hinsichtlich der Ausgestaltung des Fernunterrichts andererseits konturiert (Bonnet & Hericks, 2019; Rauschenberg & Hericks, 2018). Dabei wird der Annahme gefolgt, dass die Auseinandersetzung mit Normen eine zentrale Rolle in Professionalisierungsprozessen spielt: Wie Lehrer*innen aber die unterschiedlichen (institutionellen) Anforderungen individuell bearbeiten, ist bisher weitgehend ungeklärt.

Zu diesem Zweck werden mit der Dokumentarischen Methode (Nohl, 2016, 2019) über u.a. die SchulMails NRW, die als offizieller Kommunikationskanal zwischen Schulministerium und Schulen fungieren, die bildungspolitischen Adressierungen gegenüber den Lehrer*innen untersucht. Von besonderem Interesse ist dabei, wie die Lehrer*innen für das (Nicht-)Gelingen des Fernunterrichts (mit)verantwortlich gemacht werden. Dass Lehrer*innen sich zu diesen Adressierungen auch selbst positionieren, zeigt bereits eine Studie zur Analyse virtueller Lehrer*innen-Chats, anhand derer sich lehrerseitig gemeinschaftlich-solidarisierende Distanzierungen zu bildungspolitischen Entscheidungsträgern rekonstruieren lassen (Hövels & Herzmann, 2021) und an die das Projekt "Unterrichten ohne Klassenzimmer" anschließt.

 

Projektbezogene Publikationen

Court, L. & Herzmann, P. (angenommen). Unterrichten ohne Klassenzimmer. Handlungsleitende Orientierungen von Lehrer*innen im Kontext bildungspolitischer Erwartungen in der Covid-19-Pandemie. Empirische Pädagogik, 13(3).

Literatur

Bohnsack, R.  (2014). Habitus, Norm und Identität. In W. Helsper, R.-T. Kramer & S. Thiersch (Hrsg.), Schülerhabitus. Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung (S. 33-55). Wiesbaden: Springer.

Bonnet, A. & Hericks, U. (2019). Professionalität und Professionalisierung als biographische Bearbeitung der Spannungen zwischen Norm und Habitus. In R.-T. Kramer & H. Pallesen (Hrsg.), Lehrerhabitus - theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs (S. 101-123). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Helsper, W.  (2018). Lehrerhabitus. Lehrer zwischen Herkunft, Milieu und Profession. In A. Paseka, M. Keller-Schneider & A. Combe (Hrsg.), Ungewissheit als Herausforderung für pädagogisches Handeln (S. 105-140). Wiesbaden: Springer.

Hövels, B.  & Herzmann, P. (2021). Kontingenzbearbeitung in der Krise. Eine dokumentarische Rekonstruktion von Kommunikationsbeiträgen im #twitterlehrerzimmer zu Zeiten der pandemiebedingten Schulschließungen. Zeitschrift für Qualitative Forschung 22 (1), 139-158.

Kramer,  R.-T. & Pallesen, H. (Hrsg.). (2019). Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Meseth, W.,  Proske, M. & Radtke, F.-O. (2011). Was leistet eine kommunikationstheoretische Modellierung des Gegenstandes „Unterricht"? In dies. (Hrsg.), Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre (S. 223-240). Bad  Heilbrunn: Klinkhardt.

Nohl, A.-M.  (2016). Dokumentarische Methode und die Interpretation öffentlicher Diskurse. Zeitschrift für Diskursforschung, 2, 115-136.

Nohl, A.-M. (2017). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis (5. Auflage). Wiesbaden: Springer.

Nohl, A.-M. (2019). Die dokumentarische Interpretation öffentlicher Diskurse am Beispiel des Missbrauchsskandals in pädagogischen Einrichtungen. In O. Dörner, P. Loos, B. Schäffer & A.-C. Schondelmayer (Hrsg.), Dokumentarische Methode: Triangulation und blinde Flecken (S. 88-116). Opladen: Barbara Budrich.

Oevermann, U. (2004). Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung. In D. Geulen & H. Veith (Hrsg.), Sozialisationstheorie interdisziplinär. Aktuelle Perspektiven (S. 155-181). Stuttgart: de Gruyter.

Rauschenberg,  A. & Hericks, U. (2018). Wie sich Lehrerinnen und Lehrer im Berufseinstieg mit Normen auseinandersetzen. Überlegungen aus der Forschungspraxis zu einigen neueren Entwicklungen in der Dokumentarischen Methode. In M. Heinrich, & A. Wernet (Hrsg.), Rekonstruktive Bildungsforschung. Zugänge und Methoden (S. 109-122). Wiesbaden: Springer.

 

Vorträge

Court, Laura & Herzmann, Petra (2021, September): Unterrichten ohne Klassenzimmer. Habituelle Orientierungen von Lehrer*innen im Kontext bildungspolitischer Erwartungen in der Covid-19-Pandemie. Vortrag auf der Tagung "Reflexion und Reflexivität in Unterricht, Schule und Lehrer*innebildung". DGfE Sektionstagung Schulpädagogik, Universität Osnabrück, online-Tagung.

Court, Laura & Herzmann, Petra (2022, März, angenommen): Zwischen Transformation und Persistenz. Grenzverschiebungen in Schule und Unterricht im Kontext der Corona-Pandemie. Arbeitsgruppe auf dem 28. DGfE-Kongress "Entgrenzungen", Universität Bremen, online-Tagung.