Der Begriff des Experience

von Tatjana Heisermann

 

John Dewey: Der Begriff des Experience

"Daß Erziehung eine Entwicklung von, durch und für Experience ist", wird zentrale These dieses Textes sein.

In systematischer Annäherungsweise soll hier erläutert werden, daß nach John Dewey Erfahrung bzw. Experience zugleich Begründung, Mittel und Ziel eines jeden Erziehungsprozesses darstellt.

Zu Beginn werden in knappen Thesen die historischen und sozial-kulturellen Zusammenhänge der amerikanischen Erziehung nach dem Bürgerkrieg dargestellt, um auf diesem Hintergrund herauszuarbeiten gegen welche Schwächen und Mängel Dewey seine Kritik richtete. Auch Deweys Biographie kann hier nicht unerwähnt bleiben, da sein intellektueller Werdegang eng mit den gesellschaftlichen Ereignissen verknüpft ist.

Daran knüpft sich John Deweys philosophische Geisteshaltung, nämlich die Fortführung des Pragmatismus zum Instrumentalismus. Auf diesen Punkt wird ausführlicher eingegangen werden, da sich aus dieser philosophischen Betrachtungsweise unmittelbar der Begriff des Experience weiterführt.

Die vorangehenden Ausführungen sind Grundlage für die Erläuterungen des Begriffs des Experience, der den Hauptteil dieses Textes umfaßt. In diesem Hauptteil wird zunächst das Wesen und die Kriterien des Experience dargestellt, um dann den Wert des Denkens in diesem Zusammenhang zu begründen. Das Wesen der Methode und die Organisation des Lehrstoffs folgen aus diesem Zusammenhang. Aus dieser theoretischen Begriffsbestimmung heraus, wird dann der praktische Aspekt des Experience erläutert und dargestellt.

Abschluß dieses Textes stellt die Diskussion dar, wobei versucht werden soll, Schwächen und Stärken des Reformkonzepts John Deweys hervorzuheben, um im Anschluß daran zu erörtern, welche Relevanz seine Darlegungen heute noch besitzen.

 

Historisch-gesellschaftliche Begründungen

Zentrales Anliegen Deweys war es, die damals verlorengegangene Verbindung zwischen Schule und Leben, und damit auch der Erziehung und Erfahrung, wieder herzustellen.

Die Jahre nach dem Bürgerkrieg stellten eine Phase des kritischen Umschlages dar, sowohl für die nationale als auch für die schulische Entwicklung Amerikas. Beide Entwicklungen standen im Mißverhältnis zueinander, da die schulische Erziehung bestimmt war durch die Ideale des vorbürgerkrieglichen Amerikas, während im Zuge der Industrialisierung ein Wandel der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge von statten ging.

Da die Schülerzahl beständig wuchs, wurde die Aufgabe immer dringlicher ein umfassendes Konzept der Struktur und Inhalte der Schule zu erstellen. Doch auf dieser Linie herrschte lange Zeit Unsicherheit, so daß erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Struktur des amerikanischen Erziehungswesens festgelegt wurde.

Die grundlegendste Forderung dieser Zeit an die Schule war, sie solle die Schüler auf das spätere Leben vorbereiten und all das vermitteln, was Familie und Kirche bisher vermittelt hatten, nun aber durch den anhaltenden Schock des Bürgerkriegs und den sozialen Wandel, nicht mehr leisten konnten. Nicht die Erfahrung des täglichen Lebens selbst konnte dem Menschen das handwerkliche und kulturelle Rüstzeug geben, das er für seine Lebensführung benötigte, sondern die Schule würde nun diese Aufgaben zu übernehmen haben.

So war die Berufsbildung einer der beiden zentralen Aspekte im amerikanischen Erziehungswesen. Sie war insofern bedeutsam, da nur sie den Nachschub an qualifizierten Kräften für die fortschreitende Entwicklung der Industrialisierung und damit Technisierung des Landes liefern konnte. Dies war zumindest die theoretische Überlegung; in der Praxis jedoch kamen die Schulen dieser Aufgabe nicht nach, sondern versuchten vielmehr das bereits überholte Produktionssystem mit seinen antiquierten handwerklichen Tätigkeiten künstlich zu erhalten. Auf diese Weise trennte sich die schulische Aufgabe deutlich von der Lebenswirklichkeit außerhalb der Schule.

Die Vorbereitung für das Leben hatte noch eine weitere Bedeutung: Die Schule "als Element der nationalen Stärke" hatte die Verpflichtung, treue Staatsbürger zu erziehen. In den letzen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vollzog sich in diesem Zusammenhang ein grundlegender Wandel; war man vor dem Bürgerkrieg noch der Auffassung, Bildung bedrohe die Demokratie, so rechtfertigte man nur Jahrzehnte später, daß einzig ein Minimum an Schulbildung eines jeden Amerikaners das Fortschreiten der Gesellschaft und des Staates gewährleistet. Diese Entwicklung ging so weit, daß man der Schule die weitere Aufgabe zuwies, die Heranwachsenden mit positiven, amerikanischen Idealen, mit politischen und moralischen Axiomen und Prinzipien vertraut zu machen, die geeignet sind, sie in ihren staatsbürgerlichen Handlungen zu leiten.

Die Schulfächer wurden daraufhin ausgerichtet, diese sittlichen Werte zu vermitteln, die zur Stabilisierung der amerikanischen Gesellschaft beitrugen. Dies ging über Literatur, Geschichte bis hin zum Sportunterricht, der Disziplin und Respekt vor dem Gesetz und Staat gewährleisten sollte. Am deutlichsten wurde dieser Respekt mit dem Einzug der amerikanischen Fahne in die Klassenzimmer, die fortan zum Symbol ritueller Verehrung wurde.

Das Bestreben nach einer Entwicklung einer homogenen Struktur dieser amerikanischen Gefühle und Einstellungen im Individuum durch die Schule, stand im radikalen Widerspruch zu den gesellschaftlichen Wandlungen in diesen Jahrzehnten, die das amerikanische Leben immer heterogener werden ließen. Partikularistische, ethnische und städtisch-ländliche Unterschiede wurden eher deutlicher, als daß sie überbrückt worden wären. Und doch klammerte sich die Schule an eine abstrakte Uniformität, zu der sie die Schüler erziehen wollte. Bezüglich der Funktion der Schule war also die öffentliche Erziehung ebensowenig an die Erfordernisse der Gegenwart angepaßt wie die Berufsbildung.

Da Kultur bald als universeller Wert galt, fand sie ebenfalls Eingang in den Lehrplan. Jedoch bedeutete diese Hinführung zur Kultur nicht eine Hinführung zur Kultur der breiten Masse der Gesellschaft, sondern vielmehr zu einer abstrakten, veredelten Kultur des höheren Lebensstils. In den Nach-Bürgerkriegsjahren entwickelte sich die Grundlage einer Definition der offiziellen Kultur der Gesellschaft, die nicht selten im Mißverhältnis zu dem stand, was die Menschen tatsächlich erlebten. Sie war vom wirklichen Leben abgetrennt und diente keineswegs den eigentlichen Bedürfnissen der Amerikaner. Diese nahmen zwar den privilegierten Status dessen, was man als Kultur bezeichnete an, wandten sich aber im übrigen zu Zwecken ihrer Befriedigung und Unterhaltung Formen zu, die außerhalb der offiziellen Kontrolle standen und insofern populär waren. So kam es zu einer immer größer werdenden Kluft zwischen offizieller und populärer Kultur.

Verdienst John Deweys war es nun, dieses Mißverhältnis erkannt zu haben und reformerische Konzepte entwickelt zu haben, die die Trennung zwischen Erziehung und Erfahrung auflösen sollten. Gegenüber den genannten Aspekten der Schule des späten 19. Jahrhunderts, verlangte er nach der Darstellung und Pflege der Individualität und Gemeinschaft, nach Lernen durch Experience und nach Vertrautsein mit einer sich ständig wandelnden Welt.

In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß Deweys Kritik und Ideen sinnvoll bezogen waren auf die Lebensumstände, in denen er wirkte. Dewey begann die Probleme der Erziehung nicht von einem abstrakten, im voraus festgelegten Programm über das, was idealerweise getan werden müßte, aus anzugehen, sondern entwarf seine Pläne in der konkreten Begegnung mit den tatsächlich vorhandenen Mängeln. Seine Ideen waren also Ergebnis einer langjährigen pädagogischen Erfahrung. Ich werde auf die Bedeutsamkeit dieses Aspektes bei der Erläuterung seiner Lebensphilosophie zurückkommen.

 

Biographische Begründung

Deweys Werdegang und Wirken wurde wesentlich durch die gesellschaftlichen Umstände beeinflußt. John Dewey selbst weist später darauf hin, daß die Lebensbedingungen des ländlichen Raumes, wie er sie in seinen Kindheits- und Jugendjahren erlebte, seine Vorstellungen vom Schulleben geprägt haben. Sie waren durch Überschaubarkeit der Verhältnisse, Alltagspflichten, die Kopf- und Handarbeit gleichermaßen betrafen, sowie durch Gespräche und Diskussionen, gekennzeichnet. Konkrete Inhalte seiner Didaktik also, die sich in seinen Erfahrungen dieser frühen Jahre manifestierten.

Ein weiterer Wirkungsfaktor im Leben Deweys liegt in dem puritanischen Moment, das sich in Neuengland auch in einem sozial-geographischen Sinne niedergeschlagen hat. So fand man selbst in den kleinsten Städten jenes Raumes Bibliotheken und Hochschulen, da den Puritanern das Studium der Wissenschaften als ein Gott wohlgefälliges Werk galt. So sollte Dewey dem Willen seines Vaters nach, eigentlich Mechaniker werden, doch die nahegelegenen Universitätsgebäude von Vermont in Burlington ermöglichten Dewey die Aufnahme des Lehramtsstudiums, das er zwei Jahre später als Klassenbester mit dem Examen abschließt.

Auch das geistige Klima dieser historischen Periode soll nicht unerwähnt bleiben: Während Deweys Kindheit war der Bürgerkrieg zu Ende gegangen, der den Sieg des industrialisierten Nordens über den feudalistisch bestimmten Süden proklamierte. Einher ging die Erneuerung der Union, die nun daran ging, sich den Raum im Westen des Kontinents anzueignen und ungeheure Reichtümer anzuhäufen; hinzu kam der Fortschrittsmythos, der die ausbeuterischen Züge dieses Wandels verdeckte und begleitete. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist bedeutender Bestandteil Deweys Lebenswerks.

Eine weitere Komponente der geistigen Konstellation dieser Zeit, liegt im Darwinismus. Darwins Hauptwerk über den Ursprung der Arten erscheint in Deweys Geburtsjahr und wirkt insbesondere in der amerikanischen Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Motor der Entwicklung. An die Stelle des Unveränderlichen setze Darwin die Dynamik des "Survival of the Fittest"', der Selektion, des fortwährenden Entstehens im Prozeß des Lebens.

Wie es auch im folgenden bezüglich der Philosophie des Pragmatismus ersichtlich wird, übernimmt Dewey Darwins Grundgedanken als Lebensleitlinie, indem er das Menschsein als Prozeß versteht, so daß für ihn Menschsein eigentlich Menschwerden bedeutet. Die geeignetste Lebensform ist für Dewey in diesem Zusammenhang die Demokratie, da sie der prozeßhaften Menschwerdung am nächsten kommt.

Am Ende Deweys Lebens machen die Erfolge in der Atomphysik und der Raketentechnik diesen Aspekt noch einmal deutlich. Die moderne Atomphysik zeigt, daß selbst die Materie in sich bewegt und prozeßhaft ist und daß im Sinne der Relativitätstheorie nirgendwo ein isoliertes unabhängiges Sein angenommen werden kann.

 

Philosophische Begründung

Wesentlich mit dem Begriff des Experience verknüpft, ist Deweys philosophische Denkart, nämlich die des Pragmatismus bzw. Instrumentalismus.

Dewey beginnt 1882 das Studium der Philosophie an der John Hopkins Universität in Baltimore. Dort widmet er sich dem deutschen Idealismus, insbesondere Kant und Hegel. Hegels Einfluß zeigt sich vornehmlich bei Deweys dialektischer Begriffsbestimmung, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird. Gleichzeitig studiert Dewey auch bei Charles Sanders Pierce, dem Begründer des Pragmatismus.

1884 nimmt er eine Dozentur für Philosophie an der Universität von Michigan in Ann Arbor an, wo sich mit dem Interaktionisten George Herbert Mead eine langjährige Freundschaft entwickelt, die Dewey ebenfalls stark inspirieren wird.

Der Pragmatismus betont erstmals in konsequentester Weise den Aspekt, daß die Bedeutung eines Begriffs ganz in seinen praktischen Folgen liegt, daß das Handeln also Ursprung aller Dinge ist. Neben dem britischen Empirismus liefert die Darwinsche Evolutionslehre maßgebliche Impulse für die Entwicklung der pragmatischen Philosophie, die zunächst in Diskussionen des "Metaphysical Club" in Boston 1870 vorangetrieben, von C.S. Pierce formuliert und seit 1890 von Wiliam James propagiert wird. Neben den beiden genannten gelten John Dewey und G.H. Mead als Hauptvertreter des amerikanischen Pragmatismus. Für Dewey steht insbesondere der Erziehungsprozeß im Zentrum des philosophischen Interesses.

Die Pragmatisten zeigen, wie das Denken, parallel zur Variation der Arten auf der genetischen Ebene, selbst ein Instrument zur Hervorbringung von Neuem in der Welt ist. Diese aktiv-kreative Funktion des Denkens bedeutet eine Absage an all jene Konzepte, in denen Denken als Schau transzendenter, ontologischer Gegebenheiten gilt, die im Denkakt lediglich rezipiert werden.

Das Handeln ist daher Voraussetzung und Ziel des Erkennens. Die Bedeutung eines Begriffes machen die Pragmatisten von seinen praktischen Konsequenzen abhängig. Die Handlungsweise ist für die Pragmatisten die ganze Bedeutung dieses Gedankens. Begriffe und Hypothesen sollen so gebildet werden, daß sie induktiv zu rechtfertigen sind. James formte diese Logik der Hypothesenbildung in eine Theorie der Wahrheit um, die den Wert oder die Bedeutsamkeit eines Satzes mit dessen Nützlichkeit gleichsetzt. Als Wahrheit gilt allein das, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen läßt und sich in die jeweiligen Belange des individuellen Lebens fügt. Wahrheit und Werte sind demnach situationsbedingt und ständigem Wandel unterworfen. Für den Pragmatismus existiert keine universelle Wahrheit außerhalb des Menschen, sondern vielmehr als vorläufig gültige Wahrheit in der Erfahrung des Einzelnen, so daß hier die pragmatische Rede von Wahrheiten in der Mehrzahl sein soll, die ein Multiversum konstituieren. Wir sehen hier, daß der Pragmatismus höchst demokratisch anmutet, wie Dewey auch später die Demokratie als die Lebensform schlechthin in diesem Sinne propagieren wird, da auch sie sich nicht als Institution, sondern als Methode zur Förderung des kommunikativen Erfahrungslernens und Mittel zum Zweck kooperativer Intelligenz versteht.

Der Pragmatismus stellt demnach eine Methode aus der Praxis für die Praxis dar. Er besitzt keine Dogmen und keine Lehre außer seiner Methode. Für die Pragmatisten gilt, daß das Essen der Beweis des Puddings ist; oder wie es im Neuen Testament heißt: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." D.h. erstes und letztes Kriterium der Erkenntnis ist die Praxis ("Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert.").

Am einflußreichsten wurde der Pragmatismus des von John Dewey vertretenen Instrumentalismus. Der empirisch-praktischen Grundrichtung des Pragmatismus entsprechend geht auch seine Ethik nicht von Prinzipien oder Normen aus, sondern von Lebenserkenntnissen. Wie alle Theorie ist auch die Ethik nicht zweckfrei, sondern Mittel und Instrument, das dem Leben innerhalb der menschlichen Gemeinschaft dient. Auch sittliche Normen und Werte sind solche Instrumente und müssen daher auf das im Fluß befindliche Leben immer neu ausgerichtet werden. Man kann daher diese Anschauung als Situationsethik bezeichnen.

Desgleichen wird der Denkakt bei Dewey zum Instrument der aus dem Prozeß des Lebens hervortretenden Zwecke; ist demnach Mittel des als Problemlösung begriffenen menschlichen Handelns. Ziele sind nicht von außen gesetzt, sondern sie sind im Handeln selbst zu ermitteln. Dies gewährt eine Vertrautheit des Handelnden mit den Angelegenheiten seines Handelns und der Situation der Handlung, wie es Dewey auch in seinem Begriff des Experience betont.

Dieser philosophische Ansatz versteht die Welt als Experiment, und betrachtet deshalb die Untersuchung der gegenwärtigen Situation als Schlüssel eines möglichen Fortschritts aus dem Bewußtsein. Dewey betont in diesem Zusammenhang die Verantwortung des Individuums, denn: "Das Universum im großen Stil zu idealisieren und zu rationalisieren, ist am Ende nichts anderes als das Eingeständnis der Unfähigkeit, den Lauf der Dinge selber zu meistern, die uns insbesondere betreffen. So lange die Menschheit an dieser Unfähigkeit litt, übergab sie eine Bürde der Verantwortung, die sie selbst nicht zu tragen imstande war, den gleichsam eher zuständigen Schultern der transzendenten Ursache."

Dewey bezieht sich in seinem Instrumentalismus vor allem auf die naturwissenschaftliche Methode als optimales Instrument der Anpassung an den beständigen Lauf des Lebens. Wissenschaftliche Erkenntnis ist hier Instrument für Zwecke, die aus der Situation menschlichen Lebens bestimmt werden müssen.

Wahrheit in den Gedanken und Überzeugungen der Menschen bedeutet nach Dewey dasselbe, was Wahrheit in der Wissenschaft ist. Diese Bedeutung besteht einzig darin, daß Gedanken, die selbst nur Teile der Erfahrung sind, in dem Umfang wahr sind, als sie den Menschen behilflich sind, sie in zweckentsprechende Beziehungen zu anderen Teilen ihrer Erfahrung zu setzen, diese Erfahrungen zusammenzufassen, und es ihnen möglich machen, sich mit Hilfe begrifflicher Abkürzungen innerhalb ihrer Erfahrungen zu bewegen. Nach Dewey ist Wahrheit das, was Befriedigung gewährt.

 

Der Begriff des Experience

Die vorangegangenen Erläuterungen machten die enge Verzahnung der gesellschaftlichen und autobiographischen Gegebenheiten, die schließlich in die philosophische Formulierung des Pragmatismus mündeten, deutlich. Aus diesem Zusammenhang heraus läßt sich nun John Deweys Begriff des Experience, als der übergreifenden Einheit von Mensch und Welt, sinnvoll ableiten.

Deweys instrumentalistische Erziehungsphilosophie kennzeichnet Erziehung als die systematische Anwendung des Experience. Erziehung bildet den Kern des Instrumentalismus, denn sie ist das Instrument zur Beförderung des Prozesses des Experience. Unmittelbares Ziel jedes Erziehungsgeschehens ist "the direct transformation of the quality of experience" und "improvement of the quality of experience." Experience ist jedoch nicht 'nur' Ziel, sondern vielmehr auch Mittel und Begründung eines jeden Erziehungsprozesses. Daß Deweys pädagogische Theorie von, durch und für Experience ist (er variierte hier einen Ausspruch Lincolns über die Demokratie), "stellt die Herausforderung dar, ein Ordnungs- und Organisationsprinzip zu entdecken und anzuwenden, das sich aus dem Verständnis dessen ergibt, was erzieherlicher Experience bedeutet."

Wenn Dewey von der Verbesserung der Qualität des Experience spricht, so muß im nächsten Schritt erläutert werden, wie Dewey diesen Begriff überhaupt begreift und nach welchen Kriterien er bemessen wird. Es wird in der Vorgehensweise an die Ausführungen Fritz Bohnsacks angeknüpft, und zunächst Kontinuität und Wandel in der Natur erläutert, um daraus die Dialektik des Experience abzuleiten.

 

Kontinuität und Wandel in der Natur

Die Natur ist für Dewey nach Gegensätzen strukturiert. Diese erscheinen zunächst als Wandel und Kontinuität, welche sich dann in weiteren Aspekten weiterführen, die diese Polarität ausbauen. Jedes 'Event' in der Natur zeigt diese Gegensätze: Wandel, Unsicherheit, Nichtfestgelegtsein, individuelle Eigenwilligkeit auf der einen Seite - auf der anderen Kontinuität, Gesetzmäßigkeit, Ordnung etc. Sie existieren als nicht weiter rückführbare Gegebenheiten, sind miteinander verwurzelt und untrennbar miteinander verbunden, sowie in ständiger polarer Spannung stehend. Für Dewey ist die Dynamik dieser Polarität Voraussetzung für alle Entwicklung.

Deweys Naturphilosophie steht unter dem Einfluß naturwissenschaftlichen Denkens, und so ersetzt er den traditionellen Substanzbegriff durch den der Events. Diese Events der Natur unterscheiden sich nach Geschwindigkeit und Variationsbreite. Die langsameren und rhythmischeren erscheinen als Struktur, die schnelleren und unregelmäßigeren als Prozeß, wobei beide funktional aufeinander bezogen sind. Sie bilden die zwei Adverbien zum Geschehnisverlauf der Events.

Welt ist für Dewey kein "Block Universe", sondern vielmehr offen und unvollendet, so daß es Aufgabe des Menschen ist über das Schicksal dieser Offenheit zu bestimmen. Das Ineinander von Kontinuität und Wandel, das für Dewey die Natur kennzeichnet, bestimmt also auch die Situation des Menschen in ihr. Durch diese Dialektik erwächst auch Experience: "it is precisely the peculiar intermixture of support and frustration of man by nature which constitutes experience." Aus der unentwirrbaren Mischung des relativ Sicheren und Unsicheren in dieser Welt erhebt sich für Dewey alles Denken, indem der Mensch sich der strukturierteren Vorgänge der Natur bedient, um die vergänglich-einmaligen in Kontrolle zu bekommen, und so eine Welt der Ordnung schafft.

Experience besitzt also gleichfalls diese rhythmisch-dialektische Grundstruktur und versteht sich als die umgreifende Einheit von Mensch und Welt. Die Natur ist aus diesem Begriff nicht herauslösbar, da sie dessen Inhalt ist. Experience bezeichnet Dewey als "a double-barrelled word": "It is double-barrelled in that it recognizes in its primary integrity no division between act and material, subject and object, but contains them both in an unanalyzed totality." Der Begriff des Experience ist demnach allumfassend, und so lehnt auch Bohnsack eine Gleichsetzung mit dem umgangssprachlich gebrauchten Wort Erlebnis oder Erfahrung ab, da diese Übersetzung dem von Dewey spezifisch geprägten Begriff nicht gerecht wird.

Experience als Sonderform der Wechselwirkung natürlicher Events weist also eine rhythmische Grundstruktur auf, die Ordnung und Wandel sich aneinander steigern läßt. Jedes menschliche Leben ist mit diesen Rhythmen aufs engste verwoben. Komplexität steigert sich, wenn sich Funktionen in ihrer rhythmischen Gliederung zunehmend verfeinern. Der Organismus ist nur lebensfähig, wenn sein Lebensrhythmus auf den der Umwelt einigermaßen abgestimmt ist. Störung und Wiedergewinn solcher Anpassung stehen ihrerseits in rhythmischen Wechsel. Experience ist notwendigerweise kumulativ, denn: "Every movement of experience in copleting itself recurs to its beginning, since it is a satisfaction of the prompting initial need. But the recurrence is with a difference; it is charged with all the differences the journey out and away from the beginning has made."

Das Leben und jedes einzelne Experience, vollzieht sich in steigernden Kreisläufen, die immer erneut aus dem Vertrauten herausführen ins Unbekannte. Gelingt die Schließung dieses Kreislaufs, über die Auseinandersetzung mit dem Fremden zurück zum Ausgleich mit dem Vertrauten, zur "Consumation", so ist diese Schließung "enhanced by the temporary alienation", und Ausgangspunkt und Entfremdung haben sich in einer gesteigerten Synthese in sich aufgehoben. Nur auf diesem Weg ist Entwicklung und Fortschritt gewährleistet; dieses Prinzip findet sich im folgenden bei den Kriterien des Experience wieder.

 

Kriterien des Experience

Grundlegend für den Begriff des Experience im pädagogischen Zusammenhang, ist das Prinzip der Kontinuität. Es ist für jede Unterscheidung zwischen pädagogisch wertvollen und pädagogisch wertlosen Experiences notwendig. Dieses Prinzip resultiert aus der Perspektive, daß jeder Mensch durch seine spezifischen Experiences verändert wird, so daß diese Veränderung ihrerseits die Qualität der folgenden Experiences beeinflußt. Während das Prinzip der Kontinuität in jedem Fall gilt, beeinflußt die Qualität des jeweiligen Experience die Art und Weise seiner Anwendung.

Das Prinzip der Kontinuität ist universell gültig, entwickelt sich jedoch zu einer Bewertung der einzelnen Experiences, wenn man sich die Formen betrachtet, in denen diese Kontinuität wirksam ist. Dewey begreift den Erziehungsprozeß als einen Wachstumsprozeß im Sinne von Entwicklung; von diesem Standpunkt aus, ist es erforderlich, sich die Frage zu stellen, ob diese Entwicklung im allgemeinen gefördert oder gehemmt wird. Nach Dewey entspricht eine Entwicklung nur dann dem Kriterium der Erziehung als Wachstum, wenn sie zu fortgesetztem weiteren Wachstum anregt.

So sollte jedes Experience als Motivation wirken, d.h. Interesse wecken und Initiative und Ziele entstehen lassen, um den Prozeß des Wachstums in Gang zu halten. Für den Erzieher ergibt sich hier die Aufgabe diesen Prozeß zu fördern, was ein Eingehen auf die jeweilige Situation und den Erfahrungshorizont der Schüler erfordert. Dies setzt weiter ein großes Einfühlungsvermögen und Erkenntnisbereitschaft voraus. Es wird ersichtlich, daß dieser Förderungsprozeß immer sozial bzw. kommunikativ ist, da er menschliche Kontakte voraussetzt.

Experience spielt sich nicht im Vakuum ab, sondern speist sich durch Quellen, die außerhalb des Individuums liegen, d.h. Experience geht nicht einfach nur innerhalb einer Person vor sich, sondern ist unmittelbar mit der Umwelt verbunden. Auch über diese Tatsache muß sich der Erzieher im klaren sein, will er erkennen, welche Umgebung Experience fördert. Verantwortung wird hierbei groß geschrieben. Die überlieferte Erziehung brauchte sich mit diesem Problem nicht zu befassen, sie konnte eine solche Verantwortung systematisch leugnen: sterile Klassenzimmer und Schulhöfe, sowie Lehrer, die lediglich ihr standardisiertes Lehrprogramm runterspulen etc., die Liste wäre beliebig fortführbar.

Zweites Hauptprinzip der Interpretation des Experience ist der Begriff der Wechselwirkung. Er schreibt beiden Seiten des Experience gleiche Rechte zu - den gegenständlichen und den zuständlichen Bedingungen. Jedes Experience ist ein Wechselspiel dieser Bedingungen; zusammen bilden sie das, was wir Situation nennen. Menschsein bedeutet immer auch In-der-Welt-sein, da er in einer Reihe von Situationen lebt. Es findet also immer eine Wechselwirkung zwischen Individuum und Umgebung statt, so daß Experience bestimmt wird durch die Art der Übertragung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Umwelt bezeichnet das Insgesamt der Bedingungen, die mit persönlichen Bedürfnissen, Wünschen, Zwecken und Fähigkeiten in Wechselwirkung stehen, um den spezifischen Experience entstehen zu lassen.

Die beiden Prinzipien der Kontinuität und der Wechselwirkung sind nicht voneinander zu trennen; sie markieren den Längs- und den Querschnitt des Experience. Verschiedene Situationen folgen aufeinander, aber durch das Prinzip der Kontinuität wird jeweils etwas von der früheren Situation auf die nachfolgende übertragen. Indem ein Individuum von einer Situation zu nächsten wandert, erweitert oder verengt sich die Welt zu seiner Umwelt. Was es an Wissen und Fertigkeiten in einer bestimmten Situation erworben hat, wird zum Instrument für ein wirksames Verstehen und Behandeln der nachfolgenden Situationen. Dieser Prozeß vollzieht sich durch das gesamte Leben. Die Integration aufeinanderfolgender, zusammenhängender Experiences konstituiert eine integrierte Persönlichkeit.

Die überaus verantwortungsvolle Aufgabe des Erziehers liegt nun darin, diese integrierte Persönlichkeit zu fördern, indem er eine pädagogische Umwelt anbietet, die mit den vorhandenen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Heranwachsenden so in Wechselwirkung steht, daß entwicklungsfördernde Experiences ermöglicht werden. Nach Dewey ließ die traditionelle Schulerziehung durch den Mangel an gegenseitiger Anpassung, den Lehr- und Lernprozeß zu einem Ergebnis des Zufalls werden. Wem die angebotenen Lehrstoffe zusagten, der lernte dabei; andere kamen lediglich so gut sie konnten zurecht. Die Verantwortlichkeit für die Auswahl objektiver Bedingungen bringt demnach die Notwendigkeit mit sich, die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler zu erkennen und zu fördern: "Es genügt nicht, daß gewisse Lehrstoffe und Methoden sich bei anderen Schülern als wirksam erwiesen haben. Vielmehr muß Grund für die Annahme gegeben sein, daß sie bei den einmaligen Schülern zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort pädagogisch wirksam werden." So ist es nicht der Lehrstoff an sich, der wachstumsfördernd wirkt, sondern die allgemeinen Prinzipien und Bedingungen des Experience.

So wendet sich Dewey gegen die isolierte Aufnahme von Wissen in abstracto. Er betont vielmehr die Bildung bleibender Haltungen, denn nur sie zählen in der Zukunft; so ist die wichtigste Einstellung, die gelehrt werden kann, das Bedürfnis nach weiterem Lernen. Dewey: "Wenn der Mensch den Wunsch verliert, immer wieder neu anzuwenden, was er gelernt hat und nicht mehr fähig bleibt, seine Experiences jeweils neu zu interpretieren, dann verliert er - durch falsches Lernen - sein Menschsein. " Weil die traditionellen Schulen dahin strebten, die Gegenwart einer entfernten und zusammenhanglosen Zukunft zu opfern, darf jedoch auch nicht das Gegenteil davon angezielt werden, da die Beziehung der Gegenwart zur Zukunft, nicht die eines Entweder-Oder ist. Nur der Mensch, der die Verbindung beider respektiert, erlangt geistige Reife. Deshalb obliegt es diesem Menschen, verantwortlich die Bedingungen einzurichten, die Experiences in der Gegenwart, welche sich mit denen der Vergangenheit verknüpfen, ermöglichen, um eine günstige Wirkung für die Zukunft zu erzielen. Erziehung als Reifeprozeß sollte jeweils gegenwärtiger Vorgang sein.

Weitere grundlegende Aspekte des Experience zeigen sich in der Verzahnung aktiven Eingreifens und Hinnehmens, wobei der Grad ihrer Verzahnung das Maß der Qualität des Experience darstellt. Experience schließt ein aktives und ein passives Element mit ein, nämlich Ausprobieren und Versuch auf der einen Seite, auf der anderen Erleiden und Hinnehmen. Je enger diese beiden Positionen miteinander verflochten sind, um so größer ist der Wert des jeweiligen Experience. Für Dewey ist Lernen durch Experience bedingt durch das, was wir mit den Dingen tun, sowie durch das, was wir von ihnen "erleiden", indem wir für die Folgen Rechnung tragen; wir lernen indem wir beide Aspekte "nach rückwärts und vorwärts" in Verbindung bringen. Experience konstituiert sich durch die ständige Rekonstruktion des bereits Vorhandenen und dem Neuen. Zwischen Tun und Erleiden muß aber eine Balance herrschen, soll Experience nicht verzerrt werden.

Daraus folgen für Dewey zwei pädagogisch relevante Schlüsse: Zum einen ist Erziehung in erster Linie eine Sache des Handelns, nicht des abstrakten Erkennens; zum anderen liegt der Maßstab für den Wert eines Experience in der größeren oder geringeren Erkenntnis der Beziehungen und Zusammenhänge, zu der er den Menschen führt. Dewey betont den Wert des permanenten Experimentierens mit der Welt zum Zwecke ihrer jeweiligen und pragmatischen Erkennung, da verbale Formulierungen die Wirklichkeit nicht abbilden können, sondern lediglich einen Grad der Wahrscheinlichkeit näherungsweise präzisieren: "Wir lernen in Wirklichkeit einen Stuhl nicht dadurch kennen, wir gewinnen einen Begriff von ihm nicht dadurch, daß wir seine verschiedenen einzelnen Eigenschaften feststellen und aufzählen, sondern nur dadurch, daß wir diese Eigenschaften zu etwas anderem in Beziehung setzen, zum Beispiel zu dem Zweck,..."

Jede Wahrnehmung und jeder Begriff sind nach Dewey ein Erfassen der Bedeutung, des Nutzens und der Ursachen eines Gegenstandes. In jeder Wahrnehmung wird damit zugleich geurteilt. Dewey sieht die eigentliche intellektuelle Leistung und Bildung darin, Wechselbeziehungen aus dem Handeln heraus zu erfassen. Der Fehler der konventionellen Schulerziehung erwächst aus der Annahme, daß Beziehungen erkannt werden können ohne jedes miteinander verknüpfte Handeln und Erleiden, das Experience konstituiert. Daher resultiere auch die "Sündflut der halben Beobachtungen, der inhaltsarmen Begriffe, der hohlen Wortklänge, des unverdauten Wissens, unter der die Welt leidet." So ist ein Minimum an Experience ertragreicher als ein Maximum an Theorie, da jede Theorie nur im Experience lebendige und der Nachprüfung zugängliche Bedeutung hat.

 

Experience und Denken

So existiert auch keine sinnvolle Qualifizierung des Experience, die nicht ein Element des Denkens enthält. Denken bedeutet die planmäßige und sorgfältige Herstellung von Beziehungen zwischen Handlungen und ihren Folgen. Denken als Methode des Experience steht im Gegensatz zur Methode des "abgeänderten Reagierens". Das Denken im Akt des Experience verhilft dem Individuum Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Handeln und Ergebnis herzustellen. Denken ist demnach das absichtliche Bemühen, die Beziehungen zwischen Handeln und seinen Folgen im einzelnen aufzudecken, so daß Handlung und Ergebnis zu einem Zusammenhang verschmelzen, um dann rekursiv auf individuelle Experiences zurückzuwirken und Weiterentwicklung zu ermöglichen.

Denken gibt dem Menschen die Möglichkeit im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel zu handeln. Wer aber denkend Folgen seines Handelns vorwegnehmen kann, der muß auch Verantwortung für dieses Handeln übernehmen.

Denken entsteht immer in noch unabgeschlossenen, in der Entwicklung befindlichen Sachlagen; es tritt dann ein, wenn etwas zweifelhaft, unsicher und problematisch ist. Zweck des Denkens ist es hierbei einen problemlösenden, vorläufigen Abschluß zu erreichen. In Problemlagen fragen und suchen Menschen nach etwas, was noch nicht zur Hand ist; Denken ist in diesem Zusammenhang individuelle Forschungsleistung, da die Entwicklung von Problemlösungsstrategien aus dem individuellen Experience und dem damit verknüpften Denkakt resultieren. Diese eigene Leistung ist für Dewey in jedem Falle höchst anerkennenswert, auch wenn die Lösungen bereits der restlichen Welt bekannt sind.

Dewey formuliert folgende wesentliche Grundzüge des denkenden Experience:

Da wären zu Beginn Befremdung und Zweifel zu nennen, die den Denkakt in Gang bringen; daraus folgt eine versuchsweise Vorausberechnung, d.h. eine probeweise Deutung, die in der sorgfältigen Erkundung aller gegebenen Umstände und möglichen Folgen, mündet. Darauf folgt die versuchsweise Ausgestaltung der vorläufigen Annahme, die nun immer bestimmter und in sich geschlossener wird. Daraus resultiert schließlich die Entwicklung eines Planes für das eigene Handeln auf der Grundlage, der auf diesem Wege durchdachten Annahme. Dieser Plan dient dem Handeln, in der Absicht bestimmte Ergebnisse zu erzielen und dadurch die Richtigkeit der Annahme nachzuprüfen. Wenn dabei bestimmte Veränderungen eintreten, so hat sich der Plan bewährt und die Annahmen werden als vorläufig gültig anerkannt. Ist dies nicht der Fall, werden sie abgeändert, und es erfolgt eine erneute Erprobung.

In diesem Prinzip zeigt sich deutlich, daß Urteile niemals absolut sind, sie existieren vielmehr als Hypothesen, die immer wieder von neuem überdacht und überprüft werden müssen. Experiences müssen demnach auch ständig neu geordnet werden, da jeder gegenwärtige Experience eine bewegende Kraft ist, die die zukünftigen beeinflußt. Unter diesem Aspekt wird verständlich, daß Experiences nur dann pädagogisch wertvoll sind, wenn sie einer Spirale gleich, sich permanent weiter schrauben, und neue Dimensionen eröffnen. Flexibilität des Denkens, die Welt als Experiment begreifen und die ständige Auseinandersetzung mit der Zukunft ist Voraussetzung für ein Leben in einer sich permanent wandelnden Welt.

Der Erfolg der Problemlösung im pädagogischen Bezug basiert aber nicht nur auf dem individuellen Erfahrungsschatz, sondern vielmehr auf dem gemeinsamen Fortschritt der Gruppe der Schüler, der kooperativ Handelnden, so daß pragma und Sozialität hier eine unlösbare Verbindung eingehen. In der traditionellen Lehrweise ist es immer wieder zu beobachten, daß Schüler statt miteinander zu kooperieren, wie es Dewey in seinem interaktionistischen Lernkonzept formuliert, vielmehr isoliert für sich den Lehrstoff aneignen, um in der Konkurrenz bestehen zu können.

 

Das Denken in der Erziehung

Dewey sieht die Hauptaufgabe der Schule darin, gute Denkgewohnheiten zu entwickeln, da sie Grundsteine jedes einsichtigen und verantwortungsvollen Handelns und damit Experience sind. So soll das Denken erfolgreicheres Handeln gewährleisten, bei welchem der Schüler etwas Neues über sich und die Welt erfährt. Wenn eine Fertigkeit abseits vom Denken erworben wird, so fehlt jedes Verständnis für den Gebrauch, der von ihr gemacht werden soll, denn Wissen ohne Beziehung zu verständigem Handeln ist toter Ballast.

Denken bildet für Dewey die Methode des bildenden Experience. Die wesentlichen Merkmale dieser Methode sind darum identisch mit den grundlegenden Merkmalen des Denkens. Anfangszustand des Denkens ist Experience. So sollte der Schüler eine wirkliche, für den Erwerb seiner Experiences relevante und anregend-problematische Sachlage vorfinden, so daß er mit dieser experimentieren, und die Wechselwirkung zwischen seinem Handeln und den daraus resultierenden Konsequenzen beobachten kann. Spezifische Situationen müssen den Schüler zum aktiven Tun anleiten, nicht zum Lernen äußerer Gegebenheiten im traditionellen Sinne; dieses Tun sollte dergestalt sein, daß es Denken erforderlich macht.

Dewey prägt hier den Begriff des "Learning by Doing", da in diesem Prozeß des geistigen und physischen Nach-Lebens (reliving), das Lernen 'Nebenprodukt' ist. Der Schüler muß die Gelegenheit bekommen, seine Gedanken durch praktische Anwendung zu erproben, ihren Sinn zu klären und auch ihren Wert selbständig zu entdecken. Nur ein solches Durch-Machen führt zu realer, nicht bloß verbaler Erkenntnis. Der Stoff des Denkens besteht eben nicht nur aus Gedanken, sondern ebenso aus Handlungen und den Beziehungen der Dinge zueinander: "Und diese Verbindung zwischen dem, was die Dinge uns gegenüber tun..., indem sie unser Handeln beeinflussen, einzelne unserer Betätigungen fördern, andere behindern oder unterbrechen, und dem, was wir ihnen gegenüber tun können, um neue Veränderungen hervorzubringen - das macht Experience aus." Vorgefertigte Lehrpläne stehen im krassen Gegensatz zu Deweys Forderungen, da sie eine uniforme Anpassung des Schülers fordern, statt sich selbst an die spezifische Situation der Schüler anzupassen.

Aus dem Grade der Wechselbeziehung von Informationen, die in der Schule dargeboten werden, und der Zahl der Anregungsmöglichkeiten selbständig problemlösenden Denkens, ergibt sich der Maßstab zur Beurteilung der Unterrichtsqualität: Am schlechtesten schneidet hierbei die isolierte Darbietung von experiencefernen Inhalten ab; etwas günstiger ist die Verknüpfung des Vorwissens mit dem neu zu Lernenden, doch der beste Unterricht stellt die Wechselwirkung mit der Wirklichkeit außerhalb der Schule her. Hierbei muß der Lehrer jedoch darauf achten, daß DIE EINE Wirklichkeit der Schüler nicht existiert, sondern vielmehr ein Multiversum an Wirklichkeiten. Diesem Multiversum entspricht die Vielzahl an Experiencehintergründen der einzelnen Schüler. Der Unterricht sollte also so angelegt sein, daß jeder Schüler seinen individuellen Lernmaßstäben folgen kann.

Wichtig bei der Schaffung solch individueller Situationen ist nun die Balance zwischen Herausforderung an Neuem, Unbekannten, und Vertrautem, Sicheren. Die Situation sollte daher nur soviel Problematisches bieten, wie es mit bereits bestehenden Experiencemustern in Zusammenhang steht, so daß eine wirksame Problemlösung daraus erwachsen kann. Ist diese Kluft zu groß oder zu klein, so kann dies den Schüler einerseits überfordern, andererseits unterfordern. Hierbei sollte der Lehrer eng mit dem Schüler zusammenarbeiten, ihm gelegentlich Denkanstöße geben, ihn nicht mit fremden Wissen indoktrinieren. Es liegt auf der Hand, daß sich in solch einer Vorgehensweise der Status des Lehrers unweigerlich wandelt, denn er ist nun nicht mehr allwissender Lehrer, sondern vielmehr Lehrer und Lernender zugleich, da auch er Teilnehmer einer spezifischen Tätigkeit ist. Auch für den Schüler ergibt sich ein Statuswandel, er ist gleichfalls Lernender und Lehrer zugleich.

Durch die gemeinsame Tätigkeit, erwächst auch für alle Seiten ein inneres Verantwortungsgefühl, so daß die Auferlegung einer äußeren Autorität nicht mehr vonnöten ist.

Deweys Kritik am traditionellen Schulwesen richtet sich gegen das Fehlen an greifbarem Material und wirklicher Tätigkeit, die echte Probleme erzeugen. Die Probleme der Schule sind nicht die des Schülers, sie berühren ihn nur in seiner formalen Rolle als Schüler, nicht aber als Menschen. Dewey bedauert die bezugslose Anhäufung von fremden Wissen, da sie die Motivation zu weiterem Lernen nicht gewährleistet, und oft in keinerlei Zusammenhang mit dem Erfahrungshorizont des Schülers steht. Doch Wissen im Sinne von wirklichem Experience und Erkenntnis ist für Dewey DAS "arbeitende Kapital" schlechthin, weil nur dieses Wissen Hilfsmittel für weiteres Forschen, Erkennen und Erlernen, ist. Dieses Wissen ist Mittel, und nicht Zweck des Lernens. Nur auf diesem Grundstein läßt sich weiteres Wissen aufbauen, denn: "Auf einem mit allerlei Schutt bedeckten Grunde kann man kein Haus bauen."

Dewey betont in diesem Zusammenhang das schöpferische Element eines Gedankens, der in der Praxis seine Anwendung findet und durch seine Wirksamkeit auf den Experiencehintergrund des Schülers zurückwirkt, ihn somit bereichert, da er etwas Neues für den einzelenen geschaffen hat. Dieses schöpfersisch-individuelle Moment birgt die Einsicht, daß kein Gedanke, kein Begriff und kein Experience von einer Person auf die andere übertragen werden kann. Nur wer selbst mit den Problemen ringt, und eigene Strategien entwickelt und anwendet, der denkt wirklich. Geist ist demnach der richtungsgebende Faktor in der Entwicklung des Experience. Wesentlicher Gesichtspunkt dieser Sichtweise ist das Wesen der Freiheit, nämlich der Freiheit des Denkens, Beobachtens und Urteilens, die dem Schüler zuteil wird. Nur diese innere Freiheit gewährleistet individuelle Entfaltung einerseits, und die Akzeptanz anderer Denkformen andererseits. Hier kommt Dewey wiederholt auf das Prinzip der Demokratie zu sprechen, da nur sie Individualismus und Pluralismus in Verbindung garantieren kann.

 

Das Wesen der Methode

Um die vorangegangenen Ausführungen zu differenzieren, erscheint es sinnvoll, das Wesen der Methode und im folgenden das Wesen des Lehrstoffs zu erläutern, die beide untrennbar miteinander verbunden sind.

Methode versteht sich als die besondere Vorgehensweise, den stofflichen Gehalt eines Experience so fruchtbar wie möglich zu entfalten. Gewisse Materialien werden also in einer gezielten Vorgehensweise zu bestimmten Zwecken verwendet. Methode ist deshalb niemals etwas außerhalb des Stoffes. Die Vorstellung einer vom Gegenstand abgespaltenen Methode resultiert aus einer dualistischen Denkweise und ist so unhaltbar, wie die des von der Nahrung getrennten Eßvorgangs. In der Schule hat das Mißverständnis der Methode zu einer Reihe von Mißständen beigetragen, u. a. einer "mechanischen Gleichförmigkeit" des methodischen Leistens, über den sämtliche persönliche und gegenständliche Situationen geschlagen werden.

Durch die Kenntnis, daß Methode und Lehrstoff unmittelbar zusammen gehören, intensiviert sich zum einen die Konzentration auf die relevanten Sachlagen des Experience, und somit die Verbindung zwischen formaler Bildung und echtem Interesse; daraus ergibt sich das Lernen als Ergebnis der Betätigung mit dem Stoff sozusagen nebenbei, und verhindert außerdem eine routinierte und mechanische Darbietung und Aneignung des Stoffes.

Dewey unterscheidet zwischen allgemeiner und persönlicher Methode der Aneignung geistigen Wissens. Den Stoff für die allgemeine Methode liefern das Wissen um die Vergangenheit, um die gegenwärtige Anwendung auf bestimmte gegebene Situationen, um die Materialien und um die Wege, auf denen man zu den wirksamsten Ergebnissen kommt. Ein wichtiger Teil des Lernens besteht also darin, daß der Schüler sich die Methoden aneignet, die sich in den Experiences anderer gegenüber ähnlichen Situationen des Kenntniserwerbs als fruchtbar erwiesen haben. Das Verständnis dessen, der die allgemeine Methode anwendet, ist die Bedingung ihres Erfolges. Wenn die eigene Reaktion des Schülers durch die Hinweise dieser allgemeinen Methode verständlich gemacht wird, dann erfährt diese ihren eigentlichen Wert. Es ist jedoch unstrittig, daß jeder auf seine Weise auf den Stoff reagieren kann und soll.

Zwingt man allen Schülern lediglich eine uniforme allgemeine Methode auf, so bedeutet dies, bei allen Mittelmäßigkeit heranzuzüchten, da persönliche Methode und schöpferische Ursprünglichkeit nicht zum Zuge kommen können. Am Ende läuft also alles auf die Entwicklung einer persönlichen Methode hinaus, die zum einen gekennzeichnet ist durch individuelle Fähigkeiten, spezifische Experiences und Neigungen; und zum anderen durch bestimmte Kennzeichen allgemeiner Art.

Unmittelbarkeit wäre als Kennzeichen allgemeiner Art zu Beginn zu nennen, d.h. die Sache selbst bildet den Gegenstand. Nicht die Tatsache des Lernens, sondern der Gegenstand selbst muß im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Unmittelbarkeit soll die Aufmerksamkeit des Schülers gewährleisten, und außerdem dafür Sorge tragen, daß der Schüler sich den Forderungen der Sachlage gewachsen fühlt und an ihnen wächst.

Daß der Schüler sich geistige Scheuklappen anlegt, soll die Ausbildung einer geistigen Aufnahmebereitschaft verhindern. Zugänglich für neue und fremde Aspekte zu sein, seine Ziele im Lauf des Auseinandersetzungsprozesses auch zu revidieren, seinen Gesichtskreis ständig auszuweiten und Zwecke und Reaktionsweisen folgerichtig zu entwickeln, dies sind die Grundvoraussetzungen für geistiges Wachstum. "Die Hauptfeinde, die die geistige Aufnahmebereitschaft in der Schule bedrohen, sind der übertriebene Wunsch nach Gleichförmigkeit und das Verlangen nach äußeren Ergebnissen." Alle Lehrenden sollten sich deshalb bewußt sein, daß der Maßstab für geistiges Wachstum nicht die Abgabe richtiger Antworten ist, sondern die Beschaffenheit der geistigen Vorgänge.

Desweiteren soll die ganze Hingabe, gleichbedeutend mit geistiger Geschlossenheit, bei jedem Schüler gefördert werden. Dieser Begriff ist eng verbunden mit dem der Unmittelbarkeit, doch zeigt sich hierbei die Tiefendimension. Geistige Geschlossenheit ist nicht durch darauf gerichtetes Streben direkt zu erreichen, sondern im Kontext von aktiver Aufmerksamkeit. Im Unterricht herrscht nicht allzu selten eine Spaltung zwischen öffentlich erwünschten und unterdrückten, individuellen Gedanken; diese Spaltung gilt es zu überwinden.

Abschließend wäre noch das Bewußtsein der Verantwortlichkeit als Bestandteil geistiger Haltungen zu nennen. Jeder muß sich der Folgen seines durchdachten Handelns verantworten, so daß man in diesem Zusammenhang auch von einer geistigen Gründlichkeit sprechen kann, die es dem einzelnen ermöglicht, einen Gegenstand durch und durch zu sehen und zu erkennen. Das Bewußtsein der eigenen Verantwortlichkeit für Denken und Handeln verhindert mechanisches Aneignen fremden Wissens, so daß Urteil und Überzeugung nicht bloß leere Worthülsen bleiben.

 

Das Wesen des Lehrstoffs

Aus dem Vorrat an Experiences, der sich in komplexen Gesellschaften ansammelt, resultiert der Lehrstoff, dessen Problematik in seiner Auswahl einerseits, in der Form seiner Didaktik andererseits liegt.

Zu Beginn sollte sich der Lehrende bewußt sein, daß der Schüler Wissen nur soweit annimmt, wie es seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht. Die erste Stufe des Erkenntniserwerbs ist daher mit handelndem Tun verbunden; der Stoff muß derart in die Betätigungen des Schülers eingebunden werden, daß zusammenhängende Experiences entwickelt werden können. Es muß demnach eine Umgebung geschaffen werden, die geeignete Reaktionen herausfordert und den Lernenden in seinem Fortschritt leitet. Weitere Notwendigkeit ist die soziale Umgebung, die den gebildeten Experiences in Wechselwirkung mit ihr, Sinn und Bedeutung geben muß. Relevante Betätigungen sollten aus der Gemeinschaft entspringen und für die Gemeinschaft Wert haben. Lehrstoff besitzt also auch eine soziale Seite, da alles Wissen und aller geordnete wissenschaftliche Lehrstoff durch soziale Bedingungen herausgearbeitet und durch soziale Mittel überliefert werden.

So muß nach Dewey die Erziehung in erster Linie allgemein menschlich sein und erst in zweiter Linie beruflich. Traditionelles Schulwissen bedeutet daher oft eine künstliche und isolierte Erkenntnis: "Nur allzu oft bildet dieses Wissen eine zweite seltsame Welt, die die Welt der eigenen Experiences einfach überlagert." So wird in aller Regel, das für Erkenntnis gehalten, was in der Schule lediglich dargestellt wird. Der schwerwiegende Fehler darin liegt, daß übersehen wird, daß Erkenntnis immer das Produkt tätiger Auseinandersetzung mit Problemen ist. So darf der Lehrer nicht in erster Linie mit dem Lehrstoff selbst, sondern vielmehr mit seinen Beziehungen zu den gegenwärtigen Bedürfnissen und Fähigkeiten des Schülers beschäftigt sein.

Wissenschaft bildet für Dewey daher die höchste Erkenntnis, als sie eine planmäßige Methode repräsentiert, die den breitesten und allgemeineren Erkenntnisgewinn gewährleistet. Wie die Erkenntnisse geordnet sind, nämlich mit angemessenen Methoden und unter sorgfältiger Nachprüfung, zeichnet die Wissenschaft als solche aus. Wichtig hierbei wiederum ist die Verbindung zwischen Wissenschaft und real existierenden Problemen. Wissenschaftliche Einsicht in die Gesetze und Stoffe, die in den spezifischen Tätigkeiten eine Rolle spielen, soll so entwickelt werden, indem Tätigkeiten um ihrer selbst willen durchgeführt werden.

Die Auswahl des Lehrstoffes sollte dem Grundsatz folgen, daß die Experiences der breiten Masse im Hinblick auf eine bessere Zukunft beeinflußt werden. Lehrstoff bildet die reife Frucht von Experiences. Dewey richtet sich hier gegen die Aufteilung der Vermittlung lediglich der Kulturtechniken für die unteren Schichten und einer Geisteskultur für die oberen, da dies mit dem Erhalt einer demokratischen Gemeinschaft nicht vereinbar ist. "Die Erhaltung einer demokratischen Gesellschaft ist in besonderem Maße davon abhängig, daß der Lehrplan ihrer Schulen breite, allgemein menschliche Gesichtspunkte zum Ausdruck bringt." und: "Ein Lehrplan, der die soziale Verantwortlichkeit der Erziehung anerkennt, muß für Lagen sorgen, in denen die sich aufdrängenden Probleme zu den Schwierigkeiten und Aufgaben des Zusammenlebens in Beziehung stehen, in denen Beobachtung und Wissen darauf berechnet sind, die soziale Einsicht und das soziale Interesse zu entwickeln."

 

Die Unbestimmbarkeit des Erziehungsziels als Kennzeichen instrumentalistischer Erziehungsphilosophie

Ziele als Lösungen von Problemsituationen stellen für Dewey keine Endstationen dar, sondern entwickeln sich im Problemlösungsprozeß vielmehr zu Mitteln, die über sich hinausführen und neue Lösungen auf eine neue Zielsetzung hin verlangen. Dieser fortlaufende Prozeß gilt im allgemeinen, wie auch im Zusammenhang mit der pädagogischen Zielsetzung. Es zeigt sich, daß es für Dewey keine Trennung zwischen Zielen und Mitteln geben kann, sie stellen lediglich zwei Phasen in einem Vorgang dar.

Ziele entstehen aus der Problematik der jeweiligen Situation, als deren Lösung, und der einmaligen Besonderheit der Situation entspricht die des jeweiligen Ziels. Dewey spricht hier von einem "foreseen end", doch dieses "Ende" besitzt lediglich Funktionswert. Ziele besitzen eine der Situation und ihrer spezifischen Problematik dienende Funktion und müssen daher flexibel sein und sich stetig entwickeln. Sie klären sich und wachsen auf dem Weg zur Problemlösung hin, was eine vorgreifende Fixierung von vornherein ausschließt. Ein Ziel kann seine Funktion aber nur dann erfüllen, wenn es sich in praktische Maßnahmen übersetzen läßt. Der Wert eines vorläufigen Ziels besteht darin, daß man es zur Problemlösung benutzen kann. Dewey betont in diesem Zusammenhang den Eigenwert der Gegenwart und die Unersetzlichkeit jedes menschlich gelebten Augenblicks.

Pädagogische Ziele werden ebenfalls erst konkret in dem Maße, wie der Lehrer sich mit der Realität der jeweiligen Lernsituation einläßt. Seine pädagogischen Ziele müssen sich auf die Gegenwart konzentrieren und auf das Besondere der jeweiligen Schülersituation hin individualisiert werden. Nur so kann jeder Augenblick des Lernprozesses für den Schüler sinnvoll und vertraut werden. Eine solch verstandene Zielperspektive verleiht den Mitteln, der Gegenwart, Sinn und Bedeutung, welche ihrerseits unmittelbar erlebt wird. Auf diese Weise bringt der Unterricht Belohnung durch sich selbst. Deweys Auffassung vom Erfülltsein jedes Augenblicks mündet in einer politischen Dimension, da dieses Verständnis zum Kriterium zur Verwirklichung von Demokratie, auch in der Schule, wird. Dewey widersetzt sich der Anpassung an vorgefaßte Standards einer Gesellschaft, propagiert daher Individualismus und Situationsbezogenheit, und richtet sich mit dieser Forderung gegen die abstrakten Inhalte und Erziehungsziele des damaligen amerikanischen Schulsystems. In diesem Moment zeigen sich die gesellschaftliche Bedingtheit und der philosophische Einfluß des Instrumentalismus.

Doch bei aller Skepsis gegenüber allgemein formulierten Zielen, nennt Dewey zahlreiche Beispiele, die auf die Tugenden rationaler Situationsbewältigung als umfassende Erziehungsziele hinweisen. So formuliert Dewey den Begriff der intelligenten Selbstführung; hier soll der Schüler lernen, den komplexen Charakter jeder Situation und die Vielfalt möglicher Folgen seines Handelns zu überschauen. Auch soll er die Fähigkeit und Ausdauer entwickeln, diese Einsichten praktisch durchzusetzen. Nur so fungiert der Wille, nach Dewey, als "constructive power of achievement".

Die praktische Lösung des spezifischen Problems in der Situation erfordert weitere Qualifikationen, die Dewey - bei aller Betonung individueller Verschiedenheiten - in übergreifenden Formulierungen ausdifferenziert: er nennt directness, open-mindness und responsibility. Der Schüler muß zum einen unmittelbar und ungeteilt sich mit der jeweiligen Situation vertraut machen, und bei der Sache sein, um der Sache willen. Bei allem Engagement sollte er jedoch eine angemessene unparteiische Distanz bzw. Objektivität zur Sache entwickeln, um vorurteilsfrei und flexibel auf neu zutage tretende Aspekte der Situation zu reagieren, und um sich für die Argumente anderer offenzuhalten. Dewey nennt dies "intellectual Hospitality". Bei all dem sollte der Schüler seinem innewohnenden Impuls folgen, und sich nicht einem fremden Willen unterwerfen, so daß sein Handeln in Einheit mit der Situation und der eigenen Erfahrung steht. Im Gegensatz dazu betreibt die traditionelle Zwangsschule eine Einübung im Gespaltenen, nämlich zwischen den echten eigenen und den aufgezwungenen Schulinteressen. Nur wenn sie aus dem eigenen Wesen resultiert, ist schließlich auch echte Verantwortlichkeit zu erreichen, als Grundbereitschaft, für die Folgen des eigenen Tuns einzustehen und die Konsequenzen entsprechend sorgsam abzuwägen.

Geistige Originalität, Initiative, Unabhängigkeit und schöpferische Kritik sind für Dewey wichtiger als eine bestimmte technische Fertigkeit und berufliche Leistung, denn der Drehpunkt des Fortschritts der Gesellschaft liegt für ihn in der Fähigkeit und Courage des einzelnen zur schöpferischen Variation.

Wissensinhalte treten hierbei zurück. Doch übersieht Dewey die Dringlichkeit der Aneignung eines umfassenden Wissens zur Problemlösung im Zuge der Industrialisierung, nicht. Dewey spricht von einem "ideally perfect knowledge" und nennt es "pragmatic", wenn es auf Experiences basiert, die sich in jeder neuen Situation fruchtbar anwenden lassen, und zwar in Richtung auf eine planmäßige Verbesserung der menschlichen Umwelt. Höchste Stufe bildet für ihn hierbei die Wissenschaft, die als die reinste Form des Erkennens und Wissens gilt. Zivilisation definiert Dewey als progressive Beherrschung der Natur und Ausnutzung ihrer Kräfte für den sozialen Fortschritt. Das Ziel des wissenschaftlichen Unterrichts sei es, den Schüler mit dem Glauben zu erfüllen, daß die menschliche Intelligenz die Probleme der Menschheit selber zu lösen vermag.

Der Prozeß menschlichen Wachsens und der Erziehung findet somit Sinn und Zweck in sich selbst. Es ist daher, für Dewey, so sahen wir, sinnlos, das eine Ziel der Erziehung konstituieren zu wollen: "The educational process has no end beyond itself; it is its own end" Dewey kritisiert deshalb die traditionelle Einstellung, das Wachsen habe ein Ziel, denn es ist für ihn Ziel. Wachsen bezieht sich lediglich auf mehr Wachsen, die Erziehung ist entsprechend allein dem Ziel "mehr Erziehun g" unterstellt. So ist unmittelbares Ziel eines jeden Erziehungsgeschehens "the direct transformation of the quality of experience" und "improvement of the quality of experience". Letzter Wert und Wertmaßstab für jede Institution der Gesellschaft besteht in diesem Zusammenhang in "its effect in enlarging and improving experience". Dewey verallgemeinert diese Aussage zur These, die Hauptaufgabe menschlichen Lebens sei jederzeit der Beitrag zum "enrichment of its own perceptible meaning".

Diese Ausführungen zeigen deutlich die Verschränkung von Situationsgehalt und Ziel, wobei sich das Ziel der Verbesserung der Qualität des Experience als einheitgebende Formel für beide Seiten dieser Polarität enthüllt, also für Zielhaftes und Unmittelbares. Von der konkreten Situation ausgehend, zeigte sich, daß Ziele zu ihrer Bewältigung benutzt werden. Allgemeine Zielsetzungen stehen wiederum im Dienst der der konkreten Situationen. Beide stehen demnach in engem Funktionsbezug zueinander.

 

Praktische Aussichten

Wesentlich für die schulische Praxis ist die ganzheitliche Einbindung des täglichen Lebens in die Schule und die Aufhebung des Dualismus von Schule und Realität, Bildung und Ausbildung. Nach Dewey müssen die Anteile des Lebens sich in der Schule reproduzieren und mit Neuem in Beziehung gebracht werden. Schule sollte demnach als größeres Ganzes des sozialen Lebens betrachtet werden.

Deweys Konzept einer Schule würde sich folgendermaßen darstellen:

  • Grundgeschoß: Dieses Grundgeschoß steht in ständiger Wechselwirkung mit dem Zuhause der Kinder. Das jeweilige Elternhaus beeinflußt die Kinder, die ihre Ideen und Vorstellungen in die Schule hineintragen; die Schule beeinflußt die Kinder mit neuen Zusammenhängen, die die sie dann wieder mit nach Hause bringen und so das alltägliche Leben wiederum beeinflußt: ein ständiger Kreislauf zwischen Schul- und Lebensalltag, der immer wieder neue Entwicklungen hervorruft. Hinzu kommt nun die natürliche Umgebung; gemeint ist die Geographie im weitesten Sinne. Schule sollte auch mit der Natur und all ihren Erscheinungen in Bezug stehen. Das Schulgebäude soll sich in einem großen Garten befinden, der wiederum Anstöße für die umgebende Landschaft geben kann; die umgebende Landschaft sollte dann wieder auf weiteres verweisen und ganzheitliche Zusammenhänge zwischen Leben und Erde herstellen. Weiter soll Schule in Wechselwirkung mit dem Berufsleben stehen und auch hier Zusammenhänge herstellen. Das heißt nicht, daß die Heranwachsenden bereits für einen spezifischen Beruf ausgebildet werden sollen, sondern vielmehr, daß eine natürliche Verbindung zwischen Lebensalltag und Berufsumgebung besteht. Kinder sollen hier viele umfassende Einblicke in die Berufswelt bekommen, ohne s