Visionen vom Lebenslangen Lernen, eine thematische Einführung

 

Klaus Künzel

 

Das neue Millenium ist da, aber es liegt vor uns wie etwas Altbekanntes. So wie die Symbolik der runden Zahl ihren Glanz verliert, will sich auch nach dem Überschreiten der kalendarischen Schwelle keine Aufbruchstimmung breit machen. Aber wohin sollte auch aufgebrochen werden? Oder liegt die Pointe dieses flüchtigen Datums gerade in der Erkenntnis, dass sich das Bewusstsein allfälligen Wandels mittlerweile selbst der Möglichkeit begeben hat, dem Aufbruch einen Namen zu geben, der Richtung ein Ziel zuzuordnen? Das wäre immerhin plausibel, denn nichts scheint gegenwärtig fester zu stehen als die populäre Einsicht, in beschleunigten Zeiten zu leben. Wenn selbst angesichts magischer Wendemarken so zügig zur Tagesordnung übergegangen wird, mag man mehrerlei mutmaßen: Entweder kann das aufgeklärte Bürgerbewußtsein einem zeit- und zahlensymbolisch vermittelten Innehalten bestenfalls eine private Seite abgewinnen, indem es aus dem spektakulären Anlass ggfs. eine Angelegenheit heiter-gelassener Lebensbetrachtung macht. In diesem Fall bliebe die Jahrtausendwende als heuristische Gelegenheit, Zukunft als ein öffentliches Projekt im großen Maßstab anzugehen, dem philosophischen Diskurs (1), den Gentechnikern (2), aber auch all denen überlassen, zu deren beruflicher Mission es gehört, Trends aufzuspüren und mit Hilfe publizistischer Projektionen einer möglichst universellen ökonomischen Verwertung zuzuführen. Posen des Vordenkertums und ein Hang zum Seherischen sind hier willkommene Attribute. (3) Eine andere Mutmaßung ist die, dass offenbar nichts dem Gespür und der Offenheit für Veränderungen mehr Schaden zufügt als die psychische und sprachliche Einverleibung und Routinisierung des Wandels in einer desillisionierten Moderne. Wenn aber das Neue profan zu werden droht und die darauf bezogenen Erwartungen regelmäßig in Gewissheit umschlagen, gerät die Vergegenwärtigung dessen, was "der Mensch (noch) vor sich hat" (4), rasch in den Bann umfassender Enttäuschungen, und zwar weniger aus Mangel an Objekten der Zuversicht sondern aufgrund eines Überflusses von Möglichkeiten, die man in Anbetracht ihrer autonomen Entwicklungslogik nicht anders als 'zwangsläufig' bezeichnen kann. Der zutiefst widersprüchlichen Koexistenz von technischen, sozialen und kulturellen Modi der Zukunftsbewältigung entspricht die biographisch nicht folgenlos bleibende Ambivalenz, die die entwickelten Länder sich und ihren Menschen durch die Installierung des Fortschritts als eines nicht hintergehbaren Programms ständigen Selbstübertreffens dauerhaft zumuten: Das Neue tritt auf und erfüllt seine ihm zugedachten Möglichkeiten nach Maßgabe einer Entwicklungsvorstellung, die vom Standpunkt des individuellen Interesses an einer nicht-determinierten, aushandelbaren Zukunft letztlich nur autoritär genannt werden kann. Das damit verknüpfte zivilisatorische Erfolgsversprechen wird erkauft durch den Verzicht, die 'Gegenstandskategorie Möglichkeit' als etwas aufzufassen, was sich nach Bloch "durch den fördernden Eingriff der Menschen in das noch Veränderbare" ergibt: als möglicher 'Heilsbegriff' bzw. als 'utopische Funktion', wie sie u.a. im deutschen Idealismus vom Subjekt her konstruiert wurde und in den Worten Blochs "die Freiheit eines widersprechenden Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene" bezeichnet.(5)

Also magere Zeiten für die Utopie , wie Willem van Reijen meint?(6) Tatsächlich scheint es so, als sei zumindest "für politische Visionen (..) die Lage ernst, ja dramatisch",(7) nachdem das utopische Projekt des Sozialismus offensichtlich an ihrer 'real existierenden Praxis' gescheitert ist, sich gleichzeitig aber aus der "zum Topos geronnenen Forderung des 'Abschieds von den Utopien'" bestenfalls ideologischer Profit schlagen läßt (ebda.). Wird man vielleicht die missliche Lage politischer Phantasiearbeit eher so deuten müssen, dass zwar das "Scheitern der etatistischen Utopie" (8) erwiesen ist, die Kategorie des Utopischen jedoch von einer pauschalen Diskreditierung verschont bleibt? In diesem Fall gälte es, die verbliebenen oder - optimistischer formuliert - sich neu ergebenden Bestimmungs- und Verortungsmöglichkeiten utopischen Denkens zu sichten, um diese nicht zuletzt in pädagogischer Absicht daraufhin zu untersuchen, wie unter Beachtung der "Eigenlogik von Bildung und Erziehung" ein legitimer und möglicher "Weg zur Konstruktion pädagogischer Visionen" gefunden werden kann.(9) Damit ist nicht nur der Kontext umrissen, in den der vorliegende 28. Band des 'Internationalen Jahrbuchs der Erwachsenenbildung' gestellt wird; hier ruht auch das heuristische Motiv, dem Stellenwert sowie den Ausformungen des utopischen Denkens im internationalen Theoriediskurs der Weiterbildung auf die Spur zu kommen.(10)

Das aktuelle 'Jahrbuch' steht unter dem thematischen Einfluß einer Frage, deren utopische Ergiebigkeit auf den ersten Blick nicht evident zu sein scheint: Welches Lernen braucht das Leben? Der Leser mag Skepsis hegen, ob sich mit ihrer Hilfe überhaupt visionäre Entwürfe für das 21. Jahrhundert bewerkstelligen lassen. Und es sei sogleich hinzu gefügt: Auch die Autoren dieser Veröffentlichung, so lassen einige Beiträge vermuten, mögen ähnliche Zweifel beschlichen haben. Insofern ist Agnieszka Brons Ausgangsfrage 'Visions on Adult Learning - do we need any? symptomatischer Natur und weder lesedidaktisch motiviert noch in kokettierender Absicht vorgetragen. Vielmehr steht sie stellvertretend für eine grundsätzliche Erörterung der Rolle des utopischen Bewußtseins im erziehungswissenschaftlichen Umgang mit einer als lebensintegriert und lebensdienlich gedachten gesellschaftlichen Praxis Erwachsenenbildung.(11) Dass die Verfasserin bei der Beantwortung ihrer Frage zwischen dem wissenschaftlichen Bemühen um das Lernen Erwachsener und dessen spraktischer Umsetzung unterscheidet und dabei im ersten Fall zu einer eher skeptischen, im letzteren aber zu einer positiven Einschätzung gelangt, mag als Hinweis auf die zumindest latent wirkende Sorge der pädagogischen Forschung dienen, wonach dem visionären Anliegen leicht ein normativer Geschmack beigemengt ist und sich damit in die Nähe des 'wishful thinking' rückt.

Welches Lernen braucht das Leben? So zu fragen, ist gemessen an den historischen Manifestationen des Utopischen in Gestalt idealer Staats- oder Sozialvorstellungen(12) ein bescheidener, aber keineswegs anspruchsloser Auftakt: bescheiden, weil diesbezügliche Visionen "flexible Träume" (Bloch-Lainé) und Verkörperungen dessen darstellen, was Iring Fetscher lern- bzw. "selbstkorrekturfähige Utopie(n)" genannt hat.(13) Ihr entspricht Bertrand de Jouvenels begriffliches Konstrukt der 'Futuribles' - mögliche alternative Zukünfte, zwischen denen "die Menschen (...) sachkundig und ihren wahren Bedürfnissen entsprechend demokratisch wählen" können.(14) Irrig wäre es, diesen moderaten Varianten utopischen Entwerfens programmatisches Profil und praktische Entschlusskraft abzusprechen, wenngleich ihre Offenheit für Grenz- und Differenzbewußtsein durchaus postmoderne Züge trägt. Ihr praktisch-reformerischer Anspruch ist allerdings eher einer 'geläuterten', selbstaufgeklärten Modernekonzeption geschuldet: Immer geht es um die Identifizierung eines "Gegenstands der Verantwortung" und um die sich daraus ableitende sorgende Frage: "Was wird ihm zustoßen, wenn ich mich seiner nicht annehme?"(15) Dass an dieser Stelle mit Hans Jonas gerade ein entschiedener Verfechter einer 'nichtutopischen Ethik der Verantwortung' zu Wort kommt, erweist sich als ebenso schlüssig wie pikant. Indem er nämlich - in recht polemischer Abgrenzung zu Bloch - die "zum Handeln auffordernde Furcht" als die eigentliche Triebkraft einer verantwortungsethischen Haltung betrachtet, der ein "bewahrendes, schützendes", schließlich aber doch auch ein "verbesserndes Amt" aufgetragen ist,(16) bereitet er den Boden für eine Praxis antizipatorischen Denkens, das sich dem "Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit" verpflichtet fühlt, ohne die für die Zeitgenossen der Gegenwart "degradierenden" Folgen deterministisch angelegter Geschichts- und Utopiemodelle in Kauf nehmen zu müssen.(17) Die hier angedeutete teleologische Verquickung von scheinbar Unvereinbarem, d.h. Kritik (von Utopien und Fortschrittsgläubigkeit) und visionärem Mut ist vielleicht am nachdrücklichsten im 1979 erschienenen Bericht des Club of Rome 'Zukunftschance Lernen' dokumentiert. "Visionäre und kreative Fähigkeiten" werden darin neben der Verfügung über "moralische Kraft" zur Vorbedingung für das Gelingen eines globalen Lernprojekts erklärt: der Überwindung des menschlichen Dilemmas. So bezeichnet der Club of Rome "die Diskrepanz zwischen der zunehmenden Komplexität aller Verhältnisse und unserer Fähigkeit, ihr wirksam zu begegnen". Benötigt werde ein innovatives Lernen, das sich durch zumindest zwei Merkmale von tradiertem Lernen ('Lernen nach Schock') unterscheide, dem Moment der Antizipation sowie dem der Partizipation.(18)

Der Club of Rome markiert innerhalb der internationalen Diskussion um die Zukunft von Bildung und Erziehung, wie sie nach der wegweisenden Analyse von Coombs 1968 (19) besonders durch den Faure-Report(20) geführt wurde, die pointierte Wende vom 'Leben lernen' zum 'Überleben lernen'. Dem vergleichsweise 'fundamentalistischen' Plädoyer für innovatives Lernen entgehen nicht die ethischen und konzeptionellen Antagonismen, die sich dessen universeller Durchsetzung in den Weg stellen, etwa im Aufeinandertreffen der Lernziele 'Globale Verantwortung' und 'Kulturelle Identität'.(21) Nachweislich hat die Orientierung der 'Zukunftschance Lernen' an der Leitidee weltbürgerlicher Verantwortung und Solidarität auch die darauf folgenden Bildungsberichte der UNESCO gekennzeichnet. Besonders für den sogenannten 'Delor Report' (Lernfähigkeit: Unser verborgener Reichtum) erweist sich Bildung als das zentrale Medium, Leben und Zusammenarbeit im 'globalen Dorf' zu ermöglichen. Indem der Bericht von 1997 Bildung zu einer "notwendigen Utopie" erklärt, führt er darüber hinaus die visionäre Linie des Faure Report, der OECD und des Club of Rome fort, hebt aber noch expliziter und eindringlicher auf die individuellen Bezüge des universellen Humanitätsgedanken ab, der einer supranationalen Patenschaft für die Belange der Bildung zugrunde liegt: "Er basiert auf der Hoffnung auf eine Welt, in der es sich besser leben läßt. Eine Welt, in der die Menschheit gelernt hat, die Rechte von Frau und Mann zu respektieren, gegenseitig Verständnis aufzubringen und jeden Fortschritt im Wissen zu nutzen, um die Entwicklung der gesamten Menschheit zu fördern - und nicht dazu, weitere Trennmauern zwischen Menschen zu errichten."(22)

Welches Lernen braucht das Leben? Die bisherige Betrachtung legt nahe, dass die Antwort letztlich vom Standort und der Perspektive dessen abhängt, dem sich die Frage stellt. Internationale Kultur- und Bildungsgremien sind schon aus diplomatischen und organisationspsychologischen Gründen darauf verwiesen, konsensfähige Befunde so zu konfigurieren, dass sie sich raumgreifend und temporal über innerweltliche Leitdifferenzen in Politik, Wirtschaft und Kultur hinwegsetzen: Globaler Appell und visionärer Zuschnitt setzen der Antwort auf die obige Frage einen heuristischen Rahmen, der auf regionale und individuelle Ausgestaltung drängt. Nicht weniger, aber auch nicht mehr darf von ihnen erwartet werden. Wenn ich richtig sehe, dienen die mittlerweile zu pädagogischen Weltformeln avancierten Begriffe des 'Lifelong Learning' bzw. der 'Learning Society' dem Ziel, die nationalen Politiken und Strategien (23) der Bildung über das gesamte Spektrum ihrer organisatorischen Realisierung hinweg strukturell zu 'zivilisieren', und das heißt: globalisierungstauglich zu machen. Dem widerspricht keineswegs, dass die bildungspolitischen Standortbestimmungen und visionären Projektionen, die einzelstaatlich, von der Europäischen Union oder anderen internationalen Zusammenschlüssen vorgenommen werden, dem Stichwort 'Leben' auch eine subjektive Note beizumengen bereit sind.(24) Trotz aller volkswirtschaftlich und einzelbetrieblich gerechtfertigten Nutzung der 'Humanressourcen' findet der Mensch Eingang in das visionäre Arrangement, in dessen Mittelpunkt die verlockende Daseinsaufgabe Lernen steht: "Learning offers excitement and the opportunity for discovery. It stimulates enquiring minds and nourishes our souls. It takes us in directions we never expected; sometimes changing our lives.. (It) contributes to social cohesion and fosters a sense of belonging, responsibility and identity."(25) Das Zitat entstammt dem 'Green Paper' der britischen Regierung von 1998, das den Titel trägt: 'The Learning Age: A Renaissance for a New Britain'. Bemerkenswert an diesem Strategiedokument ist nicht vorrangig die suggestive Note, mit der der steigenden Bedeutung lebenslangen Lernens Nachdruck verliehen wird - darüber ließe sich angesichts der langen programmatischen Karriere des Begriffs leicht hinweg lesen. Vielsagender scheint mir da schon die soziologische und mentale Einbettung der angestrebten britischen 'Wiedergeburt' in die Politikvision eines 'Dritten Wegs', von der sich die Labour Party in Anlehnung an Anthony Giddens(26) eine Erneuerung nicht nur der Sozialdemokratie erhofft, sondern der Ziele und Verfahren gesellschaftlicher Selbstorganisation überhaupt. 'Learning' ist darin das instrumentelle Bindeglied zwischen politischer Reform und bürgerlicher Einstellungsänderung. Leben im Zeichen des Lernens vollzieht sich vor der Kulisse fortschreitender Individualisierung und eines entschlossenen Rückbaus des Wohlfahrtsstaates. Griffin hat überzeugend dargestellt, dass mit dem Prozess sozialstaatlichen Disengagements die Ablösung von Bildungspolitik durch gesellschaftliche Strategieverbünde, die Substitution der regulativen Figur 'education' durch das libertäre Konstrukt 'learning' einhergehen.(27) Wer in dieser semantischen Verschiebung allerdings Anzeichen eines naiven Privatisierungsschubs im Weiterbildungsbereich sehen möchte, muß zur Kenntnis nehmen, dass sich mit dem Verhaltensmodell des Lifelong Learning die staatlichen Interventionsinteressen mitnichten verringert, sondern nur verlagert haben. Stand eine aufgeklärt-moderne Bildungsvision bislang unter dem Eindruck eines internationalen bildungspolitischen Wertkonsenses ('ganzheitliches' Menschenbild, kultureller Pluralismus, globale Verantwortung, konzertiertes Handeln), so setzt mit der britischen Beschwörung des 'Lernzeitalters' eine Wende zur nationalstaatlichen Wertschöpfungspolitik ein, die sich in der Verantwortung für die eigenen Humanressourcen sieht und den lernenden Bürger in diese politisch-ethische Partnerschaft einbinden will. "Thus, the notion of lifelong education which largely lacked influence in government, has been displaced by more powerful discourses of a lifelong learning market in which individuals are constructed as having to take responsibility for their own learning".(28)

An dieser Einschätzung von Richard Edwards ist für den thematischen Ansatz des vorliegenden Jahrbuchs zweierlei beachtenswert. Zunächst wird man festhalten können, dass die inhaltliche Füllung des lebenslangen Lernens in wachsendem Umfang der Interaktion von Wirtschaftsbeteiligten vorbehalten bleibt: Der individuelle Lerner agiert auf dem Weiterbildungsmarkt als Kunde und generiert mit seinen Wahlmöglichkeiten 'consumer power', bsw. indem er mithilfe von frei einsetzbaren Bildungsgutscheinen (vouchers) Druck auf die Programmgestaltung von Anbietern ausübt. (29) Indes: Was sich im Zusammenspiel von Eigenverantwortung und Marktmacht als inhaltlicher Autonomiezuwachs des Lernindividuums erweisen könnte, wird zum einen konterkariert durch den steigenden Rationalitätszwang, dem Institutionen und Nachfrager in Gestalt von arbeitsmarktpolitischen Erfolgserwartungen und Bürokratisierungsprozessen (Akkreditierung und Standardisierung von 'learning credits', Effizienzkontrollen, Auditing etc.) gleichermaßen unterworfen sind.(30) Zum andern wird die Gefahr immer offensichtlicher, dass das System individualisierter Marktbeziehungen Ungleichheit produziert und soziales Kapital abbaut: "These trends", vermerkt Edwards," result both from and in a fragmentation of social relations in which 'society' is reconfigured as the contractual and consumer relations of individuals".(31)

Mittelbar regt Edwards' Kommentar noch zu einer weiteren Überlegung an. Gemeint sind damit die Motive und Gestaltungsformen utopischen Denkens in Zeiten der Globalisierung und 'durchindividualisierter' Gesellschaftsbeziehungen. Wenn es zutrifft, dass der selbstverantwortliche Lerner seine Zukunft als einzelner Konsument, Kunde und 'freischaffender' Mediennutzer gestalten muß, ohne Koalitionszwang, aber auch außerhalb vertrauter Solidargemeinschaften - welche visionären Anhaltspunkte und Energien stehen ihm dann für diese prospektive lebenspraktische Aufgabe zur Verfügung? Was bleibt übrig von den historisch in Erscheinung getretenen Raum-, Zeit- und Ordnungsszenarien und wie lässt sich die kulturelle Praxis des Utopischen so weiter entwickeln, dass sie biographische Geltung erlangt, ohne ihre Herkunft als literarisches Genre, (32) politischer Kampfbegriff oder wissenschaftliche Kategorie(33) verleugnen zu müssen?

Die bislang gezeichneten Umrisse erlauben es, eine grobe Verortung des utopischen Bemühens im lebensweltlichen Zusammenhang des lernenden Individuums vorzunehmen. In dieser Formulierung schwingt bereits mit, was inhaltlich auf eine pragmatische Reformulierung des Utopischen hinausläuft: Visionen des Lernens und der Weiterbildung ließen sich in diesem Zusammenhang als provisorische Konstrukte 'eigenmächtiger' Lebensführung auffassen. Ihre Legitimation beziehen sie nicht (mehr) aus der aufklärerischen Idee einer 'ex-officio'- Koalition von politischer, sozialer und pädagogischer Fortschrittshoffnung, wie sie etwa im Blick auf die Arbeiterbildung 1884 von William Morris im Rahmen seiner Vision von "einer Fabrik, wie sie sein könnte" eindringlich beschworen wurde. (34) Ihrer teleologischen Struktur nach entsprechen derartige Konstrukte vielmehr einer "handlungstheoretischen und individualitätsbezogenen" Konzeption des Utopischen, wie sie von Brumlik im Anschluß an Hannah Arendt angedeutet worden ist. Der im 'Natalitätsprinzip' begündete Auftritt des Neuen betrifft im wesentlichen den Anspruch der Heranwachsenden darauf, "den Neubeginn, der sie sind, vor den Zumutungen und Ansprüchen des schon Bestehenden zu schützen". (35) Obwohl sich dieser Position zufolge der Erwachsene im intergenerationellen Konflikt zwangsläufig als Verteidiger des Status quo gegen die Interessen des Neuen zur Wehr setzten müßte, sprechen die heutigen Lebensumstände und das skeptische Zeitempfinden der 'posthistoire' für einen grundsätzlichen Zweifel , ob unter der vollendeten Herrschaft der Markwirtschaft und der regelmäßigen Wiederkehr des Gleichen "Neues (überhaupt noch, K.K.) zu erwarten sei".(36) Von diesem Vorbehalt wäre dann menschliche Individualität insgesamt betroffen; das sich utopisch verstehende pädagogische Denken ließe sich nicht mehr als parteiisches zugunsten des jugendlichen Menschen konzipieren, sondern müßte in den Dienst der Herstellung des Neuen überhaupt gestellt werden. (37) Mittels dieser unspezifischen Ausweitung kann die Programmatik des lebenslangen Lernens auch so rezipiert werden: als individuelle Aufforderung, die Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensplanung und -ausfüllung 'visionär' zu erweitern, sei es durch eine "Variation der Zeithorizonte", durch die laut Luhmann reguliert werden kann, "was als Widerspruch (im System der eigenen Handlungsorientierungen, K.K) auftaucht und was verschwindet",(38) sei es als produktive lebensgestalterische Antwort auf das anthropologische Dilemma der Begrenztheit der Zeit im "Verhältnis zu dem, was die Welt bietet" (de Haan). Da "die Lebenszeit nicht aufkommen (kann) gegen das, was in ihr getan werden soll, kann oder könnte", (39) muß die Bemächtigung des Neuen und Möglichen wenigstens so weit getrieben werden, dass die Spielräume für gelingendes Leben konsequent ausgeschöpft werden. Die Individualisierung des utopischen Bewußtseins im Dienst einer 'lernenden' biographischen Selbsterzeugung wäre damit vollzogen.

Welches Lernen also braucht das Leben? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir es bei dieser Frage mit einem Relikt modernen Denkens zu tun haben, dem auf vielfältige Weise das Vertrauen entzogen worden ist. Mit ihrer radikalen Kritik an den Wahrheits- und Rationalitätsmodellen der Neuzeit entmythologisiert die Postmoderne die Geltungsansprüche universeller Welterklärungen und fordert zugleich zu einer Neubestimmung dessen heraus, was erkenntnistheoretisch und moralisch kommuniziert werden muss, um ein Leben 'im Dissens' zu ermöglichen.(40) Allerdings ist die Koexistenz pluraler Konzepte des Wirklichen nicht ihr eigenes letztes Ziel sondern nur die Voraussetzung dafür, die elementaren Unterschiede in den kulturellen und politischen Praxen des gesellschaftlichen Lebens "auf eine Minimierung der Ungerechtigkeit" hin zu bearbeiten. (41) Vor dem Hintergrund des postmodernen Diskurses stieße unsere Ausgangsfrage ins Leere, wenn damit einheitsstiftende Ambitionen - also die Antwort in der thematischen Erschließung eines Katalogs allgemeiner Lernbedürfnisse gesucht würde - oder die Anerkenntnis eines verbindlichen visionären Paradigmas einhergingen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit der Modernekritik sind zwar auch die Motive und Maßstäbe des utopischen Bewußtseins auf den 'Boden der Tatsachen' zurückgeholt worden, doch wo sich so wenig Einvernehmen über die Gestalt und Bedeutung des Tatsächlichen herstellen lässt, wird man dem visionären Bestreben freien Lauf lassen dürfen. Ein Missverständnis sollte allerdings vermieden werden, vor allem dort, wo es um eine Rehabilitierung des utopischen pädagogischen Denkens geht: Das Insistieren auf dem Eigenrecht des Möglichen und des neu zu Beginnenden ist unabdingbar für die Entwicklung humaner Modalitäten von Bildung und lebenslangem Lernen; nicht minder grundlegend ist indes seine Bedeutung für die Zukunft pädagogischer Professionalität. Auch auf die Gefahr hin, den Kantschen Begriff vom menschlichen Vorhersehungsvermögen (praevisio) in unzeitgemäßer Manier zu anthropologisieren - Theorie und Praxis pädagogischer Arbeit sind an dessen Existenz gebunden: "Dieses Vermögen zu besitzen interessiert mehr als jedes andere; weil es die Bedingung aller möglichen Praxis und der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner Kräfte bezieht. Alles Begehren enthält (ein zweifelhaftes oder gewisses) Voraussehen dessen, was durch diese möglich ist. Das Zurücksehen aufs Vergangene (Erinnern) geschieht nur in der Absicht, um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen.."(42)

Visionen mögen ihrer Funktion nach solchem Vermögen geschuldet sein; ohne eine Vorstellung dessen jedoch, wodurch sich Bilder des Zukünftigen gegenüber der Gegenwart positiv auszeichnen und dadurch legitimieren können, dürfte sich utopisches Denken im Heuristischen, Formalen erschöpfen. Wie sich anhand der Herkunft und Praxis der 'Zukunftswerkstätten' beispielhaft zeigen läßt, bilden in jeder explizit zukunftsgerichteten pädagogischen Praxis die Elemente Kritik, demokratische Ethik und Phantasie einen (methodisch und sachlich begründbaren) Bedingungszusammenhang, der nicht aufgelöst werden darf.(43) Lernen an den historischen Verfehlungen, das Humane zu bewahren und zu fördern, gehört zu den Voraussetzungen des utopischen Bemühens ebenso wie ein kritisch artikuliertes Unbehagen an der Gegenwart. Die verfügbaren Erfahrungen mit diesem Bemühen deuten darauf hin, dass gerade die in besonderer Weise an das Projekt der Moderne gebundene pädagogische Praxis - inklusive der zivilisatorischen Erschließung des lebenslangen Lernens - ihre Visionen häufig nicht an neu entworfene Wunschzustände anschließt, sondern sich um eine Einlösung lang gehegter Hoffnungen bemüht, ja auch die Wiederherstellung dessen erwägt, was überwunden oder verloren scheint. In des Wortes positiver Bedeutung möchte ich dies als die 'restaurative' Funktion des Utopischen bezeichnen. Danach kann eine Vision lediglich nur das verheißen, was immer schon gewollt wurde oder gewollt werden konnte. Um diese Aufgabe zu erfüllen, scheint mir das Zusammenwirken reflexiver (nachdenkender) und visionärer (vordenkender) Potentiale unverzichtbar: Reflexion und Vision vollziehen sich demnach als symbiotische Aktionen wiedergutmachenden Denkens.

Wie haben sich die Autoren des Jahrbuchs ihrer 'visionären' Aufgabe entledigt, welche Zukunftsvorstellungen und anzustrebenden Ziele des Lernens werden dabei freigelegt? Es wird den Leser nicht verwundern, wenn die zu Wort kommenden wissenschaftlicher Vertreter der Erwachsenenbildung die Gelegenheit einer Standort- und Richtungsbestimmung des Lebenslangen Lernens zu einer persönlichen Einlassung genutzt haben. Mit 'Visionen' läßt man sich auf die Benennung dessen ein, was man selbst sieht - und (wieder-)sehen möchte. Ob sich solche Ansichten umstandslos in bestehende Theoriediskurse integrieren lassen, ist dabei eher unerheblich. Maßgeblich erscheint mir vielmehr die erkennbare Absicht der Verfasser zu sein, ihre Diagnosen des gesellschaftlichen und pädagogischen Zeitgeschehens am Interesse einer humanen Praxis des 'gelebten Lernens' auszurichten. Die Verbindung von Analyse und Plädoyer mag unterschiedliche Formen und inhaltliche Profile ausbilden, die Fokussierung des subjektiven Engagements orientiert sich jedoch durchgängig an einem Grundzug des utopischen Bemühens - Notwendiges zu denken und sich für dessen Herstellung einzusetzen. Auch wenn sich die nachstehenden Beiträge in dieser Hinsicht schwerlich direkt aufeinander beziehen lassen, so deuten sie doch Anhaltspunkte für argumentative Anschlüsse an, die Auskunft darüber geben, was im internationalen Gespräch der Erwachsenenbildung zum bewahrenswerten Bestand unserer Disziplin zählt. Nach meiner Einschätzung lassen sich folgende Akzentuierungen nachweisen:

Thematisierung der Motive und Erträge 'visionärer' Zugänge zum Lebenslangen Lernen: Hierunter fallen trotz ihres unterschiedlichen inhaltlichen Zuschnitts die Beiträge von Wilhelm Mader, Joachim H. Knoll und Agnieszka Bron. Ihre explizite Berücksichtigung der Möglichkeiten und bisherigen Konkretisierungen des Utopischen bietet für das vorliegende Jahrbuch eine willkommene Ergänzung zu den einleitenden Hinweisen des Herausgebers. Wilhelm Maders Anliegen macht letztlich an der Idee gelingenden Lebens und Lernens in einer 'multioptionalen Moderne' fest. Dabei kann er sich auf die Aktualität der stoischen Tugenden Gelassenheit und Distanz berufen, deren Beherzigung nicht nur der Qualität und Richtung des viel zitierten 'selbstgesteuerten Lernens', sondern auch deren Unterstützung durch Lehrkunst und autonome Bildungseinrichtungen zuträglich ist. Gegenstand des Beitrags von J.H.Knoll ist die Erörterung der Rolle einschlägiger internationaler Organisationen in der inhaltlichen und politischen Zukunftsausrichtung der Erwachsenenbildung bzw. des Lebenslangen Lernens. Seinem Hinweis, die visionäre Dimension tradierter Erwachsenenbildung sei stets eine geisteswissenschaftlich okkupierte gewesen und müsse entschieden stärker auf die Entwicklungen in naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern ausgerichtet werden, ist besonderes Augenmerk zu schenken. Ob wir Utopien brauchen und wo sie sich ggfs. rechtfertigen lassen, ist das Thema von Agnieszka Bron. In ihrer Analyse der Bedingungen und Perspektiven moderner Gesellschaften geht es vor allem um die zentralen Faktoren, die das Lernen Erwachsener zusehends stärker beeinflussen und die angedeuteten Visionen nicht immer als optimistische erscheinen lassen. Eine mit Zuversicht und persönlicher Erfahrung gefüllte praktische Vision wird in Gestalt der schwedischen 'study circles' vorgestellt.

Visionen des Lernens im Einflussbereich sozialwissenschaftlicher Moderne-Diskurse: Ihrer Herkunft und Ausrichtung nach lassen sich die Beiträge der Autoren Colin Griffin, Stephen Brookfield und Peter Alheit nicht ohne weiteres unter dieser Kennzeichnung zusammen fassen. Für ein solches Vorgehen spricht allerdings, dass sie auf unterschiedliche Weise die politischen und sozialen Folgen des ökonomistischen Regimes und der durchgreifenden Individualisierung analysieren und zu - mehr oder minder konkret ausgeformten - Gegenpositionen bzw. Korrekturvorstellungen gelangen. Colin Griffin sieht in der diagnostizierten Abkehr von einer wohlfahrtsstaatlich motivierten Bildungspolitik und in den stattdessen favorisierten Strategien eines 'cultural engineering' das fortschrittliche Erbe des Erwachsenenbildungsgedankens aufgekündigt. Mittelbar knüpft auch das, was Stephen Brookfield zur Bedeutung einer ideologiekritischen Fundierung der Erwachsenenbildung vorträgt, an die Auseinandersetzung der Moderne mit sich selbst an. Eine kritische Theorie des Erwachsenenlernens hat daher, von den Arbeiten Adornos und Horkheimers profitierend, die konsequente Einlösung des menschlichen (Selbst-)Aufklärungspostulates zum Ziel, was auch beinhaltet, dass sich die Lanze der kritischen Prüfung nicht zuletzt gegen die unreflektierten oder hingenommenen Täuschungen richtet, die sich im Lernen selbst finden lassen. Peter Alheit spricht mit seinem Hinweis auf die 'wider benefits of learning' die wachsende Bedeutung eines Brückenschlags zwischen den sozialen und wirtschaftlichen Subsystemen bzw. 'Kapitalformen' innerhalb modernisierter Gesellschaften an. Seine Überlegungen laufen insoweit auf keine inhaltlich konkretisierbare 'Vision' der 'wider benefits of learning' hinaus, als er eine solche nur für ratifizierbar hält in konkreten sozialen Erfahrungsfeldern durch die jeweiligen Akteure selbst. Gleichwohl markiert Alheit mit seinem Hinweis auf die Notwendigkeit stabilitätsorientierter, auf soziale Bindungskraft abzielender Lernformen die konzeptionelle Leerstelle, die ein moderner bildungspolitischer Diskurs zu füllen hat.

Visionen von Erwachsenenbildung und Lebenslangem Lernen in bildungs- und professionstheoretischer Absicht: Die Fülle und Vielfalt der Aspekte, die sich unter dieser Rubrik versammeln, sind Ergebnis der fünf Beiträge, die markante Entwicklungen im professionellen und institutionellen Auftritt der Erwachsenenbildung behandeln. Zu ihnen zählt das Plädoyer von Richard Bagnall zugunsten einer eigenständigen und durch keine andere pädagogische Einrichtung zu ersetzende 'Mission'der Erwachsenenbildung. Allein sie könne den kontingenten und situativen Bedürfnissen lernender Erwachsener gerecht werden und durch eben diese Fähigkeit spontaner Aufgabenerfüllung eine eigenständige kulturschaffende Rolle wahrnehmen. Mal Leicester verbindet in ihrem programmatischen Eintreten für eine entwickelte, multikulturell geprägte Erwachsenenbildung eine Reihe normativer Prämissen wie 'inclusion', 'access' und 'diversity of forms of knowing' mit Erörterungen zugunsten eines konstruktivistisch geprägten Bildungsbegiffs, in dem lebenslanges Lernen als Integrationsmedium beruflicher, allgemeiner und politischer Bildungsinteressen fungiert. Institutionell relevant ist der vorgestellte Ansatz insofern, als die Universität aufgrund ihrer Rolle als Produktions- und Umschlagplatz für plurale Wissensformen von der Autorin für besonders geeignet gehalten wird, ein Ort für offenes und multikulturelles Lernen zu sein. Dass Kritik ein notwendiges Element utopischen Engagements darstellt, führt Erhard Meueler am Beispiel des Computers vor. Fernab davon, die instrumentelle Nutzung der neuen Kommunikationstechnologien pauschal in Zweifel zu ziehen, entgeht ihm nicht die ideologische Überzeichnung ihrer beanspruchten Bildungswirkung. Mit seinem engagierten Verweis auf die nicht hintergehbare Subjektbezogenheit und den Begegnungscharakter bildenden Lernens rückt er manchen visionären Überschwang zurecht, der die pädagogische Entdeckung der virtuellen Medien begleitet. Auch in den Beitrag von Lore Arthur spielt das computergestützte Lernen hinein; der hier entwickelte Bezug verdankt sich allerdings der wachsenden Bedeutung dieses Mediums beim Aufbau grenzübergreifender kommunikativer Netzwerke, z.B. in der Abwicklung europäischer Erwachsenenbildungsprojekte. Zwei Aspekte sind der Verfasserin in diesem Kontext besonders wichtig: die Funktion der Sprache als Bindeglied zwischen Bildungstechnologie und Interkulturalität sowie die zukünftig an Bedeutung zunehmende Aufgabe des erwachsenenpädagogischen Personals, Sprachenbewußtsein als Medium interkulturellen Arbeitens zu fördern. Mit einem beherzten polemischen Angriff auf eine in sich widersprüchliche pädagogische Grundhaltung endet die Reihe der bildungs- und professionstheoretischen Darstellungen. Ian Baptiste greift in seiner Kritik des Freireschen Verständnis von Bildungsarbeit als 'political, but non-imposing' den nach seiner Auffassung irreführenden, ja gefährlichen Mythos auf, pädagogisches Handeln müsse auf 'niceness' beruhen, um human zu sein. Das Gegenteil müsse stattdessen gelten: Um sozialer Ungleichheit und feindlich gesinntem menschlichen Verhalten Einhalt bieten zu können, hätten Pädagogen vor allem eine "obligation to impose" und müssten anerkennen, dass für den Abbau repressiver gesellschaftlicher Zustände nur ein parteilicher professioneller Habitus in Frage kommt.

Visionen des Lernens in nationalen und regionalkulturellen Zusammenhängen: Während die bisher genannten Darstellungen Kritik und Zukunftsbilder von Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen präsentierten, die trotz individueller Problemausrichtung großenteils industriestaatliche Entwicklungserfahrungen und Diskursmodelle westlicher Provenienz widerspiegeln, kennzeichnet die Arbeiten von Takamichi Uesugi und Stephanie Schell-Faucon eine visionäre Dimension, wie sie - zumindest im Fall der südafrikanischen Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit - unterschiedlicher kaum sein könnte. Stephanie Schell-Faucon skizziert in ihrem Forschungsbericht die Konturen eines gesellschaftlichen Lernprojekts, das im Angesicht tiefer innerethnischer Konflikte und Vertrauensverluste die politisch-soziale Utopiearbeit auch zu Entlastungs-, ja Verdrängungszwecken einsetzt: Die Vision eines befriedeten Landes moderiert und lindert die Traumata einer schmerzvoll erlebten Geschichte. Gemessen an der tief in das politisch-kulturelle Gemüt der südafrikanischen Gesellschaft einschneidenden Konfliktarbeit nimmt sich die Entwicklung der japanischen Erwachsenenbildung, der sich der Beitrag von Takamichi Uesugi widmet, vergleichsweise unspektakulär aus. Indes sollte die politische Brisanz seiner Vision nicht übersehen werden: Sein Bild von einer kommunalen Weiterbildungslandschaft, die freie, selbstverwaltete Lernzusammenhänge ermöglichen soll, ist als ein entschiedener Angriff auf international beobachtbare Verschulungstendenzen zu werten, die auch ein Unbehagen des Verfassers an der z.T. übersteigerten japanischen Leistungs- und Berechtigungsorientierung nahelegen. Mit dem vorliegenden Jahrbuch verbindet sich die Hoffnung, dem Leser einen Einblick in Perspektiven des Lebenslangen Lernens vermittelt zu haben, deren unterschiedlich ausgebildete visionäre Note dem Interesse an einer subjektiv akzentuierten Darstellungsweise entspricht. Die in Zukunftserwartungen und -entwürfen ebenfalls manifest werden allgemeinen Entwicklungsbelange der Profession und Disziplin Erwachsenenbildung konnten demgemäß nur ausschnitthaft und nicht frei von standortbedingten Verzerrungen wiedergegeben werden. Für die Mitwirkung an dieser Publikation möchte ich mich bei den Autoren und Autorinnen sowie bei Dagmar Schommer für die redaktionelle Betreuung des Jahrbuchs herzlich bedanken.

 

Summary

In times when 'future', 'change' and 'innovation' have no more than commonplace value, any attempt to confront educationists with the utopian roots and properties of their profession might be dismissed as a rather fruitless exercise. Yet this 'visionary' assignment is precisely what the new edition of the 'Yearbook' is all about. In his introduction the author considers the question as to whether the 'modern' concept of educational utopianism has any chance of withstanding not only the critical attacks of post-modernism but also the social and political consequences of individualisation and globalisation. By focussing on the heuristic implications of its central question "What kind of learning does it take to make a life?", the article tries to uncover contemporary motives of, and approaches to, visionary blueprints of lifelong learning. Within this context, some recent manifestations of utopian endeavour (Faure Report, Club of Rome, Delors Report) are referred to before attention is drawn to changes in the political framework of lifelong learning and their bearings on the biographic design of lifespan learning strategies. Although various forms of deregulation have turned continuing education into a system governed by market forces and the political exploitation of human resource development, the individual's gain in autonomy and bargaining power is more than matched by the bewildering array of learning options and the plurality of orientational offerings. How then can the individual learner acquire visionary skills to fill his or her biographic agenda with both meaningful and socially responsible objects and formats of learning? This question is discussed with reference to Kant's anthropological construct of 'praevisio' - the human faculty of foresightedness - and to the fact that, by and large, educational visions are owed to 'modern', enlightened concepts of social progress. By suggesting that utopian approaches towards learning are therefore often composed of critical, ethical and creative properties, the normative charges of such visions may often turn them, positively speaking, into 'restorative' media in as far as their claim to an improved future rests on the assumption that the unfinished or indeed forgotten project of modernity must be reinstalled and its human objectives duly met. The article concludes by shortly introducing the authors' contributions to the 'Yearbook' and by sketching the visionary spectrum in which the various 'utopias' can be positioned.

 

Literatur

Assheuer, T. (2001): Der künstliche Mensch. In: Die Zeit, Nr.12, 15.3. 2001, S. 49 - 5

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rof. Dr. Klaus Künzel, geboren 1945, war nach seinem Studium der Germanistik, Pädagogik und Philosophie an den Universitäten Liverpool, Bochum und Dortmund tätig. Seit 1991 ist er Professor für Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Universität zu Köln.

 

Fußnoten

1. vgl. Sloterdijk (1990)

2. Nach den Beobachtungen von G. Assheuer geben deren Errungenschaften der Zunft "neuer Utopiker" den Glauben an ein "Zeitalter der Hypermoderne, in der die Natur restlos überwunden ist und der Mensch sich künstlich selbst erschafft"; 'Die Zeit', Nr.12, 15.3. 2001, S.49

3. Das läßt sich bis in die professionelle Selbstbeschreibung der'Trendexperten' hinein verfolgen. Auf einem im März 2001 von der 'Wirtschaftwoche' veranstalteten Technologieforum ließ sich ein führender Softwareentwickler von seinem 'Chief Visioneer' vertreten. Als Titel der Podiumsdiskussion war den Initiatoren folgendes Thema eingefallen: True Economy -Deutschlands Chancen im globalen Web-Bewerb. Damit wäre zugleich ein Hinweis dafür geliefert, dass sich Phantasievermögen, welches manche Öffentlichkeitsarbeiter der Zukunft gern für sich in Anspruch nehmen, zunächst und vor allem in der Kategorie der sprachlichen Zumutung zur Geltung bringt.

4. Sloterdijk (1990), S.706

5. Bloch (1982),I, S.268 u. 168

6. van Reijen (1999), S.112

7. Tenorth (1992), S.525

8. Saage (1991), S.343, zit. bei Tenorth (1992), S.526

9. Tenorth (1992), S.527

10. Ich verzichte darauf, die begrifflichen Erscheinungsformen und historischen Kontexte des utopischen Denkens eingehender darzustellen, wie ich auch davon absehe, das näher auszudifferenzieren, was mit 'Visionen' in pädagogischer im Unterschied zur theologischen oder psychologischenVerwendung bezeichnet werden kann. Vgl.auch Voßkamp (1985)

11. vgl. den Beitrag Bron in diesem Band, S.49

12. vgl. dazu die Übersicht bei Heubrock(1990), S.678ff.

13. Fetscher (1993), S.76

14. vgl. de Jouvenel (1970). Den Hinweis verdanke ich Fetscher (1993), S.76

15. Jonas (1984), S.391

16. Jonas (1984), S.389

17. Jonas (1984), S. 393. Auf dessen vergröbernde Rezeption von Blochs 'Das Prinzip Hoffnung' kann hier nicht näher eingegangen werden. Auch wenn Bloch zu einer Ontologisierung des "weiten Reichs des Möglichen" und der Triebkraft Hoffnung neigt, kann der pauschale Vorwurf einer deterministischen Begrenzung des Utopischen nicht aufrecht erhalten werden. "Denn was möglich ist", schreibt dieser, "kann ebenso zum Nichts werden wie zum Sein: das Mögliche ist als das nicht voll Bedingte das nicht Ausgemachte." (Bloch 1982, S.285)

18. Peccei (1979), S.11; S.25; S.33; S.35

19. vgl. Coombs (1968); die deutsche Ausgabe erschien 1969 unter dem Titel 'Die Weltbildungskrise'

20. vgl. Faure et.al. (1972)

21. Peccei (1979), S.165ff.

22. Delors (1997), S.11f. Die englische Fassung ist 1996 erschienen unter dem Titel 'Learning: The Treasure Within'. Eine neuere Würdigung der einschlägigen Berichte von UNESCO und OECD liefert Gerlach (2000). Vgl. auch den Beitrag von Knoll im vorliegenden Band, S.23ff.

23. vgl. Griffin (1999)

24. vgl. Commission of the European Communities (1995); OECD (1996); G8 (1999); UNESCO (1997)

25. Department for Education and Employment(1998), S.10f., zit. nach Field u. Leicester (2000), S.XVIII

26. Giddens (1998)

27. siehe dazu Griffin (1999) sowie seinen Beitrag in diesem Jahrbuch

28. Edwards (2000), S.8

29. vgl. Hatton (1997)

30. Griffin in diesem Band, S.76

31. Edwards (2000), S.9

32. vgl. Thomsen u.Fischer (1980)

33. Heubrock (1990), S.678

34. In der Fabrik sah Morris"a primary educational centre of socialist society" (Simon 1965, S.57) Sie würde Arbeit bieten "light in duration and not oppressive in kind, education in childhood and youth. Serious occupation, amusing relaxation, and more rest for the leisure of the workers..", zit. in Simon (1965), S.58

35. Brumlik (1992), S.542f.

36. van Reijen (1999), S.112

37. vgl. Brumlik (1992), S.531

38. Luhmann (1988), S. 515. Er spricht in diesem Zusammenhang von zwei Möglichkeiten "reflexiver temporaler Modalisierung"; von diesen ist diegegenwärtige Zukunft als "Widerspruchsmultiplikator" zu betrachten, sie setzt den Handelnden durch Abwägungskonflikte in Bezug auf unterschiedliche Erfüllungszeitpunkte (z.B. Sparen versus Konsumieren) unter Druck. Die künftigen Gegenwarten "eröffnen dagegen die Möglichkeit, etwas zu vertagen und später zu erledigen". Letztere stimulierten eher zu einer "technologischen", erstere zu einer (positiven oder negativen) utopischen (Handlungs-) Orientierung (ebda).

39. de Haan (1999), S.39f.

40. vgl. Lyotard (1987)

41. Mader (1992), Bd.1, S. 296

42. Kant (1977), XII/2, S.490f.

43. vgl. Jungk (1973); Institut für Zukunftsstudien(ed.) (1993); eine Beschreibung der methodischen Kennzeichen der Zukunftswerkstatt liefert Dauscher (1996). In der deutschen Erwachsenenbildung hat sich um den Themenkreis 'Zukunft' und 'Utopie' besonders Faulstich (1990; 1998) bemüht. Bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang der Begriff der 'Lernkultur' eine erhebliche Rolle spielt; vgl. Literatur- und Forschungsreport 41 u. 44; Pätzold u. Lang (1999)