Sandra Meinert

Zur Entwicklungsgeschichte der Behindertenbewegung: Eine systematisierende Studie.

Diplom Pädagogik – Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies


Kontakt: sandra.meinert@uni-koeln.de


Obwohl die Behindertenbewegung eine 40-jährige Geschichte aufweist, fehlt eine Analyse ihrer Entwicklung bis heute. Die Forschung zu sozialer Bewegung ignoriert sie gänzlich, in der Heil- und Sonderpädagogik hat sie eine höchstens randständige Bedeutung. Aktive der Behindertenbewegung beschreiben diese ausgehend von ihren Aktionen und Erfolgen, jedoch ohne Bezug auf die Bewegungsforschung. Die Dynamik der Bewegung als Ganzes, in Abhängigkeit von gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und der Bewertung von Behinderung, wurde nie analysiert. Die Arbeit verfolgt das Ziel, eine Definition für die Behindertenbewegung festzulegen, ihre Entwicklung zu systematisieren und ihren aktuellen Stand als soziale Bewegung darzustellen. 

Unter Behindertenbewegung wird dabei das Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Verbänden, Vereinen, informellen Zusammenschlüssen usw. verstanden, das in den letzten 40 Jahren im Wissen umeinander und um ein gemeinsames Ziel unterschiedlichste Protestformen anwandte, um Behinderten-Interessen in die Öffentlichkeit zu bringen, behinderten Menschen ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen und diese als Experten für das eigene Leben anzuerkennen. Bei der Darstellung der Historie der Behindertenbewegung wird Sekundärliteratur über die Behindertenbewegung herangezogen und im Sinne der Dokumentenanalyse miteinander verglichen. Auf dieser Basis entsteht ein induktives Modell des Ablaufs und der Dynamik der Behindertenbewegung. Als theoretisches Modell zum Ablauf der Bewegung dient der „analytische Deskriptionsrahmen für die Analyse der Entwicklung sozialer Bewegungen“ nach Wasmuht (1989). Nach der Zusammenführung dieser beiden Modelle lassen sich stichwortartig fünf Entwicklungsphasen der Behindertenbewegung ausmachen:

Soziale Krise (1900-1967): Vorbedingungen; Vereinigungen von kriegs- und schließlich „zivilbehinderten“ Menschen, Elternvereinigungen; öffentliche Zuständigkeit für Behinderung;
Bewusstwerden und Propagierung unterschiedlicher Krisenfolgen (1968-1973): Aufbruch; Clubs Behinderter und ihrer Freunde; Eigeninitiative von behinderten Menschen, Beginn des Sich-Betroffenfühlens;
Artikulation des Protests und Intensivierung (1974-1981): einsetzender Protest; Bewusstsein für behindernde Umwelt; kollektive Identität (Krüppelgruppen);
Artikulation von Perspektiven und Zielsetzungen (1982-1990): Gesamtkritik durch das Krüppeltribunal; Institutionalisierung und Konsolidierung unter dem Begriff „Selbstbestimmt Leben“; politisches Engagement;
Organisation (1991-2008): rechtliche Gleichstellung und politische Etablierung; Kooperation zwischen unterschiedlichen Initiativen; Disability Studies

Heute wird der Behindertenbewegung, besonders von (ehemaligen) Aktiven, häufig ihr Bewegungscharakter abgesprochen. Es fehle an Aufsehen erregenden Ereignissen, die Bewegung habe aufgrund von Institutionalisierung an Innovation und Durchsetzungskraft eingebüßt. Nach Wasmuht (1989) kann jedoch eine soziale Bewegung auf vielerlei Weise enden. So scheint die Behindertenbewegung als organisierte Bewegung in einer nicht-organisierten Weise weiter zu bestehen. Aufgrund von Kooperation und Anpassung kann sie ihre Kritik zwar weniger drastisch formulieren, hat aufgrund ihrer politischen Etablierung jedoch größere Chancen auf die Durchsetzung ihrer Ziele. Zukünftige und weiterhin existierende Herausforderungen bestehen dabei in der Einbindung ihrer unterschiedlichen potentiellen Teilnehmer und einer angemessen Vertretung ihrer sehr heterogenen Interessen. Thematisch begleiten sie weiterhin u.a. die Frage nach dem Verhältnis zum traditionellen Hilfesystem (z.B. das Ziel der Deinstitutionalisierung), die Schaffung eines einkommens-unabhängigen Leistungsgesetzes, und Auswirkungen bioethischer Diskussionen auf das Lebensrecht behinderter Menschen.

Die Studie macht deutlich, dass die Geschichte der Selbstvertretung behinderter Menschen in Deutschland aus wissenschaftlicher Sicht bisher vernachlässigt wurde. Der Forschungsansatz der Disability Studies bietet eine Möglichkeit, diese Geschichte aufzuarbeiten. Für zukünftige Forschungen bieten sich insbesondere Quellenstudien an sowie der Vergleich mit anderen sozialen Bewegungen und „Behindertenbewegungen“ in anderen Ländern. Dabei sollte auch die Bewegungsforschung Impulse erhalten und die Behindertenbewegung als soziale Bewegung in ihren Kanon aufnehmen.

Literatur
Wasmuht, Ulrike C. (1989): Zur Untersuchung der Entstehung und Entwicklung sozialer Bewegungen. In. Dies. (Hg.): Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion. Darmstadt, S. 159-176.