Infantilisierung der Armut?

Gesellschaftspolitische Ursachen und psychosoziale Folgen in Ost- und Westdeutschland

 

Fachtagung "Kinderarmut und Generationengerechtigkeit"

am 18. November 2000

Mit dem Thema "Kinderarmut und Generationengerechtigkeit" beschäftigte sich eine Fachtagung, die von der Abteilung für Politikwissenschaft der Universität zu Köln mit Unterstützung des Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung am 18. November durchgeführt wurde. Prof. Dr. Christoph Butterwegge verwies als Veranstalter zur Eröffnung auf die aktuellen Diskussionen in den Medien und in der Wissenschaft, die zunehmend den "Kampf der Generationen" auf verschiedenen Ebenen der Sozialpolitik thematisieren und mit dem Problem der Kinderarmut verknüpfen.

Den Eröffnungsvortrag hielt Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach (Frankfurt/Main) zum Thema "Sozialstaat, soziale Ungleichheit und Generationenungerechtigkeit in Deutschland". Anhand der gegenwärtigen Rentendebatte machte der Referent die Problemdimensionen diverser Gerechtigkeitsdiskurse und Konzeptionen des sozialstaatlichen Umbaus klar. Statt der behebbaren Einnahmeprobleme in der sozialen Sicherung (u.a. durch Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, Einwanderung und Verbreiterung der Basis des Rentensystems) werde deren angeblich nicht mehr mögliche Finanzierbarkeit thematisiert und beispielsweise der demographische Wandel als Argument für Sozialkürzungen herangezogen. Durch die Beendigung paritätischer Finanzierung und eine einseitige Unternehmerentlastung finde ein Systembruch in der sozialen Sicherung statt. Dieser werde in der öffentlichen Debatte jedoch demagogisch als Verteilungskonflikt zwischen den Generationen dargestellt, obwohl der wirkliche Konflikt innerhalb der Generationen existiere, nämlich z.B. zwischen öffentlichen Sparzwängen und wachsendem privatem Reichtum und Wohlstand.

Eine Bestandsaufnahme der Kinderarmut in Deutschland lieferte Dr. Andreas Klocke (Bamberg). Dabei stellte er insbesondere Ergebnisse einer im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführten Studie vor. Die Infantilisierung der Armut zeigte Klocke anhand der Altersverschiebung in der Armutspopulation. Hinsichtlich der Anzahl von Kindern in Armut verwies er auf etwa jedes siebte Kind und jeden siebten Jugendlichen in der Bundesrepublik, die in (Einkommens-)Armut leben müssen. Besonders Kinder in Alleinerziehendenhaushalten, in Mehr-Kinder-Familien sowie Migrantenkinder sind überproportional davon betroffen. Neben verschiedenen Formen der sozialen Benachteiligung seien als psychosoziale Folgen insbesondere eine verstärkte Isolation, geringeres Wohlbefinden und eingeschränktes Gesundheitsverhalten charakteristisch.

Im darauf folgenden Forum "Kinderarmut und Reichtum" gab Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster (Bochum) einen Überblick über die soziale Schieflage in der Bundesrepublik Deutschland. Er betonte, dass durch die größeren Wirtschaftsräume, wie beispielsweise die EU, Wachstumsimpulse geschaffen werden, die im Zuge des Wettbewerbs auch eine sozialräumliche Ausgrenzung innerhalb der Regionen und zwischen den Regionen sowie regional steigende Arbeitslosen- und Armutszahlen nach sich ziehen. Jugendliche sind zunehmend von Armut betroffen, sie erleben die zugunsten der Wohlhabenderen veränderte Verteilungssituation in der Gesellschaft deutlich. Reichtum gelte als Leitbild in der Gesellschaft und soziale Segregation werde praktiziert – deshalb bestehe die Gefahr, dass soziale Ausgrenzung und Gewalt aufgrund der Angst um den Verlust des eigenen Status zunehmen.

Dr. Jürgen Mansel (Bielefeld) ging im Anschluss besonders auf die Problembelastung Jugendlicher in unterschiedlichen Lebenslagen ein.

Mit dem Thema "Arme Kinder - ,reiche Rentner’" beschäftigte sich Prof. Dr. Jürgen Wolf (Magdeburg) im Forum "Generationengerechtigkeit". Er betonte dass die sozialen Unterschiede innerhalb der Generationen größer seien als zwischen Jungen und Alten. Neben den Zahlungen für die Rentenversicherung seien auch die privat geleisteten Transfers von Alt zu Jung zu beachten.

Dr. Thomas Ebert (Bonn) widmete sich im Anschluss dem Aspekt "Kinderleistungsausgleich und Rentenkürzungen". Durch die These, kinderreiche Familien würden durch den Sozialstaat ausgebeutet, werde nicht beachtet, dass in der Sozialversicherung eine Umverteilung in der Form stattfinde, dass Familien ausdrücklich gefördert und die Zeiten der Kindererziehung bei der Rente anerkannt würden. Die These der Ausbeutung Kinderreicher durch Kinderlose wies Ebert scharf zurück. Zwei Fehler lägen einer solchen Annahme zugrunde: Zum einen handele es sich um falsche Eigentumszurechnungen, in denen Kinder mit Kapital gleichgesetzt würden, zum anderen werde Fortpflanzung als Reichtumskapital gesehen. Die Bevölkerungsreproduktion sei jedoch nicht als Wachstumsfaktor anzusehen, da sich Wachstum aus Kapital- und Wissensakkumulation zusammensetze. Folge man einer familienfundamentalistischen Sichtweise, werde eine Statuspolitik für Eltern gegenüber Kinderlosen gemacht, wodurch sich der Abstand zwischen Eltern unterschiedlicher Gesellschaftsschichten vergrößere. Eine alternative Familienpolitik verbinde dagegen Chancengleichheit mit Familienlastenausgleich; die Erziehungskraft der Eltern gelte es ebenso zu stärken wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

In der abschließenden Podiumsdiskussion, die Dr. Ute Klammer (Düsseldorf) moderierte, erörterten Prof. Dr. Richard Hauser (Frankfurt/Main), Prof. Dr. Franz X. Kaufmann (Bielefeld) und Prof. Dr. Ilona Ostner (Göttingen) das Thema "Reformmöglichkeiten der Familien- und Sozialpolitik". Ihre familien- und sozialpolitischen Konzeptionen gegen Kinderarmut und für "Generationengerechtigkeit" waren angesichts der unterschiedlichen Forschungs- und Politikfelder z.T. sehr verschieden, boten aber viel Stoff zum Weiterdenken und damit einen gelungenen Tagungsabschluss. (Tatjana Schwedes/Tatjana Leidig/Michael Klundt/Matthias Zeng)

Zu diesem Thema ist erschienen:
Christoph Butterwegge/Michael Klundt (Hrsg.): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit
(Leske+Budrich), Opladen 2002