Infantilisierung der Armut?

Gesellschaftspolitische Ursachen und psychosoziale Folgen in Ost- und Westdeutschland

 

Pädagogisch-didaktisches Material zum Thema (Kinder-)Armut für Schule und Weiterbildung

Seit Mitte der 80er und verstärkt im Verlauf der 90er Jahre ist Armut in Deutschland wieder zu einem in Öffentlichkeit und Wissenschaft viel diskutierten Thema geworden. Anlass zur Sorge bereitet insbesondere die permanente "Verjüngung/Infantilisierung" der Armut, d.h. die wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die unter Bedingungen von Armut aufwachsen. In den Jahrzehnten davor hatte in der Bundesrepublik - nach Wirtschaftswunder und einer Periode sozialstaatlichem Ausgleichs - die Vision einer zunehmend "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" dominiert, in der Armut nur noch als Randgruppenphänomen vorkommen und sich soziale Unterschiede progressiv verkleinern sollten. In der DDR machten Vollbeschäftigung und eine Ideologie der Sicherung aller Grundbedürfnisse Armut undenkbar. Wo sie dennoch vorkam, wurde sie zu einem Problem angeblicher «Assozialität» oder zu individuellen Gesundheitsproblemen umgedeutet. Die Mehrheit der heute in Ost- und Westdeutschland tätigen Lehrer/innen hat in diesen Jahren ihre Ausbildung absolviert und es ist davon auszugehen, daß nur wenige engagierte Pädagog(inn)en in den aktuellen Armutsdiskurs und neuere Forschungsergebnisse eingeweiht sind. In ihrer alltäglichen Arbeit sind sie gleichwohl mit "Armutslagen" von Kindern und Jugendlichen und möglichen Folgewirkungen wachsender sozialer Ungleichheit konfrontiert. Die absolute Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren, die in Armut leben, lag 1997 bei 2,8 Millionen: damit war jedes fünfte Kind betroffen. Das quantitative Ausmaß der Kinderarmut macht es wahrscheinlich, dass sich in Lerngruppen stets arme Kinder und Jugendliche befinden oder solche, die von Armut bedroht sind. Eine Ende 1996/Anfang 1997 durchgeführte Umfrage unter Lehrer(inne)n aus Frankfurt am Main ergab jedoch, daß arme Kinder oft nicht als solche wahrgenommen werden. Lehrer/innen sehen sich deshalb auch nicht veranlasst, die Problematik von Armut in Deutschland und ihre Auswirkungen im Unterricht zu thematisieren. Bei einer Befragung Brandenburger Lehrer/innen wurde deutlich, wie wenig Pädagog(inn)en auf Kinderarmut, deren Auswirkungen und den adäquaten Umgang damit vorbereitet sind. Die Untersuchung schlussfolgert, es sei notwendig, Schule stärker für Armut bzw. deren Folgeerscheinungen zu sensibilisieren und reklamiert einen Bedarf an "aufklärenden, helfenden und handlungsorientierten Hinweisen" für die pädagogische Arbeit.

Der aktuelle Stand der Armutsforschung, die seit Ende der 90er Jahre eine boomartige Entwicklung verzeichnen kann, hat jedoch noch keinen nennenswerten Niederschlag in Unterrichtshilfen, -materialien und Konzepten der Fort- und Weiterbildung gefunden. Mit der Zusammenstellung von pädagogisch-didaktischem Material zum Thema (Kinder-)Armut soll diese Lücke geschlossen und ein Transfer von den wissenschaftlichen Erkenntnissen in die pädagogische Praxis ermöglicht werden. Dabei ist eine Gliederung des Themas in verschiedene Bausteine vorgesehen, die sowohl für den Einsatz in der Schule als auch in der politischen Bildung gedacht sind.

Inhaltlich orientieren sich die Bausteine an den laufenden Forschungsarbeiten der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und den Arbeiten des Forschungsverbundes "Duale Armutsforschung". Die Bausteine sind so angelegt, dass sie im Prinzip ständig erweitert, ergänzt und aktualisiert werden können.

Jeder Themenbaustein ist gegliedert in:

    1. Schlaglichter
    2. Das Thema im Überblick
    3. Personenportraits
    4. Dokumente und Materialien
    5. Literatur
    6. Ansprechpartner

Am Ende eines jeden Themenschwerpunkts finden sich Vorschläge für pädagogische Umsetzung in Schule und Seminararbeit. Die "Schlaglichter" sind als erster Zugang zum Thema gedacht, sie verdeutlichen Alltagssituationen, Szenen, Begegnungen oder punktuelle Erfahrungen. Die "Portraits" stellen Personen im Hinblick auf das Thema vor. Die dort aufgezeigten Schicksale von Menschen, die Armutsprozesse durchlaufen und die gegen Ausgrenzung kämpfen, illustrieren aus subjektiver Perspektive, was materieller Mangel, Stigmatisierung, entwertete Biographien und fehlende Zukunftsperspektiven im reichen Deutschland bedeuten. "Das Thema im Überblick" skizziert den aktuellen theoretischen Diskussionsstand und kann als Hintergrundinformation genutzt werden. Die "Dokumente und Materialien" vertiefen die thematischen Aspekte mit Zahlen, Daten und Fakten sowie illustrierendem Hintergrundwissen. Die Rubrik "Ansprechpartner" nennt Hilfsorganisationen und staatliche Stellen, die mit dem jeweiligen Thema befaßt sind.

Ein erster Baustein der Arbeitsmaterialien wird sich ausführlich mit den aktuellen Erscheinungsformen von (Kinder-)Armut beschäftigen, um so die Grundlagen für die weiteren Bausteine zu legen, die sich mit speziellen Aspekten des Themas auseinandersetzen. Geplant sind u.a. Bausteine zu den Themen: Gesundheit, Migration, Straßenkinder. Diese Auswahl orientiert sich am bisher vorhandenen Forschungsstand und den bereits geleisteten Vorarbeiten. Angestrebt wird jedoch die Einbeziehung weiterer Aspekte, die das Thema beispielsweise in der historischen Dimension darstellen oder internationale Vergleiche ermöglichen. An den fortlaufenden Arbeiten sollen insbesondere Lehramts-Student(inn)en der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln beteiligt werden.