Kinderlieder

(Seminar Probst-Effah, Wintersemester 2007 / 08)

(Das Skript, das einige ausgewählte Bereiche thematisiert, basiert inhaltlich auf einem Teil der im Folgenden genannten Literatur sowie Beiträgen zum Seminar.)

 

Inhalt

Definition und geschichtliche Entwicklung

Martinstag

Advent, Nikolaus, Weihnachten

Der politische Missbrauch von Kinderliedern

Erneuerungs- und Emanzipationsbestrebungen im 20. Jahrhundert

Kinderliedermacher seit den 1970er Jahren (Fredrik Vahle, Gerhard Schöne, Rolf Zuckowski)

Fragmente zum Thema „Kind-Thematisierungen in musikalischen Kunstwerken des 19. und 20. Jahrhunderts“

 

Definition und geschichtliche Entwicklung

Literatur (Auswahl)

Böhme, Franz Magnus (Hg.): Deutsches Kinderlied und Kinderspiel. Volksüberlieferungen aus allen Landen deutscher Zunge, gesammelt, geordnet und mit Angabe der Quellen, erläuternden Anmerkungen und den dazugehörigen Melodien hg. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1897. Nachdruck Nendeln / Liechtenstein: Kraus Reprint Ltd., 1967

Das Buch der Kinderlieder. Hg. von Ingeborg Weber-Kellermann. 235 alte und neue Lieder. Kulturgeschichte, Noten, Texte, Bilder. Mainz u. a.: Schott, 1997

Freitag, Thomas: Das Kinderlied. Ein alphabetisches Lesebuch. Oldershausen: Lugert, 2000

Freitag, Thomas: 100 Jahre Schreckensgeschichte des deutschen Kinderliedes. Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00. Edition Luisenstadt 2000

(www.luise-berlin.de/lesezei/Blz00_01/text01.htm)

Freitag, Thomas: Kinderlied – Von der Vielfalt einer musikalischen Liedgattung. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001

Gerstner-Hirzel, Emily: Das Kinderlied. In: Handbuch des Volksliedes. 2 Bde. Hg. von R. W. Brednich, L. Röhrich, W. Suppan. München: Wilhelm Fink, 1973 f.

„Des Knaben Wunderhorn“. In: Hauptwerke der deutschen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. Band I: Von den Anfängen bis zur Romantik. München: Kindler, 1994. S. 292 f.

James, Barbara / Moßmann, Walter: Glasbruch 1848. Flugblattlieder und Dokumente einer zerbrochenen Revolution. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand, 1983

Kinderkultur. 25. Deutscher Volkskundekongress in Bremen vom 7.–12. Oktober 1985. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde hg. von Konrad Köstlin in Zusammenarbeit mit Rosemarie Pohl-Weber u. Rainer Alsheimer. Bremen: Focke-Museum, 1987

Klusen, Ernst: Volkslied – Fund und Erfindung. Köln: Gerig, 1969

Simrock, Karl: Kinderlieder. Reime, Sprüche und Abzählverse. Frankfurt am Main 1848. Neuauflage 1970

Vahle, Fredrik: Kinderlied. Erkundungen zu einer frühen Form der Poesie im Menschenleben. München, Basel: Beltz, 1992

Art. „Kinderlied“. In: Wikipedia

 

Definition

Kriterien des Kinderliedes (vgl. Art. „Kinderlied“ in Wikipedia):

ein leicht fasslicher kindlicher Text, verbunden mit einer einfachen, oft pentatonischen Melodie. Das von Erwachsenen getextete und komponierte Kinderlied ist oft ein Strophenlied. Der Ambitus der Melodie muss der Stimmlage des Kindes angemessen sein.

Es lassen sich zwei Hauptarten des Kinderliedes unterscheiden:

-          das von Kindern meist improvisiert erfundene Kinderlied

-          das von Erwachsenen in pädagogischer Absicht für Kinder geschaffene Kinderlied.

Kritik des romantischen Kinderlied-Begriffs von Weber-Kellermann:

„Die Frage nach einer Definition des ‚Kinderliedes’ wurde meist aus dem Geist der Romantik heraus beantwortet, in dem die Welt der Kinder heil und freundlich ist, eine Widerspiegelung der ‚guten alten Zeit‘ als eines immerwährenden status quo. Das entsprach durchaus der Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft von artig angepassten Kindern im Matrosenanzug und Spitzenkleidchen und so wurde für die Kinder gemachte Kultur emsig als die Kultur der Kinder ausgegeben“ (Weber-Kellermann 1997, S. 9). Ehrlicher und realitätsbezogener waren die Sammler eines städtischen Repertoires von Spielen und Liedern (wie etwa Karl Wehrhan, der in Frankfurt am Main sammelte), „die ein komplexes lokales Zeitbild ihres Stoffes ohne ästhetische oder moralische Selektion vorstellten“ (Weber-Kellermann 1997, S. 9; Karl Wehrhan: Frankfurter Kinderleben in Sitte und Brauch, Kinderlied und Kinderspiel, Wiesbaden 1929).

In radikaler Weise stellten im 20. Jahrhundert u. a. Peter Rühmkorf und Ernest Bornemann das bürgerliche Verständnis vom Kinderlied in Frage:

Peter Rühmkorf: Über das Volksvermögen. Exkurse in der literarischen Untergrund. Reinbek 1967

Ernest Bornemann: Unsere Kinder im Spiegel ihrer Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Freiburg 1973 (Studien zur Befreiung des Kindes, Bd. 1)

Ders.: Die Umwelt des Kindes im Spiegel seiner „verbotenen“ Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Freiburg 1974 (Studien zur Befreiung des Kindes, Bd. 2)

Im Gegensatz zu den bisherigen Auffassungen deuteten sie den Tabu-Bereich fäkalisch-obszöner Kinderlieder als authentisch.

Solche Neudefinitionen wurden unterstützt von der Publikation „Das Verschwinden der Kindheit“ von Neil Postman, die 1983 als in deutscher Übersetzung erschien. Das Buch wurde zum Bestseller. Es verbreitete die These, „dass in der modernen Zivilisation die Kindheit und mit ihr die Kinderkultur von den Erwachsenen zerstört werde, und zwar in einer Allianz von Kommerz, Ideologie (Medien) und Gedankenlosigkeit“ (Weber-Kellermann 1997, S. 9 f.).

 

Anmerkungen zur Erforschung des Kinderliedes

Lange Zeit war das Kinderlied – wie auch andere Liedbereiche – fast ausschließlich Untersuchungsobjekt der Germanistik, d. h. untersucht wurden die Texte. In ihnen spürte man z. Tl. (vermeintlich) uralte, in der heutigen Umgangssprache nicht mehr gebräuchliche textliche Wendungen auf.

Die Musikforschung hat das Kinderlied vernachlässigt oder gar ignoriert. In der Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“ fehlt das Stichwort „Kinderlied“. Einer der Gründe ist wohl die musikalische Simplizität dieser Lieder: Die Melodien folgen oft bestimmten Grundmustern, sind manchmal zwischen Sprechen und Singen angesiedelt (Beispiel: „Backe, backe Kuchen“). Klang und Rhythmus sind zentral; die inhaltliche Aussage tritt in den Hintergrund.

Der Musikalischen Volkskunde geht es heute nicht mehr primär um die Erforschung der Liedobjekte und deren Kategorisierung, sondern vielmehr von deren Gebrauch. Liedforschung wurde zur Singforschung ausgeweitet. Entscheidend ist demnach nicht so sehr, was in Liederbüchern schriftlich fixiert ist, sondern das, was in welchem Kontext gesungen wird. Liederbücher geben nur bedingt Aufschluss über die Liedträger und deren Singpräferenzen sowie den Liedgebrauch. Kinderlieder sind jedoch nicht nur Objekte. „Für Kinder sind Lieder keine fertigen Gebilde. Sie gehen mit Liedern nicht um wie mit einer Konserve, die nur aufzubrechen und zu verbrauchen wäre“ (Freitag 2001, S. 57). Kinder handhaben die Lieder nach eigenen Vorstellungen.

Die Musikpädagogik hat stets den Zusammenhang von Musik und Mensch in Aneignungs- und Vermittlungsprozessen fokussiert; daher sind für sie solche Gedanken nicht neu. Beim Kinderlied ist für sie u. a. von entscheidender Bedeutung, welcher Altersgruppe ein Kind angehört.

Ein Paradigmenwechsel fand hingegen statt in Disziplinen wie etwa der Musikwissenschaft und ihrem Spezialgebiet Musikalische Volkskunde. Entscheidende Impulse gingen dabei von der Musikanthropologie aus, deren Interesse sich auf die Beziehung zwischen Mensch und Musik richtet. Dieser relativ junge Zweig der Musikwissenschaft geht zurück auf die Publikation „The Anthropology of Music“ von Alan P. Merriam (1964). Sie stellt in besonderem Maße „use and function“ von Musik verschiedener Völker heraus und gab so der Musikwissenschaft, die sich bisher einseitig auf die Erforschung von „Kulturgütern“ konzentriert hatte, neue Impulse. Im deutschsprachigen Raum wandte sich Wolfgang Suppan seit den frühen 1970er Jahren dem musikanthropologischen Denken zu, so u. a. in der Publikation „Der musizierende Mensch“ (1984). „Suppan setzt historische ‚Kulturgüterforschung‘ gegen eine ‚Menschenforschung in Musik‘ [...] und kritisiert in diesem Sinne monokausales Forschen der traditionellen Musikwissenschaft“ (Freitag 2001, S. 59 f.).

Wichtige Anregungen gingen auch von Ernst Klusen aus, der ebenfalls die Funktion und den Gebrauch von Liedern innerhalb musikalischer Interaktion ins Zentrum rückt. In seiner Schrift „Volkslied. Fund und Erfindung“ (1969) trifft er eine grundlegende funktionelle Unterscheidung von Musik als „dienendem“ Gegenstand einerseits und Musik als „triumphierendem“ Gegenstand andererseits. Er knüpfte hier an die von Heinrich Besseler 1925 eingeführten Termini „Darbietungsmusik“ und „Gebrauchsmusik“ an. Klusen hebt hervor, dass das Lied in seiner ‚dienenden‘ Einbindung in außerkünstlerische Kontexte nicht nach ästhetischen, sondern zweckerfüllenden Gesichtspunkten zu beurteilen sei und spricht in diesem Zusammenhang von einer „primären“ Funktion. Das Lied als „triumphierender“ Gegenstand hingegen sei Objekt künstlerischer Darbietung und erfülle damit eine „sekundäre“ Funktion (s. auch Freitag 2001, S. 65).

 

Kinderlieder bis zum 18. Jahrhundert

Zeugnisse, Belege und Quellen zur Frühgeschichte des Kinderliedes sind nur spärlich vorhanden. Doch ist anzunehmen, dass mit Kindern und für Kinder zu allen Zeiten gesungen wurde; ebenso, dass Kinder sich einen Teil der Lieder von Erwachsenen aneigneten, sie auf kindliche Art modifizierend.

Das meiste hielt man anscheinend nicht für bewahrenswert. Ist etwas überliefert, so kommt dieses Kulturgut von den „höheren“ Ständen. So bleibt die Frage weitgehend offen, was im größten Teil der Bevölkerung für die Kinder und von den Kindern gesungen wurde. Das frühgeschichtliche Kinderlied stand weitgehend außerhalb der Schriftkultur, es wurde überwiegend oral tradiert. Frühe Kinderliedgeschichte ist daher auf indirekte Zeugnisse (zum Beispiel bildliche Darstellungen, Verbotserlasse, musiktheoretische Schriften, Protokolle) angewiesen, die musikkulturelle Bräuche und Traditionen belegen oder auf sie hinweisen.

Eine Liedgattung, die in allen Völkern und Kulturen anzutreffen ist, ist das Wiegenlied. „Es kann in seinem natürlichen Zusammenhang von Bewegung, Rhythmus, sprachlicher und musikalischer Gestaltung in Hinsicht auf Kindbezogenheit, Alter und Verbreitung als Ursprungsform des Kindes angesehen werden“ (Vahle 1992, S. 11 f.).

Das Verhalten des Mittelalters gegenüber Kindern ist aus heutiger Sicht oft befremdlich. „Das fortwährende Erleben des frühen Todes von Kindern musste im Mittelalter eine emotionale Gleichgültigkeit gegenüber der nachwachsenden Generation notwendig hervorbringen, wie sie heute nur schwer vorstellbar ist. Auch Kindesmord und Weggabe waren an der Tagesordnung. Das Interesse an Kindern war gering“ (Freitag 2001, S. 77). Die mittelalterliche Gesellschaft bezog die Kindheit nur auf die Kleinkind-Phase. Danach behandelte sie die Kinder wie kleine Erwachsene.

Das Verhalten gegenüber Kleinkindern spiegeln einige Wiegenlieder, die von einem nicht immer liebevollen Umgang mit ihnen zeugen. Vahle zitiert u. a. das folgende Beispiel (Vahle 1992, S. 17):

Pripe Ninne, sause!

Der Fuchs steht hinterm Hause:

Der hat ein’ langen Schlitten mit,

und nimmt die bösen Kinder mit,

die guten lässt er zu Hause.

Pripe Ninne, sause!

Durch die Drohung mit einem gefährlichen Tier, einem furchterregenden Menschen (z. B. dem „schwarzen Mann“) oder auch dem Tod soll das Kind fügsam gemacht werden. „Das Kind soll aus Angst still sein und so den Willen der Mutter erfüllen. Um das zu erreichen, werden Droh- und Schreckgestalten eingeführt, hinter denen der Wille der Mutter bzw. der Eltern verborgen bleibt“ (Vahle 1992, S. 19). Die Aggressionen werden in fiktive (meist männliche) Gestalten projiziert, die stellvertretend für die Eltern agieren, um das gewünschte Wohlverhalten des Kindes zu erreichen. Beliebte Schreckgestalten sind Raubtiere (z. B. Fuchs und Wolf), Andersgläubige (z. B. der Türke, der Jude), vorchristliche Dämonen und Geister (z. B. der Alb, der Trud) oder auch der Tod (Vahle 1992, S. 21).

Anscheinend war es eine verbreitete Praxis, Kinder, sogar schon Säuglinge durch Schläge gefügig zu machen.

Heia, Popeia, mein großkopfats Kind,

wenn du nicht schläfst,

schlag ich dir auf’n Grind.

(Vahle 1992, S. 22)

Die meisten Vorläufer des Kinderliedes aus dieser Zeit entstammen den höheren sozialen Schichten (z. B. Spruchgedichte des 13. / 14. Jahrhunderts). Aus niederen, von der Bildung ausgeschlossenen Gesellschaftsschichten hingegen gibt es kaum Überlieferungen außer Zeugnissen von Verboten und Zensur.

Eine Zäsur in der Frühgeschichte des kindlichen Singens bedeutete die Reformation, die mit der Veröffentlichung von Luthers Thesen am 31. Oktober 1517 in Wittenberg begann. Martin Luther (1483–1546) regte nicht nur das Liedschaffen verschiedener Komponisten an, sondern er verfasste selbst Kirchenlieder und betrachtete dabei das Kind als einen wichtigen Liedträger. Er „legte seine Lieder so an, dass sie als Mittel der Erziehung für die nachwachsende Generation einsetzbar waren. Das Erfurter Enchiridion von 1524, die erste und weitverbreitete lutherische Liedsammlung, lieferte Gemeindelieder und zielte in der Wirkungsabsicht eindeutig auf Jugendliche und Kinder“ (Freitag 2001, S. 82). „Kinderlied“ bedeutet bei Luther, dass es sich um ein Lied in einfacher Schreibweise handelt (Vahle 1992, S. 29).

Ein noch in der Gegenwart bekanntes Beispiel ist Luthers „Vom Himmel hoch“ (1534), das Luther „ein Kinderlied auf die Weihnachten, vom Kindlein Jesu, aus dem 2. Capitel des Evangelii C. Lucas“ nannte. Von den ursprünglich fünfzehn Strophen werden im allgemeinen nur einige wenige gesungen.

Kinder wurden in der Zeit der Reformation und Gegenreformation als Multiplikatoren des christlichen Gemeindegesangs entdeckt. Ziel aller Bemühungen war es, religiöse Lebensorientierungen des privaten und öffentlichen Lebens zu schaffen (Freitag 2001, S. 86). Nichts ist hingegen bekannt von den Gesängen außerhalb des religiösen Bereichs; Hinweise auf sie gibt es nur in Verbotserlassen und Restriktionen. „Alle im ausgehenden Mittelalter nachweisbaren ‚Kinderlieder‘ waren der aufklärerisch-sittlichen, der geistlichen Erziehung, Lebensorientierung und Erbauung verpflichtet. So folgen die für Kinder bestimmten Gesänge dem theologisch fundierten Anliegen, das christlich-religiöse Weltbild zu verbreiten“ (Freitag 2001, S. 86).

Eng miteinander verwandt waren Weihnachtslieder mit Wiegenliedern. Jesus wurde in diesem Zusammenhang als ein neugeborenes Kind in der Krippe dargestellt. „Wiegenlieder, die im Rahmen des christlichen Brauchtums zunächst an der Krippe des Jesus-Kindes (im Krippenspiel) gesungen werden, werden nun auch für die leiblichen Kinder in den Familien gesungen, wobei sie sich wahrscheinlich mit vorchristlichen bzw. weltlichen Wiegenliedformeln verbunden haben. (Siehe das ‚Eia‘, ‚heija‘ bzw. ‚suse, ninne, suse‘ in christlichen Wiegen- und Weihnachtsliedern)“ (Vahle 1992, S. 30). 

 

Kinderlieder im 18. Jahrhundert

„Das Kinderlied verliert im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts alle Merkmale von Zufälligkeit und Nebensächlichkeit. Das komponierte, artifizielle und fortan an die Schriftform gebundene Kinderlied begründet eine eigene Traditionslinie“ (Freitag 2001, S. 91). Vom religiösen Kinderlied behält es zwar die erzieherische Wirkungsabsicht bei, doch es emanzipiert sich von der christlichen Verkündigung und setzt an deren Stelle die säkulare, indem es bürgerliche Moralvorstellungen propagiert (vgl. Vahle 1992, S. 39).

Im 18. Jahrhundert wandelten sich die Vorstellungen von der Kindheit. Neue Fachgebiete wie die Kinderheilkunde und Kinderpsychologie bildeten sich heraus, und auch in der Pädagogik änderte sich die Wahrnehmung des Kindes. Einfluss hatte der französische Philosoph, Pädagoge und Musikschriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Er forderte gleiche Rechte für alle Bürger. In seiner Schrift „Der gesellschaftliche Vertrag oder Die Grundregeln des allgemeinen Staatsrechts“ nannte er den Staat eine politische Organisation, die auf einem „Gesellschaftsvertrag“ (Contrat social) beruht, den die Bürger freiwillig eingegangen seien. Die Zivilisation trug seiner Auffassung nach die Schuld daran, dass die Wirklichkeit davon abweicht. Deshalb müsse man zur Natur zurückkehren. Rousseau entwickelte auch eine Erziehungstheorie, die er in seiner Schrift „Émile oder Über die Erziehung“ (1762) darlegte. Er forderte eine „natürliche Erziehung“. „Nach dem Beispiel von Robinson Crusoe soll das Kind zunächst seine leibhaftige Existenz unabhängig von jeder gesellschaftlichen Beeinflussung erleben“ (Freitag 2001, S. 15 f.). Die Lektüre von Büchern sollte beispielsweise erst mit zwölf Jahren beginnen. Rousseau, der auch als Singspielkomponist hervortrat, betonte u. a. die Nützlichkeit von Kinderliedern.

Einer der Gründe für die veränderte Wahrnehmung des Kindes waren soziale Veränderungen: „Durch die Neuregelung der Relation zwischen Arbeit und Freizeit kam es zu Veränderungen in den Eltern-Kind-Verhältnissen und zur Ablösung der Großfamilie durch die kleinere bürgerliche Familie. Da Arbeit nunmehr außerhalb des Familienverbandes in einer eingegrenzten Arbeitszeit vonstatten geht, bildeten sich im freizeitlichen, der Regenerierung der Arbeitskraft dienenden Bereich neue Wert- und Normsysteme heraus. Ein Großteil dieser Werte konzentrierte sich naturgemäß auf die Erziehung und Bildung der heranwachsenden Generation“ (Freitag 2001, S. 94). In Anbetracht der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Bürgertums wurde eine längere und intensivere Ausbildung der (bürgerlichen) Kinder notwendig. Sie blieben länger „Kinder“, obwohl sie meist wie kleine Erwachsene gekleidet waren (Vahle 1992, S. 35).

Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es erstmals einen ausgedehnten literarischen Markt speziell für Kinder mit Kinderzeitschriften, -journalen, -almanachen, -romanen, -predigten etc. Kinderlieder wurden in großen Mengen produziert. Sie richteten sich nun nicht mehr nur an Säuglinge (wie die Wiegenlieder), sondern auch an ältere Kinder, insbesondere die Schulkinder der gehobenen Stände.

Einer der ersten in Deutschland, der „Lieder für Kinder“ – das heißt Verse für Kinder – schrieb, war Christian Felix Weiße (1726–1804). Seine erste Sammlung erschien in den 1760er Jahren in Leipzig, sie regte zahlreiche ähnliche Sammlungen anderer Autoren an. Es handelt sich hierbei um „eine belehrende, moralisierende und didaktisierende Lyrik für Kinder“ (Freitag 2001, S. 95). Vahle zitiert u. a. das folgende Beispiel (Vahle 1992, S. 34):

Das Glück eines Kindes

Wenn ich artig bin,

Und ohn’ Eigensinn

Thue, was ich soll,

O! wie ist mir wohl.

Mich lobt der Papa,

Mich liebt die Mama,

Alles freuet sich,

lobt und liebet mich.

„In ihrer Tendenz sind viele dieser Lieder überfrachtet von tugendhaften Leitgedanken, Ermahnungen und bewusstseinsorientierenden Ansprüchen. Kindheit und Jugend werden kaum in ihrer vollen Eigenständigkeit gesehen, dafür wird alles mit Blick auf das erstrebenswerte Erwachsenenleben hin ausgerichtet“ (Freitag 2001, S. 96). Nur positive Gefühle werden zugelassen; abweichendes Handeln wird bestraft. 

2 Liedbeispiele (zitiert nach Freitag 2001, S. 96 f.)

Christian Felix Weiße

Ermahnung an zwey Kinder

Ja, geliebte, zarte Beyde,

Tausendmal umarm ich Euch!

Immerdar sey Eure Freude

Eurer jetzgen Freude gleich.

Unschuld wohn in Euern Herzen,

Keine Bosheit komm in sie!

Ihr könnt singen, tanzen, scherzen,

Nur verscherzt die Tugend nie!

 

Gottlob Wilhelm Burmann

Vaterlandslied

Wenn ich groß bin, welche Freuden,

kann ich auch ein Amt bekleiden!

Und dem Vaterlande fein,

Nützlich und ersprißlich seyn.

Dann verehrt man mich im Staate

Weil ich patriotisch rathe,

Aller Welt wird ich bekannt,

Und mich liebt mein Vaterland.

Christian Felix Weiße prägte entscheidend das Kinderlied der Aufklärung. Seine Liedtexte kamen durch Vertonungen in Umlauf. Erfolgreich waren vor allem diejenigen von Johann Adam Hiller (1728–1804), Singspielkomponist und Gewandhauskapellmeister in Leipzig.

Die Kinderlieder der Aufklärung drückten das Selbstverständnis des aufstrebenden Bürgertums aus: Es galt sich abzugrenzen einerseits gegenüber dem Adel, andererseits gegenüber dem „Plebs“, den Bauern, später auch gegenüber den Arbeitern. Von ersteren wurden Prunk-, Genuss-, Verschwendungssucht u. dgl. angeprangert, von letzteren Faulheit und Tölpelhaftigkeit; folgende Beispiele zitiert Vahle (Vahle 1992, S. 37):

1. Du bist nicht halb so ungezogen,

Als wie ein junger, süßer Herr,

Sprichst nicht so frech und so verwogen

Und lebst moralischer.

2. Lieg auf der Stütze nicht wie Bauern in den Schenken,

die an die Höflichkeit zu keiner Zeit gedenken...

Die Bauern schnäuzen sich gleich in die Hand hinein,

und wer kein Schnupftuch nimmt, wird wohl ihr Vetter sein,

Einen Einschnitt in der Geschichte des Kinderlieds markieren die Liedtexte von Christian Adolf Overbeck (1755–1821), darunter sein bekanntester Text „An den Mai“ („Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün“), der seine bis in die Gegenwart dauernde Popularität der Vertonung durch Wolfgang Amadeus Mozart verdankt. Das Lied erschien 1781 in Overbecks Sammlung „Frizchens Lieder“. Mozarts Vertonung des Liedes „An den Mai“ (KV 596) wurde 1791, im Todesjahr des Komponisten, in Wien in der „Liedersammlung für Kinderfreunde am Clavier“ publiziert.

Der Lyriker Overbeck war im Beruf Rechtsanwalt, später Oberbürgermeister in seiner Heimatstadt Lübeck. Er hatte Kontakte zu den Dichtern des Göttinger Hainbundes. In seinen Kinderliedern ist die belehrende und moralisierend-didaktische Haltung Christian Felix Weißes überwunden. „Overbeck gelingt die Erweiterung kindbezogener Themenkreise, wie sie bis dahin nicht zu finden waren“ (Freitag 2001, S. 92). Er „vermochte zu erkennen, dass Kinder fernab von den gewohnten Moralvorschriften der Erwachsenen eigene Gefühlsansprüche, natürliche Empfindungen und selbständige, kindgemäße Lebensvorstellungen geltend machen“ (Freitag 2001, S. 98).

Overbecks „An den Mai“ wurde auch von Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) vertont, dessen Melodie sich gegenüber der Mozartschen jedoch nicht durchzusetzen vermochte. Reichardt hatte die Notwendigkeit erkannt, Lieder für Kinder zu schreiben; bekannte Lieder von ihm sind u. a.: „Der Mond ist aufgegangen“(die populäre Vertonung dieses Textes stammt jedoch von J.A.P. Schulz), „Müde bin ich, geh zur Ruh“, „Ringel, Ringel, Rosen“ und „Schlaf, Kindchen, schlaf“. Reichardt war ein Exponent der Berliner Liederschule, die einen Bereich der sich nach 1750 entfaltenden bürgerlichen Musikkultur prägte. Weitere Vertreter der Berliner Liederschule waren: Carl Philipp Emanuel Bach, Friedrich Benda, die beiden Brüder Johann Gottlieb und Carl Heinrich Graun, Georg Philipp Telemann; später Johann Abraham Peter Schulz, Johann Friedrich Reichardt (der erste bedeutende Goethe-Komponist), Carl Friedrich Zelter. Eines ihrer Ziele war es, der Dominanz des italienischen und französischen Musikgeschmacks in Deutschland entgegenzuwirken. Beeinflusst waren sie dabei auch von Johann Gottfried Herders Gedanken von der Bewahrung und Erneuerung des Volksliedes. „Lieder im Volkston“ hieß eine Sammlung von Johann Abraham Peter Schulz. Die Volkstümlichkeit richtet sich gegen den Stil der Opernarie.

 

Kinderlieder im 19. Jahrhundert

Eine verstärkte Hinwendung zum Kinderlied erfolgte im Zusammenhang mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die in den protestantischen Landesteilen Deutschlands schon im 16. und 17. Jahrhundert erfolgt war, in den katholischen Regionen teilweise jedoch erst im frühen 19. Jahrhundert stattfand. Der jahrhundertelang religiös geprägte Liedbestand wurde für die Schulen um weltliches Liedgut erweitert. Diese an sich fortschrittliche Tendenz führte bald zu einer neuen Indienstnahme. Das Kinderlied wurde „ein Mittel vordergründiger patriotischer, politischer und moralischer Abrichtung in der auf Erziehung und Disziplin bedachten Schule“ (Freitag 2001, S. 23). Ins kindliche und schulische Liedgut drangen im Verlauf des 19. Jahrhunderts Militarismus und Chauvinismus ein. Vor allem Kaiser Wilhelm II. erkannte die Möglichkeiten der politischen Indoktrination durch die Förderung gemeinschaftliches Singens.

Achim von Arnim / Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn

Die Sammlung deutscher Kinderlieder, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Neubeginn markiert, findet sich im Anhang der dreibändigen Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano 1778–1842).

Achim von Arnim

Geboren 1781 in Berlin; entstammte einer preußischen Adelsfamilie.

1798–1801 Studium der Rechtswissenschaften, Mathematik und Naturwissenschaften in Halle (Saale) und Göttingen, wo er sich mit Clemens Brentano befreundete.

1802 Rheinreise zusammen mit Brentano; sie ließ den Plan zur Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ reifen.

Seit 1805 lebte er zusammen mit Brentano und dem Publizisten und Gelehrten Joseph von Görres in Heidelberg, das durch sie zum Zentrum der Romantik wurde.

Von 1809–12 lebte Arnim in Berlin, war dort u.a. Mitarbeiter und Herausgeber verschiedener Zeitungen und gründete eine „Christlich-deutsche Tischgesellschaft“ genannte politische Vereinigung, zu deren Gründungsmitgliedern auch Clemens Brentano gehörte.

Seit 1811 war Achim von Arnim mit Bettina von Arnim, Schriftstellerin und Schwester von Clemens Brentano, verheiratet.

Nach den Freiheitskriegen 1813–1815 gegen Napoleon widmete sich Arnim der Bewirtschaftung seiner Güter in Wiepersdorf (Mark Brandenburg), wo er 1831 starb.

Arnim hinterließ eine Fülle von Dramen, Novellen, Erzählungen, Romanen, Gedichten und journalistischen Arbeiten.

Clemens Brentano

Geboren 1778 in Ehrenbreitstein (heute Koblenz), gestorben 1842 in Aschaffenburg. Brentano war der Sohn eines italienischen Kaufmanns, dessen Familie in Frankfurt / Main etabliert war, und der vom jungen Goethe verehrten Maximiliane von La Roche.

Er wuchs in Frankfurt am Main und in Koblenz auf. Nach dem Scheitern einer kaufmännischen Lehre studierte er ab 1797 in Halle Bergwissenschaften und ab 1798 in Jena Medizin, ging aber immer stärker seinen literarischen Neigungen nach. In Jena lernte er Vertreter der Weimarer Klassik (Wieland, Herder, Goethe) und der jungen Romantik (Friedrich Schlegel, Johann Gottlieb Fichte, Ludwig Tieck) kennen.

1801 lernte Brentano in Göttingen, wo er Philosophie studierte, Achim von Arnim kennen.

1803 heiratete er Sophie Mereau; nach ihrem Tod ging er 1807 eine neue Ehe ein, die aber unglücklich verlief und 1811 geschieden wurde.

1804 zog Brentano nach Heidelberg, wo er zusammen mit Arnim die „Zeitung für Einsiedler“ (als Buch mit dem Titel „Trösteinsamkeit“) und die Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805–08) herausgab.

Zwischen 1809–17 wirkte Brentano in Berlin, Wien und Prag.

Obgleich Brentano in gesicherten materiellen Verhältnissen lebte, war sein Leben ruhelos und von zahlreichen Krisen erschüttert. An Depressionen leidend, wandte er sich 1817 dem katholischen Glauben in einer mystizistischen Ausprägung zu, die sich auch in seinen Dichtungen niederschlug. Er hielt sich am Krankenbett der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick in Dülmen (Westfalen) auf und schrieb bis zu ihrem Tod ihre Visionen nieder.

Seit 1829 lebte Brentano in Frankfurt und seit 1833 in München, wo er zu dem Kreis um Joseph von Görres gehörte.

Brentano schrieb u. a. zahlreiche Erzählungen und Gedichte. Berühmt wurde seine Ballade von der Loreley, die Heine später aufgriff.

Arnim / Brentano: Des Knaben Wunderhorn

Der erste Band erschien 1805 (obgleich auf 1806 datiert). Er wird eingeleitet mit einer Widmung an Goethe und schließt mit einem Anhang, der Arnims Abhandlung „Von Volksliedern“ und eine „Nachschrift an den Leser“ enthält. Die Bände 2 und 3 erschienen 1808; Band 3 enthält u.a. einen von Brentano allein bearbeiteten Anhang von „Kinderliedern“ mit ca. 150 Liedern. Seitdem folgten mehrere weitere Ausgaben des Werkes. Im Rahmen der Frankfurter Brentano-Ausgabe veröffentlichte Heinz Rölleke 1979 eine neunbändige historisch-kritische Ausgabe des „Wunderhorns“.

Der Plan Arnims und Brentanos, eine Sammlung altdeutscher Lieder zusammenzustellen, reicht zurück in das Jahr 1802, als sie gemeinsam eine Rheinreise unternahmen. Zu dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ wurden sie durch ein Lied aus Anselm Elwerts „Ungedruckte Reste alten Gesangs“ (1784) angeregt, das auf einer altfranzösischen Vorlage basierte.

Zu dem ersten Band des „Wunderhorns“ schrieb Goethe eine Rezension, die Arnim und Brentano dazu ermunterte, allen Anfeindungen zum Trotz die Sammlung fortzusetzen. So wurde in „Beckers Reichsanzeiger“ vom Dezember 1805 ein Aufruf zur Mitarbeit veröffentlicht: „Die Besinnung auf das gemeinsame Erbe der Vorzeit sollte den deutschen Stämmen ihre kulturelle Einheit bewusst machen und ... die nationale Opposition gegen Napoleon stärken“ (zit. nach Hauptwerke der deutschen Literatur, S. 292 f.). Der Aufruf fand viel Beachtung; von den zahlreichen gesammelten Liedern konnte nur ein Bruchteil veröffentlicht werden; nach Rölleke würde eine Publikation des gesamten erhaltenen, handschriftlichen Materials zum „Wunderhorn“ einen Folioband von mehr als 6000 Druckseiten füllen. Zu den Sammlern gehörten u.a. Bettina Brentano und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm; laut Rölleke soll es ca. 50 zeitgenössische Mitarbeiter und Vorlagen von ca. 140 älteren – bekannten sowie anonymen – Dichtern gegeben haben.

Die Texte des „Wunderhorns“ wurden – ähnlich wie die Märchen der Brüder Grimm – recht unsystematisch gesammelt. Sie kamen über die verschiedensten Gewährpersonen zusammen, sie wurden mündlich oder schriftlich tradiert, entstammten gedruckten Quellen oder basierten auf Kindheitserinnerungen. „Das so entstandene Konglomerat an Liedern und Versen wurde dann von den beiden Dichter-Herausgebern gefiltert und aus ähnlichen Fassungen eine besonders ‚schöne‘ kunstvoll zurechtgefeilt in der Meinung, durch solche Stilisierung die ideale ‚Urform‘ des Volksgesangs zu rekonstruieren“ (Weber-Kellermann 1997, S. 8). Solche Sammelmethoden waren charakteristisch für das 19. Jahrhundert. Arnim und Brentano ging es nicht so sehr um historische Genauigkeit als um ein poetisches Erschließen der Vergangenheit und eine dichterische Stilisierung des Volksgesangs. Viele der gesammelten Lieder wurden von ihnen um- und nachgedichtet.

Das „Wunderhorn“ ist nur eine Textsammlung. Das Fehlen der Melodien wurde von Zeitgenossen kritisiert. Diesen Mangel begründete Arnim in einem Brief mit seinem und Brentanos musikalischem Unvermögen (Freitag 2001, S. 125). Anscheinend war eine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Johann Friedrich Reichardt geplant, die jedoch nicht zustande kam. Wahrscheinlich auch galt das Hauptinteresse von Arnim und Brentano gemäß ihren eigenen künstlerischen Ambitionen den Texten.

„Des Knaben Wunderhorn“ ist eine Dokumentation dessen, „was die Herausgeber ganz im Sinne Herders für schön, d.i. für wertvoll, für alt und ehemals für weitverbreitet hielten“ (Klusen 1969, S. 140). Arnim und Brentano wollten mit ihrer Veröffentlichung dazu beitragen, das Volkslied aus alter Tradition wiederzubeleben, es wieder unters „Volk“ zu bringen.

Der Begriff „Kinderlied“ wird in „Des Knaben Wunderhorn“ für sehr heterogene Formen von gereimten Texten verwendet: ABC-Lieder, Wiegenlieder, Kindergebete, Schnaderhüpferl, Abzählreime, Kettengedichte u. a. Ein Großteil der Vorlagen ist nicht speziell für Kinder entstanden und entstammt sehr unterschiedlichen schriftlichen und mündlichen Quellen. Die Vorlagen wurden manchmal nur leicht verändert: z. B. das „Schätzelein“ durch „Kindelein“ ersetzt – „und schon war aus dem ‚Liebeslied‘ ein ‚Kinderlied‘ geworden“ (Vahle 1992, S. 52).

Die „Kinderlieder“ richten sich „nicht eindeutig und direkt an ein Kinderpublikum, sondern in erster Linie an Erwachsene, die Freude an Kindlichem haben und die Lieder und Verse an Kinder weitergeben“ (Vahle 1992, S. 43). Unter der Kindheit, die hier angesprochen wurde, waren nicht nur die persönlichen (oft verklärenden) Erinnerungen an die eigenen frühen Lebensjahre gemeint, sondern allgemeiner eine frühere, vermeintlich glücklichere, intaktere Phase im menschlichen Leben, speziell auch im Leben der Nation. Im Verständnis vieler Romantiker war Kindlichkeit darüber hinaus ein Qualitätsmerkmal nicht nur der Kinderlyrik, sondern großer Poesie überhaupt.

Es ging auch darum, durch das Sammeln und Umschreiben von Volksdichtung diese aus ihrer landschaftlichen und sozialen Gebundenheit herauszulösen und einem gebildeten Publikum zugänglich zu machen. Einen Teil der Textvorlagen schrieb Brentano um. Vor allem ersetzte er die darin verbreitete Dialektsprache meist ins Hochdeutsche. Dialekt blieb nur in Restbeständen erhalten, so z. B. in einigen Diminutivformen.

 „Des Knaben Wunderhorn“ löste eine starke Resonanz aus. Komponisten wie Robert Schumann, Johannes Brahms und Gustav Mahler (1860–1911) ließen sich zu zahlreichen Kompositionen anregen. Manche Texte des „Wunderhorns“ wurden populär, die Jugendbewegung griff viele in ihren Liederbüchern auf; auch durch Schulbücher fanden manche Lieder weite Verbreitung: z.B. „Guten Abend, gute Nacht“; „Schlaf, Kindlein, schlaf“; „Wenn ich ein Vöglein wär“; „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“. Ebenso empfing die Lyrik des 19. Jahrhunderts Anregungen durch das „Wunderhorn“, darunter viele Kinderlieder, die z. Tl. bis in die Gegenwart bekannt sind.

 

Weitere bekannte Kinderliedsammlungen des 19. Jahrhunderts sind:

Karl Simrock: Das deutsche Kinderbuch. Altherkömmliche Reime, Lieder, Erzählungen, Übungen, Räthsel und Scherze für Kinder. Erstauflage Frankfurt am Main 1848

Die Sammlung enthält 550 Gedichte bzw. Liedtexte, eine spätere Auflage von 1857 bereits 1300. Simrock (1802–1876) war 1830 aus politischen Gründen aus dem preußischen Staatsdienst entlassen worden. Deshalb vermied er in seinem „Kinderbuch“ politische Töne.

Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine rege Sammeltätigkeit kindbezogenen Liedgutes zu beobachten, wobei auch (anders als etwa bei Arnim / Brentano) der landschaftlich-geographische Bezug herausgestellt wurde. Das Bestreben einiger Herausgeber war es, Kinderlieder möglichst vollständig zu dokumentieren. Hier ist vor allem zu nennen:

Franz Magnus Böhme: Deutsches Kinderlied und Kinderspiel. Leipzig 1897 (Nachdruck: Nendeln / Lichtenstein 1967)

Mit dieser Sammlung beginnt die systematische wissenschaftliche Erforschung des Kinderliedes. Sie enthält 1870 Kinderlieder, 630 Kinderspiele und 160 Rätsel bzw. Rätselfragen. Wiedergegeben werden nicht nur die Texte, sondern auch die Melodien. Auffallend ist ein komplexes Verständnis von „Kinderlied“: Böhme meint damit nicht nur die Lieder, die den Kindern von Erwachsenen vorgesungen werden, sondern auch diejenigen, die die Kinder selbst singen. Sein Kindverständnis wird etwa in folgenden Worten deutlich: „Wenn man in Reimen und der Sprache der Kinder hie und da einem Ausdrucke begegnet, der uns zu natürlich erscheint und, wie man sagt, unanständig ist, so bedenke man nur: dass das Kind der Natur viel näher steht, als wir Erwachsenen“ (Böhme 1897, S. VII).

Franz Magnus Böhme, der auch an der Herausgabe der dreibändigen Sammlung „Deutscher Liederhort“ von Ludwig Erk beteiligt war, war von Beruf Lehrer und Kantor und in späteren Jahren Dozent für Kontrapunkt und Musikgeschichte am Hochschen Konservatorium in Frankfurt am Main.

 

In vielen Sammlungen des 19. Jahrhunderts wird die Kindheit idealisiert. Selten stimmten die romantischen Kindprojektionen mit dem realen Leben überein: Man denke etwa an die Fabrikarbeit von Kindern im 19. Jahrhundert, an Massenarmut und Hunger. Politische und oppositionelle Lieder, die Missstände aufzeigten, wurden in die Sammlungen nicht aufgenommen. Sie wurden bestenfalls in anonymen Flugblättern verbreitet und fanden z. B. in Polizeiberichten Erwähnung. Barbara James und Walter Moßmann haben Lieder aus der Zeit der 1848er Revolution in einer Veröffentlichung von 1983 in Erinnerung gerufen. Z. B. wird in dem mündlich überlieferten, als Dialog zwischen einem Erwachsenen und einem Kind verfassten Lied „Mamele, Mamele, gib mir Brot“ ein Ausschnitt aus der damaligen Wirklichkeit ungeschminkt dargestellt (James / Moßmann 1983, S. 36 f.).  

Öfter wurden in den Liedsammlungen des 19. Jahrhunderts die Ursprünge der Lieder in der germanischen Frühzeit gesucht. Besonders in der Zeit des Nationalsozialismus erlebten die germanenfreundlichen Deutungen und Zurückverfolgungen einzelner Liedtypen einen Höhepunkt. Es gibt sie noch in der Gegenwart. Dabei hatte sich schon um 1900 ein Forscher wie Karl Wehrhan von der These einer germanischen Kontinuität im Kinderlied distanziert (Weber-Kellermann 1997, S. 8).

 

Eine besondere Rolle unter den Sammlern und Liedverfassern des 19. Jahrhunderts spielt Heinrich Hoffmann von Fallersleben.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874)

Das „von Fallersleben“ war kein Adelstitel, sondern diesen Zusatznamen hatte Hoffmann sich selbst gegeben, und zwar nach seinem Geburtsort, wo er am 2. April 1798 zur Welt gekommen war: Fallersleben ist ein Städtchen in der Nähe von Braunschweig. Möglicherweise war diese Namensgebung auch eine Persiflage auf den Adel.

Hoffmann studierte zunächst in Göttingen, dann in Bonn und Berlin. Nach Anfängen in Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte wandte er sich dem Studium der deutschen Philologie zu. Seit 1823 lebte er in Breslau (Schlesien). Er hatte dort seit 1830 eine Professur für Germanistik – ein damals noch neues Fach, begründet von Jakob Grimm. Hoffmann hatte sich nach einer Begegnung mit Grimm dem Studium der deutschen Literatur und Sprache zugewandt. Er gehört zu den „Vätern“ der Germanistik, eines Faches, dessen Wissenschaftlichkeit damals umstritten war und das es schwer hatte, sich im Fächerkanon der Universitäten durchzusetzen.

Hoffmann beschäftigte sich nicht nur wissenschaftlich mit Sprache und Literatur, sondern er sammelte auch Volkslieder. 1841 gab er gemeinsam mit Ernst Richter die „Schlesischen Volkslieder“, eine regionale Volksliedsammlung, heraus. Er arbeitete auch längere Zeit mit Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme, den Herausgebern des „Deutschen Liederhorts“, zusammen. Hoffmann sammelte nicht nur deutsche, sondern auch ausländische (belgische und polnische) Lieder. Er folgte damit dem universalistischen Wahrnehmungshorizont Herders und ließ sich durch dessen Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“ inspirieren.

Hoffmann von Fallersleben gilt als einer der produktivsten „Liedermacher“ des 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche politische Lieder, schrieb aber auch fast vierhundert Kinderlieder, von denen viele bis in die Gegenwart ihre Popularität behaupten: „Summ, summ, summ“, „Ein Männlein steht im Walde“ „Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald“, „Alle Vögel sind schon da“, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, „Winter, ade! Scheiden tut weh“. In einigen Kinderliedern griff Hoffmann Volkslieder auf und arbeitete sie zu Kinderliedern um (Beispiele s. Vahle 1992, S. 59)

Hoffmann war politisch sehr stark interessiert. Als Burschenschafter engagierte er sich leidenschaftlich für eine Demokratisierung Deutschlands. Seinem Wunsch nach nationaler Einheit gab er u. a. im „Lied der Deutschen“ Ausdruck, das er 1841 während einer Kur auf der Insel Helgoland schrieb. Mit dem „Lied der Deutschen“ und den „Unpolitischen Liedern“ galt Hoffmann als ein oppositioneller Dichter und Staatsfeind. In vielen deutschen Staaten wurden seine Gedichte und Lieder verboten. Er verlor seine Professur 1842 und wurde des Landes verwiesen. Es begannen für ihn Jahre der Verfolgung und der Flucht. Nach einem unsteten Wanderleben verbrachte er seit 1860 seine letzten Lebensjahre als Bibliothekar des Herzogs von Ratibor in Corvey – das Schloss Corvey liegt an der Weser. Dort starb er am 19. Januar 1874.

„Für Hoffmann von Fallersleben waren die Kinderlieder ein Medium, durch das er sich in seine eigene Kindheit zurückversetzte und sie zugleich idyllisch verklären konnte. Die Kindheit war für ihn ein Zufluchtsort, ein verlorenes Paradies, dem er sich mit den Mitteln der Poesie gerade auch in seinen späteren Lebensphasen zu nähern versuchte“ (Vahle 1992, S. 55).

Hoffmanns Kinderlieder spiegeln eine „heile“ Welt wider und sprechen – anders als etwa die Kindermärchen – nur einen Teil der kindlichen Gefühlswelt an. Ausgeblendet bleibt, was die Idylle stören könnte. Dem entsprechen die Darstellungen der Natur, die zu einer harmonischen Kulisse stilisiert erscheint.

Hoffmanns Kinderlieder sind „frei von Religion, Moral und offener didaktischer Unterweisung. Sie sprechen das Kind als ein Wesen an, das nicht belehrt, sondern sich an der Welt, insbesondere der Natur erfreuen will. Die harmonisierten Naturbilder dienen der Erbauung des Kindes und der Formung und Festigung seiner Gemütskräfte“ (Vahle 1992, S. 63).

Viele Kinderlieder Hoffmanns gehören noch in der Gegenwart zum festen Bestand der Kindergärten und Schulen. Sie begründeten eine Tradition, die bis in die Gegenwart reicht.

 

Martinstag

Literatur (Auswahl)

Becker-Huberti, Manfred: Martin von Tours († 8.11.397). http://www.bistum-trier.de/kiosk/martin/

Becker-Huberti, Manfred: „Martin von Tours“. In: Lexikon der Bräuche und Feste. 300 Stichwörter mit Infos, Tipps und Hintergründen. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 2001. S. 243–259

Becker-Huberti, Manfred: Der Heilige Martin – Leben, Legenden und Bräuche. Köln: Greven, 2003

Budde, Michael: Martinslied und -brauch in Vergangenheit und Gegenwart der Gemeinde Neuss-Weckhoven. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt der Sekundarstufe I. Köln 1994 (unveröff.)

Greven, Doris: Tradition und Wandel im Martinslied und -brauchtum am Beispiel des Altstadtbereichs einer rheinischen Großstadt. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt der Sekundarstufe I. Neuss 1979 (unveröff.)

Klusen, Ernst (Hg.): Zwölf Lieder von Sankt Martin. Viersen: Privatdruck des Niederrheinischen Volksliedarchivs, 1948

Klusen, Ernst (Hg.): Lieder und Lampen. Bad Godesberg: Voggenreiter, 3. Aufl. 1955

Martinslieder. (Textergänzungen und Neufassungen von Jakob Holl und Adolf Lohmann, Neuvertonungen von Adolf Lohmann.) Freiburg i. Br.: Christophorus-Verlag Herder, 1957

Moser, Dietz-Rüdiger: Die Lichterumzüge des Martinstages und andere Bräuche am Vorabend der alten Weihnachtsfastenzeit. In: Dietz-Rüdiger Moser: Bräuche und Feste im christlichen Jahreslauf. Brauchformen der Gegenwart in kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Graz, Wien, Köln: Edition Kaleidoskop, 1993. S. 27–36

Noll, Günther: Martinsbrauch – über 1600 Jahre Heiligenverehrung. In: Wir feiern heut den Martinstag – Lieder und Instrumentalsätze zum Martinsfest und zum Martinsumzug, zusammengestellt von Eva Bruckner und Ernst Schusser. München: Bezirk Oberbayern, 2006. S. 91–127

Sauermann, Dietmar: Martinslied. In: Handbuch des Volksliedes. Bd. I: Die Gattungen des Volksliedes. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich, Wolfgang Suppan. München: Wilhelm Fink, 1973, S. 391–417

Schwedt, Herbert: St. Martin – Ein reformierter Brauch! Bräuche – Geschichte und Theorie. In: Volkskultur an Rhein und Maas. Jg. 11 , H. 1/92. S. 9–18

Weber-Kellermann, Ingeborg: Saure Wochen, frohe Feste. Fest und Alltag in der Sprache der Bräuche. München, Luzern: Bucher, 1985

Widmaier, Tobias: „Ich geh mit meiner Laterne“. In: http://www.liederlexikon.de/lieder/ich_geh_mit_meiner_laterne/

 

Der Martinstag als Festtag des Heiligen Martin von Tours ist in Mitteleuropa von zahlreichen Bräuchen geprägt, darunter das Martinsgans-Essen, der Martinszug und das Martinssingen.

Der Heilige Martin war ursprünglich ein römischer Offizier, der sich zum Christentum hingezogen fühlte und sich taufen ließ. Auf seinen Wunsch wurde er aus dem Heeresdienst entlassen, lebte danach u. a. in der Nähe von Genua als Einsiedler. Um 360 ging er nach Poitiers und gründete in der Nähe ein Kloster. Im Jahr 371 wurde er zum Bischof von Tours gewählt. Martin starb am 8. November 379. Seine Lebensgeschichte ist in einer lateinischsprachigen Handschrift von Sulpicius Severus überliefert, die – vor allem nachdem sie um 1500 gedruckt erschienen war – große Verbreitung fand.

Die mit dem Heiligen Martin verknüpfte Legende von der Mantelteilung geht auf die Biographie von Severus zurück: Martin begegnet einem nackten Bettler und gibt ihm die Hälfte seines Mantels. In der folgenden Nacht erscheint ihm Jesus Christus und teilt ihm mit, dass er der Bettler gewesen sei. Daraufhin lässt sich Martin taufen. In zahlreichen bildlichen Darstellungen reitet Martin auf einem Pferd. So versuchte man den Gegensatz zwischen Offizier und Bettler zu verschärfen und die Wohltätigkeit augenfällig herauszustellen.

Als Heiliger verehrt wurde Martin wegen seines asketischen Lebens und der ihm zugeschriebenen Wunderkraft. Im Zuge der christlichen Missionierung verbreitete sich die Martinsverehrung in zahlreichen europäischen Ländern.

Das Fest des heiligen Martin wird am 11. November (vermutlich der Tag seines Begräbnisses) gefeiert. Es wurde im Jahr 650 vom Papst Martin als kirchliches Fest etabliert. Die verschiedenen Martinsbräuche, die in diesem Kontext entstanden, haben mehrere sowohl weltliche als auch christliche Wurzeln:

Am 11. November war der Beginn des neuen Wirtschaftsjahres. Im Leben der bäuerlichen Gesellschaft bedeutete er einen wichtigen Einschnitt: Es wurde das Vieh geschlachtet, das den Winter über nicht im Stall gefüttert werden konnte und sollte, so etwa die Gänse. Der Martinstag war vielerorts ein Tag, an dem die Knechte und Mägde ihre Stellen wechselten und ihren Lohn ausgezahlt bekamen. Er markierte den Abschluss des Erntesommers, an dem die Abgaben an die Obrigkeit zu leisten waren. Seit der Zeit Karls des Großen galt Martini als Zinstag, an dem auch Kirchen und Klöster ihre Abgaben erhielten und die Pachtungen abliefen (Weber-Kellermann 1985, S. 89). Am selben Tag konnte der neue Wein probiert werden, und Pfarrer und Lehrer erhielten einen Martinstrunk. So wurde Sankt Martin auch zum Schutzpatron der Gastwirte und Weinpatron, und der Martinstag fiel oft mit Winzerfesten zusammen.

Zu einem wichtigen Symbol dieses Tages avancierte die „Martinsgans“. Mit dem Einbruch der kalten Jahreszeit wurden Gänse geschlachtet. Dieser jahreszeitlich bedingte Usus verband sich wiederum mit der Martinslegende aus dem 4. Jahrhundert, nach der sich Martin, als er zum Bischof von Tours gewählt werden sollte, in einer Scheune versteckte. Aber die Gänse vor dem Scheunentor schnatterten so laut, dass die Sendboten des Papstes ihn bald fanden. Durch die Verbindung mit den Gänsen wird Martin trotz der ihm nachgesagten asketischen Lebensweise mit üppigem Essen und Trinken in Zusammenhang gebracht.

Die christliche Tradition sieht genau genommen zwei Fastenzeiten vor. Wir verstehen heute darunter vor allem die Zeit zwischen Aschermittwoch und der Osternacht. Im Mittelalter gab es darüber hinaus eine vorweihnachtliche Fastenzeit, die nach dem 11. November, dem Martinstag, einsetzte und bis Weihnachten dauerte. Am letzten Tag vor Beginn der Fastenzeit durften die Menschen noch einmal schlemmen (z. B. beim Martinsgans-Essen). Auch der Beginn der „Session“ im rheinischen Karneval am 11. November, zu der u. a. die Vorstellung des Prinzenpaares gehört, markiert den Beginn der vorweihnachtlichen Fastenzeit – ähnlich wie der Karneval im Frühjahr die vorösterliche Fastenzeit einleitet.

Die protestantische Kirche übernahm den Martinstag, bezog ihn aber auf den Reformator Martin Luther, der am 10. November 1483 geboren wurde und dessen Namenstag auf den darauf folgenden Tag fiel. Vom Lutherland Thüringen ausgehend, verbreitete sich ein Lichterbrauch, dessen Träger die Kinder sind. Es wird angenommen, dass dieser Brauch erst im 19. Jahrhundert entstanden ist (Noll 2006, S. 99). Nach Tobias Widmaier findet sich der früheste Beleg für das „Laternegehen“ jedoch im norddeutschen Oldenburg (Widmaier, Liederlexikon, http://www.liederlexikon.de/lieder, „Ich geh mit meiner Laterne“).

Mancherorts bestehen katholische und protestantische Martinsverehrung nebeneinander, z. B. in Thüringen. Auch zu DDR-Zeiten gab es dort Martinszüge, die ab Mitte der 1960er Jahre einen ökumenischen Charakter gehabt haben sollen. Martinszüge bedurften in der DDR der Genehmigung und wurden überwacht, weil man in ihnen politische Protestveranstaltungen vermutete (Noll 2006, S. 100 f.).

Im Laufe einer langen Entwicklung entstand für den Martinstag ein vielfältiges Liedgut. Im Zeitraum zwischen 1100 bis 1600 war es Brauch der Studenten und Schüler, bei Festsessen und Trinkgelagen Martinslieder zu singen, d. h. der Name des für seine Enthaltsamkeit gerühmten Heiligen verband sich (paradoxerweise) mit Trinkliedern. Ab ca. 1450 entstanden – ähnlich wie in der Gegenwart – Martinslieder im Kontext von Bräuchen, an denen vor allem Kinder beteiligt waren. Ab 1850 schließlich folgten Lutherlieder und Umzugslieder, die sich mit Heischebräuchen verbanden.

In unserer Gegenwart begegnen uns in vielen Regionen Deutschlands Umzüge zum Martinstag, bei denen Kinder, begleitet von Erwachsenen, mit Laternen durch die Straßen der Dörfer und Städte ziehen, in ihrer Mitte ein auf einem Pferd (Schimmel) sitzender und als römischer Legionär oder Bischof verkleideter Reiter, der den Heiligen Martin darstellt. Gelegentlich wird die Schenkung des Mantels an den Bettler nachgestellt. Bei dem Umzug werden – unterstützt von einer kleinen Bläsergruppe – Martinslieder gesungen. Die Laternen werden vorher im Unterricht der Grundschulen und in Kindergärten gebastelt. Zum Abschluss gibt es häufig ein Martinsfeuer. Vielerorts erhalten die Kinder einen Weckmann aus Hefeteig mit Rosinen. In Süddeutschland sind auch Laugenbrezeln üblich.

Ähnliche Bräuche sind nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in Österreich und der Schweiz sind sie verbreitet. In Stockholm veranstaltet die deutsche Gemeinde einen Martinsumzug, und auch in den Niederlanden existiert der Brauch. Heutzutage finden die Züge mancherorts nicht unmittelbar am 11. November, sondern kurz davor oder danach statt, wenn es organisatorische Gründe erfordern.

Im Anschluss an den Martinszug wird vielerorts das Martinssingen praktiziert, bei dem die Kinder mit ihren Laternen von Haus zu Haus ziehen und mit Gesang Süßigkeiten, Gebäck, Obst und andere Gaben erbitten.

Die oben beschriebene, uns vertraute organisierte Form des Martinszuges ist bis auf ein paar frühe Ausnahmen relativ jung. Sie begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und setzte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts – vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – durch: Erst seitdem ist es üblich, dass Kinder einer Gemeinde, einer Schule oder eines Kindergartens sich versammeln und mit Laternen und in Begleitung der Eltern durch den Ort ziehen und Martinslieder singen. Die Begleitung durch einen erwachsenen Reiter, der den Heiligen Martin entweder als einen römischen Soldaten oder als Bischof darstellt, gibt es erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Wenn der Zug sein Ziel, einen Platz, Schulhof oder dgl., erreicht hat, wird dort eine kleine Gabe verteilt. Oft findet unter dem wachen Blick der Feuerwehr ein Martinsfeuer statt. Früher trugen die Kinder ausgehöhlte Steckrüben oder Kürbisse, in die Kerzen gestellt wurden. Heute sind die Papierlaternen (aus Sicherheitsgründen) meist mit einer kleinen Batterielampe versehen. In den letzten Jahren wurden bei den Martinszügen auch Figuren- und Kürbislaternen beobachtet, die den vor einigen Jahren aus den USA übernommenen Halloween-Brauch zum Vorbild haben.

Die organisierte Form des Martinszuges war eine Reaktion auf Ausschweifungen in der Vergangenheit. Gefahren stellten u. a. die brennenden Laternen und das Menschengedränge dar. Nicht selten erregte das Heischen Anstoß, oft wurde es als aufdringliche Bettelei oder ein massives Fordern empfunden. Ablehnung wurde mit Spottversen oder auch – wie Dietmar Sauermann für Westfalen berichtet – mit dem Einschlagen von Fensterscheiben quittiert. Rivalisierende Gruppen Jugendlicher sorgten oftmals für Unruhe (Schwedt 1992, S. 14). Dem Chaos begegnete man im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts mit Reglementierungen, durch die man das Fest der ästhetischen und pädagogischen Vorstellungswelt des Bürgertums anzupassen versuchte. Es kam – vergleichbar der Reform des Karnevals im Jahre 1823 – zu einer Umgestaltung des Martinsbrauches. Von nun an bestimmten und organisierten erwachsene Personen oder Institutionen die Veranstaltung – oftmals Lehrer, später auch Bürgervereine.

1867 wurde aus Dülken von geordneten Martinszügen berichtet, aber zum Vorbild wurde wohl vor allem das Düsseldorfer Beispiel einer Domestizierung des Festes aus der Zeit um 1890. Es beeinflusste in den folgenden Jahren vielerorts die Martinszüge (Schwedt 1992, S. 15), und es kam zu einer „unglaublichen Expansion“ solcher Veranstaltungen (Schwedt 1992, S. 16). „In den Mittelpunkt des Festes trat mit der Neuordnung der geordnete (und damit kontrollierbare) Umzug der Laternen tragenden und singenden Kinder. Zugordner und Musikkapellen wurden aufgeboten, die alten, manchmal derben, meist in Mundart gesungenen Lieder ganz gezielt durch neue ersetzt“ (Schwedt 1992, S. 15). Auch der Heilige Martin, dessen frommes Leben zuvor anscheinend etwas in Vergessenheit geraten war, wurde stärker herausgestellt, auch ihm wurde eine pädagogische Bedeutung zuteil. In diesem neuen Kontext wurde er – entweder in Gestalt eines römischen Legionärs oder eines Bischofs – fester Bestandteil der Umzüge (Schwedt 1992, S. 15). Aus dem Brauch der Kinder und Jugendlichen war nun einer geworden, der für sie veranstaltet wird.

Bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges verbreiteten sich organisierte Martinszüge über das ganze Rheinland. Während des Krieges waren sie verboten, um nach 1945 über das Rheinland hinaus einen neuen Aufschwung zu erleben. Durch die Flüchtlingsströme der Nachkriegsjahre, die dadurch bedingten sozialen, religiösen und kulturellen Verschiebungen sowie die wirtschaftlich bedingte Migration im Zuge des Aufbaus neuer Industriezweige ergaben sich starke Veränderungen, so etwa die Vermischung regional unterschiedlicher Ausprägungen. Mancherorts, z. B. in einigen bayerischen Regionen, wurden Martinsbräuche erstmals in den 1960/70er Jahren etabliert (Bruckner / Schusser 2006, S. 115).

Es gab auch Bemühungen, das überlieferte Liedrepertoire zu erweitern. So veranstaltete Ernst Klusen, damals Leiter des Niederrheinischen Volksliedarchivs in Viersen, 1948 ein Preisausschreiben, um dem Mangel an Liedern abzuhelfen. Es gab 126 Einsendungen aus ganz Deutschland. Davon wurde ein Dutzend ausgewählt und im selben Jahr unter dem Titel „Zwölf Lieder von Sankt Martin“ veröffentlicht, von denen einige populär wurden (z. B. „All die Puute senn op Trab“; s. Noll 2006, S. 105 f.).

Über die Verbreitung und verschiedenen Ausprägungen des Martinsbrauchs gibt der „Atlas der deutschen Volkskunde“ Aufschluss – mit der Einschränkung, dass er nur die 1930er Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg erfasst (s. Noll 2006, S. 107 f.).

In der Gegenwart – so Noll – gebe es starke Tendenzen, „einerseits die tradierten Abläufe des Brauchs beizubehalten bzw. wieder zu revitalisieren, [...] sie aber andererseits sogleich mit sozialen Aktionen zu verbinden“ (Noll 2006, S. 110). Der karitative Charakter des Martinsfestes ist jedoch nicht eigentlich ein Novum, sondern er ist – wie u. a. die Legende von der Mantelteilung zeigt – tief in dessen Tradition von christlicher Nächstenliebe verankert.

 

Advent, Nikolaus, Weihnachten

Literatur (Auswahl)

„Advent“. In: Wikipedia. Stand: 7. Dezember 2007

Becker-Huberti, Manfred: Lexikon der Bräuche und Feste. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 2000

Faber, Richard / Gajek, Esther (Hg.): Politische Weihnacht in Antike und Moderne. Zur ideologischen Durchdringung des Fests der Feste. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997

Metzger, Wolfram / Tremmel-Endres, Jutta (Hg.): Bäume leuchtend, Bäume blendend... Historischer Christbaumschmuck. Karlsruhe 1996

Weber-Kellermann , Ingeborg (Hg.): Das Buch der Kinderlieder. 235 alte und neue Lieder. Kulturgeschichte, Noten, Texte, Bilder. Mainz u. a.: Schott, 1997

Weber-Kellermann , Ingeborg (Hg.): Das Buch der Weihnachtslieder. 151 deutsche Advents- und Weihnachtslieder. Kulturgeschichte, Noten, Texte. Mainz: Schott, 1982

Weber-Kellermann, Ingeborg: Saure Wochen – Frohe Feste. Fest und Alltag in der Sprache der Bräuche. München, Luzern: Verlag C. J. Bucher, 1985

Weber-Kellermann, Ingeborg: Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit. Luzern, Frankfurt / Main, 1978

 

Advent

Ursprünglich entsprach der Begriff Advent dem griechischen Begriff epiphaneia (Erscheinung, Epiphanias) und bedeutet die Ankunft, Anwesenheit, den Besuch von Amtsträgern wie Königen oder Kaisern, aber auch der Gottheit im Tempel. Dieses Wort übertrugen die Christen auf die Ankunft Jesu Christi.

Die Adventszeit war ursprünglich eine Fastenzeit, die die Alte Kirche auf die Zeit vom Tag nach Martini bis zu dem ursprünglichen Weihnachtstermin, dem Erscheinungsfest am 6. Januar, festlegte. In der römischen Kirche des Westens gab es zunächst zwischen 4 und 6 Adventssonntage, bis Papst Gregor der Große (590–604) vier Adventssonntage festlegte; die rechtsverbindliche Regelung erfolgte erst 1570 durch Papst Pius V. Der erste Advent ist am Sonntag zwischen dem 27. November und dem 3. Dezember. Mit dem ersten Sonntag im Advent beginnt in den katholischen und evangelischen Kirchen das neue Kirchenjahr. Die Adventszeit endet am Heiligen Abend mit dem Sonnenuntergang.

Die uns bekannten Adventsbräuche entstanden seit dem 19. Jahrhundert. Insbesondere für Kinder gibt es seit 1908 (durch Gerhard Lang und seinen diesbezüglichen Auftrag an die Lithographische Anstalt Reichhold & Lang) gedruckte Adventskalender verschiedenster Ausprägung, seit 1920 mit zu öffnenden Türchen, meist 24, von denen vom 1. bis zum 24. Dezember jeweils eines geöffnet wird. Weniger verbreitet sind Kalender, die den gesamten Zeitraum des Advents – vom ersten Adventssonntag bis Weihnachten – abdecken. Papierwaren- und Schokoladenhandel profitierten zunehmend von der Herstellung und dem Verkauf von Adventskalendern.

Der Adventskranz knüpft an ältere Bräuche an, die vegetationsarme winterliche Zeit durch immergrüne Zweige zu beleben. Er ist dennoch ein relativ neues Produkt bürgerlicher Familienbräuche.

„Erfunden“ wurde er im protestantischen Norddeutschland von dem evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern (1808–1881). Als Sonntagsschullehrer hatte Wichern die Not im Armenviertel der Hamburger Vorstadt St. Georg kennengelernt. Die Menschen – besonders die Kinder – lebten hier unter schlimmsten sozialen und hygienischen Bedingungen. Wichern wollte diesen Kindern helfen, indem er sie aus den städtischen Elendsverhältnissen herausführte. Er gründete das „Rauhe Haus“, in dem er sie aufnahm. Im Betsaal dieses Hauses ließ er 1839 zum ersten Mal einen hölzernen Leuchter mit Kerzen aufhängen. In einem Berliner Waisenhaus, wo Wichern später tätig war, wurde der Kronleuchter durch einen Tannenkranz ersetzt.

Besonders nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine schnelle Verbreitung des Adventskranzes vor allem in der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht ein, von wo aus er allmählich auch andere Bevölkerungsschichten erreichte. Zunehmend zeigten sich Gärtnereien an der Adventskranz-Mode interessiert.

„Die unruhevollen Mittwinternächte, erfüllt mit so vielerlei Gestalten und den sie begleitenden Bräuchen, wurden von der Kirche nach und nach ins Positive entdämonisiert und umgedeutet in eine klare Zeit der Erwartung, der Vorbereitung auf die Ankunft des göttlichen Lichtes. Das ist der Sinn der vier Adventswochen vor Weihnachten, bereits eingeführt auf der Kirchenversammlung von Aachen 826. All die üppig wuchernden Brauch- und Glaubensformen in den verschiedenen Schichten der Bevölkerung sollten damit zusammengefasst und auf das neugeborene Kind als göttlichen Lichtbringer umgeschaltet werden“ (Weber-Kellermann 1978, S. 42).

 

Nikolaus

In der Nikolaus-Gestalt wurden zwei Legenden miteinander verknüpft: die des Bischofs Nikolaus von Myra in Kleinasien aus dem 4. Jahrhundert und die des Abtes Nikolaus von Sion, Bischof von Pinora, der 564 starb. Die erste Legende erzählt, wie Nikolaus von Myra die drei Töchter eines verarmten, frommen Edelmannes auf wunderbare Weise für ihre Hochzeit ausstattete. Eine Legende aus Nordfrankreich hatte den folgenden Inhalt: Drei junge Kleriker oder Scholaren kamen eines Abends auf ihrer Wanderschaft zu einem Metzger und baten um Obdach. Sie wurden freundlich aufgenommen und bewirtet. Zu Mitternacht jedoch erschlug sie der Metzger und pökelte sie in einem Salzfass ein. Bald danach kam Sankt Nikolaus desselben Weges und bat den Metzger um Herberge und Nachtmahl. Als ihm Salzfleisch angeboten wurde, erkannte er sofort dessen Herkunft. Durch seinen Segen erweckte er die Knaben wieder zum Leben. 

Die frühesten Belege für einen Nikolaus-Kult stammen aus den romanischen Ländern aus der Zeit zwischen 1000 und 1200 und erreichten von dort aus im Mittelalter Deutschland. Das Erscheinungsbild des Nikolaus war bzw. ist regional unterschiedlich. Es knüpfte an eine Fülle verschiedener traditioneller Vorstellungen und Aktivitäten an.

Als Bischof im kirchlichen Ornat mit Mitra und Bischofsstab tritt er in Frankreich und im Westen und Süden Deutschlands auf. In einer anderen Version erscheint Nikolaus als ein großväterlicher, kinderfreundlicher Mann mit wallendem Bart, bekleidet mit einem langen Mantel, Pelzmütze oder Kapuze. Manche Nikolaus-Gestalten spenden Gaben, andere drohen mit der Rute. Es gibt verschiedene Verkleidungen, durch die vor allem Kinder erschreckt werden sollen. Manchmal hat Nikolaus Begleiter. Hans Muff läuft in linksrheinischen Gebieten von Duisburg bis ins Saarland in zottiger Kleidung und mit schwarzem Gesicht herum; der Klaubauf geht in Bayern um, der Crampus in Österreich. In einigen Ausprägungen des Brauches haben sich die Funktionen von Nikolaus gespalten: Der Bischof schenkt, und sein Begleiter straft. Der bekannteste Nikolaus-Begleiter ist Knecht Ruprecht, der als wilde, ungehobelte Gestalt und negative Kontrastfigur zu Nikolaus erscheint (Abbildungen siehe Weber-Kellermann 1978, S. 29 ff.).

Viele der Nikolaus-Bräuche zeigen, dass die vorweihnachtliche Zeit häufig in den Dienst der Erziehung gestellt wurde. Durch sie wollten die Eltern das kindliche Wohlverhalten fördern bzw. erzwingen.

 

Weihnachten

Zu der Entstehung und den Ursprüngen des Weihnachtsfestes:

Das Geburtsdatum Jesu wird im Neuen Testament nicht genannt und war den Urchristen unbekannt. Doch bereits im 2. Jahrhundert ist ein wachsendes Interesse daran feststellbar. Papst Liberius in Rom legte im Jahr 354 die Feier des Weihnachtsfestes auf den 25. Dezember fest.

Unser heutiges Weihnachtsfest entfaltete sich in mehreren Schritten. Wichtige Impulse gab es in Rom als einem der Zentren des frühen Christentums. Im Jahr 274 wurde im römischen Reich der 25. Dezember festgesetzt für einen heidnischen Sonnenkult. Dieses Fest sollte durch eine christliche Feier wirkungsvoll bekämpft werden. Damals dominierte im römischen Reich der Mithras-Kult. Er war aus Asien nach Rom gelangt und verbreitete sich durch die Eroberungszüge des römischen Reiches rasch, um Staatsreligion zu werden. Der 25. Dezember als Geburtstag des Sonnengottes wurde mit Tempelfeiern, Zirkusrennen und Jubelfesten für alle Bevölkerungsschichten ausgiebig gefeiert. Erst allmählich gelang die Christianisierung dieses Tages. Um 330 unter Kaiser Konstantin wurde der Sonnengott umfunktioniert zum Christengott. Nun setzte sich das Christentum als römische Staatsreligion durch.

„Die Datierung des Christgeburtsfestes ist also eine religionspolitische Setzung, erwachsen aus dem Bemühen der Vertreter der christlichen Kirche, die heidnischen Geistesströmungen innerhalb des römischen Reiches abzulösen, aufzufangen und umzuschalten“ (Weber-Kellermann 1978, S. 13). Die Christianisierung knüpfte an vorhandene Bräuche an und führte daher nicht zu einem Verlöschen nichtchristlicher Brauch- und Glaubenselemente.

Auch andernorts gab es frühe Zeugnisse für Weihnachtsfeiern: z. B. um 300 in Ägypten, ca. 360 in Nordafrika, 380 in Spanien (Becker-Huberti 2000, S. 419).

Im 8. Jahrhundert wurde Germanien durch Bonifatius missioniert. Im deutschen Sprachraum wurde 813 durch die Mainzer Synode die Christgeburtsfeier zum allgemeinen kirchlichen Feiertag erklärt. In den folgenden Jahrhunderten trugen Krippenspiele und bildliche Darstellungen zur Popularisierung des Festes bei. Dennoch erlangte es erst im 14. Jahrhundert eine Verbreitung, die über die kirchliche Bindung hinausging.

Bedeutsam ist die Verbürgerlichung der Weihnachtsbräuche im 19. Jahrhundert. „Das Bürgertum mit dem Genuß behaglicher Häuslichkeit und intimen Familiensinnes hat die Formen unseres heutigen Weihnachtsfestes lebendig gestaltet. Es war dieses Bürgertum als führende Sozialschicht des beginnenden industriellen 19. Jahrhunderts, in dessen Schoß das Familienweihnachten aufblühte..., in dem sich weltweit die uns heute bekannten Weihnachtsfestmotive ausgeformt haben“ (Weber-Kellermann 1978, S. 45).

Lied und Spiel

Die früheste Überlieferung von Weihnachtsliedern stammt aus dem Mittelalter und sind in lateinischer Sprache oder als halblateinische Mischtexte verfasst. Sie wurden in der Mitternachtsmesse als Teil der Liturgie gesungen.

Die Weihnachtsfeier war anfänglich ein Fest der Gemeinde in der Kirche. Die häusliche Feier beschränkte sich auf ein mehr oder weniger üppiges Mahl, auf Mildtätigkeit gegen die Armen und Maulgaben an das Vieh. Ob und was dabei gesungen wurde, ist kaum überliefert. Die Ausformung zu einem familiären Fest erfolgte erst später.

Gesänge gab es innerhalb der Krippenspiele, die das Weihnachtsgeschehen darzustellen versuchten. Neuerungen brachte Martin Luther mit seinen deutschsprachigen Kirchenliedern. Sie erleichterten der Gemeinde das Mitsingen. Luthers Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ gehört bis heute zu den Höhepunkten der evangelischen Weihnachtsliturgie. Mit der Reformation setzte eine Popularisierung der Weihnachtslieder ein., die vor allem in den Städten Eingang in die familiären Hausandachten fanden.

Verbreitet war auch das Kurrendesingen. Eine Kurrende (lateinisch currere = „laufen“, also „Laufchor“) war ursprünglich ein aus bedürftigen Schülern bestehender Chor an protestantischen Schulen, der unter der Leitung eines älteren Schülers (des Präfekten) von Haus zu Haus zog oder bei Festen (z. B. Hochzeiten, Beerdigungen) für Geld sang.

Eine weitere Aufgabe von Kurrenden war der so genannte Quempas, eine Abfolge von weihnachtlichen Gesängen im Gottesdienst. Der Quempas ist eine Zusammenstellung von zwei lateinischen Weihnachtsliedern, nämlich „Quem pastores laudavere“ und „Nunc angelorum gloria“, zu denen meist eine Erweiterung („Tropus“) oder ein Refrain tritt. Die ältesten Quellen stammen aus dem 15. Jahrhundert; die einzelnen Lieder dürften älter sein, ebenso wohl auch der Brauch, dass in weihnachtlichen Gottesdiensten (Christmette, Christvesper oder Messe am Weihnachtstag) das erste Lied (manchmal auch das zweite) zeilenweise im Wechsel durch Schüler (solistisch und einstimmig) oder Schülerchöre (auch mehrstimmig) gesungen wurde, die in allen vier Ecken der Kirche aufgestellt waren („Der Quempas geht um.“). Seit dem 16. Jahrhundert sind deutsche Fassungen belegt. Der Brauch des Quempas-Singens schloss außer der ursprünglichen Liedkombination auch weitere Lieder ein und war an vielen Orten ein fester Bestandteil des Weihnachtsbrauchtums, sowohl im Gottesdienst als auch auf Straßen und Plätzen. Das Quempas-Singen in oft stundenlangen Gottesdiensten artete vielfach in groben Unfug und Tumulte aus, so dass es zu obrigkeitlichen Verboten kam.

Im Mittelpunkt der heutigen kirchlichen wie familiären Weihnachtsfeiern stehen später entstandene Lieder, vor allem das Liedgut des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, z. B. „Stille Nacht“, „Ihr Kinderlein kommet“, „O du fröhliche“, „Süßer die Glocken nie klingen“.

Das bürgerliche Musizieren erlebte seit dem 18. Jahrhundert einen Aufschwung und löste allmählich die kulturelle Dominanz des Adels ab. Die Serienfabrikation des Klaviers zu Anfang des 19. Jahrhunderts bewirkte ein Ansteigen populärer Musikliteratur für eine ständig wachsende Zahl „musiktreibender Damen und höherer Töchter, und das Weihnachtsliederpotpourri gehörte bald zu jenen Piècen, die vom Herbst an geübt wurden, um am Heiligen Abend den Höhepunkt des familiären Festablaufes zu bilden“ (Weber-Kellermann 1978, S. 51). Neben die kirchlichen Weihnachtsfeiern traten nun die weihnachtlichen Familienfeste. In diesem Zusammenhang entstand auch eine Vielzahl stimmungsvoller Weihnachtslieder.

Einen Mittelpunkt des Weihnachtsfestes bildet das Schenken. Weihnachten und Kommerz waren schon lange miteinander verbunden auf den Weihnachtsmärkten, die meist auf einem Platz vor einer Kirche stattfanden. Für Gesinde und Dienstmädchen war Weihnachten Zahlzeit und daher einer der wenigen Termine, zu denen sie ein wenig Bargeld besaßen. Verkauft wurden auf den Weihnachtsmärkten sowohl praktische Gegenstände des täglichen Bedarfs, z. B. Töpfer- und Böttcherwaren, als auch Spielzeug und Süßigkeiten.

Etwa seit dem 16. Jahrhundert wurden vor allem die Kinder beschenkt. Doch erst in der Biedermeierzeit entwickelte sich der Heilige Abend zum Bescherfest für Kinder. Weihnachtsmann und Christkind fungierten in diesem Ritual – stellvertretend für Eltern, Großeltern, Paten u. a. – als geheimnisvolle, übernatürliche Gabenspender. Als Gegengabe erwarteten sie von den Kindern Wohlverhalten und Artigkeit; d. h. Weihnachten diente auch als pädagogisches Druckmittel. Das Christkind wurde in protestantischen Regionen zunächst als Ersatz für die männliche Nikolaus-Gestalt kreiert. Luther hatte versucht, den Kirchenheiligen Sankt Nikolaus zurückzudrängen und durch den „Heiligen Christ“ zu ersetzen; aus letzterem ging die Gestalt des Christkindes hervor. Es ist nicht identisch mit dem neugeborenen Jesuskind in der Krippe, sondern hat seinen Ursprung eher in den Engelgestalten um Maria, Joseph und das Jesuskind (Weber-Kellermann 1978, S. 98). Der Weihnachtsmann ist eine Umformung des Nikolaus und des Ruprecht. „Pelzrock und Stiefel entlieh er dem Knecht Ruprecht und entfärbte sie aller Dämonie; mit seinem wallenden Glitzerbart passte er sich den kindlichen Gottvater-Vorstellungen an. Die ihn auszeichnende schenkende Funktion hat ihr Vorbild in der Nikolaus-Legende“ (Weber-Kellermann 1978, S. 100).

Die Ausformung des Heiligen Abends als Geschenkfeier führte zu unterschiedlichen Ausprägungen. Der Termin für die Kinderbescherung ist regional und historisch unterschiedlich: Bei uns ist am Vorabend zum ersten Weihnachtsfeiertag, dem Heiligen Abend, Bescherung; in manchen Ländern erfolgt sie erst am Morgen des 25. Dezember. Eine wichtige Voraussetzung für die Schenkkultur war im 19. Jahrhundert die Entwicklung des Bürgertums zur führenden Sozialschicht. „Im Schoß der Bürgerfamilie wuchs der Eigenbereich des Kindes, entfaltete sich ein innig ausgestalteter Lebenskreis um die Mutter als Zentrum bürgerlicher Häuslichkeit. Spielzimmer und Spielmöglichkeit, aber auch Spielverständnis seitens der Eltern verwandelten die Jahresfeiern zu Familienfesten mit dem vornehmlichen Sinn, den Kindern Spielzeug zu schenken. So kam es, dass der Bedarf an Spielzeug und sein Formbestand gerade mit dem aufblühenden 19. Jahrhundert einen großen Zuwachs erhielt, der zu einer langanhaltenden Konjunktur für den Spielzeughandel führte“ (Weber-Kellermann 1978, S. 95). Das betraf allerdings nur die sozialen Schichten vom mittleren Bürgertum aufwärts. Arbeiterkinder etwa kannten lange Zeit weder das Christkind bzw. den Weihnachtsmann noch Weihnachtsgeschenke.

Ein wichtiges Requisit bei Weihnachtsfeiern ist der Weihnachtsbaum. Auch er erhielt seine uns bekannte Gestalt als Symbol der bürgerlichen Kleinfamilie. Gewisse Vorläufer hatte er in ländlichen Bräuchen: u. a. wurde oft der Jahreswechsel gefeiert, indem Häuser mit grünen Zweigen geschmückt wurden. Grünschmuck diente dabei auch – wie etwa kirchliche Verbote belegen – der Abwehr von Gefahren. Grüne Zweige in der Mittwinterzeit hatten auf dem Lande seit langem eine lebendige Funktion, aber eine direkte Kontinuität zum Weihnachtsbaum gibt es nicht.

Die frühesten Belege für einen Weihnachtsbaum – einen geschmückten Tannenbaum im Innern des Hauses – entstammen den Festbräuchen der städtischen Handwerkerzünfte im 16. Jahrhundert. Kerzen trugen diese Bäume noch nicht. Allmählich wurde dieser Brauch in die Privathäuser übernommen, zunächst nur in den Städten. Hohe Beamte und wohlhabende Bürger übernahmen und pflegten die neue Mode.

Neben die bürgerliche Handwerkerwelt trat eine weitere soziale Schicht als Träger weihnachtlicher Baumbräuche ins Blickfeld: die europäische Aristokratie. Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts pflegten sie in Deutschland wie auch in anderen Ländern vor allem Aristokratie und Großbürgertum. Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich weihnachtliche Baumbräuche auch in Amerika und anderen überseeischen Gebieten.

Zunächst gab es außer immergrünen Bäumen u. a. Lichterpyramiden, bei denen an einem Baumstamm Querstangen oder Holzreifen befestigt waren, auf die Kerzen aufgesteckt wurden. Mancherorts existierten verschiedene Ausformungen nebeneinander, „unterschieden nach reich und arm, aber auch nach Moden und ethnischen Charakteristika“ (Weber-Kellermann 1978, S. 112).

„Eine allgemeinere Verbreitung des Weihnachtsbaumes als ‚echt deutsches‘ Festsymbol brachte zuerst der deutsch-französische Krieg 1870/71. Am Heiligabend dieses Kriegswinters waren auf Wunsch der aristokratischen Heerführer in den Lazaretten, Quartieren und Unterständen Weihnachtsbäume entzündet worden, in deren Kerzenschein eine Fülle von Emotionen schimmerten. Heimweh und Familiengefühl, Friedenssehnsucht und nationaler Stolz, ja: deutscher Chauvinismus, das alles waberte nun im weihnachtlichen Lichterglanz. Und die heimgekehrten Sieger sorgten dafür, dass bald in jedem deutschen Haus ebenso ein Weihnachtsbaum erstrahlte wie im Schloß des Kaisers. So wurde er in jener Zeit eine Art von Symbol für deutschen Sieg und Frieden, für deutsches Wesen, verbunden mit der bürgerlichen Utopie von einer heilen Welt“ (Weber-Kellermann 1978, S. 118).

Die Inanspruchnahme des Weihnachtsbaumes für deutschnationale Ideologie setzte sich in der Folgezeit fort. Eine Verbindung von Weihnachtsschmuck und nationalen Emblemen nahmen aber auch die Skandinavier und Engländer vor. Nach dem Ersten Weltkrieg blieb der Weihnachtsbaum für die deutschen Familien der Mittelpunkt des Heiligen Abends; er war nun eng mit dem Bewusstsein von Weihnachten verbunden.

Die Sitte, Weihnachtsbäume außerhalb der Privatsphäre an öffentlichen Plätzen der Städte aufzustellen, kam nach dem Ersten Weltkrieg in den USA auf. Auch die Armen, die sich keinen Baum leisten konnten, sollten an der Advents- und Weihnachtsstimmung teilhaben. „Nun strahlte der Straßenweihnachtsbaum auch in Deutschland (erstmals 1924 in Weimar) als sentimentales Zeichen für Nächstenliebe und soziales Festverständnis in der Zeit der großen Arbeitslosigkeit auf den Plätzen der Großstädte. Die Mode der elektrischen Kerzen lieferten die Amerikaner praktischerweise gleich mit“ (Weber-Kellermann 1978, S. 128).

Inzwischen ist der Weihnachtsbaum längst nicht mehr nur Requisit familiärer Weihnachtsfeiern. Man findet ihn in Kaufhäusern, an Tankstellen, auf Balkonen, in Gärten etc. etc.

 

Der politische Missbrauch von Kinderliedern

Literatur (Auswahl)

Freitag, Thomas: Kinderlied – Von der Vielfalt einer musikalischen Liedgattung. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001

Lemmermann, Heinz: Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890–1918. 2 Bde. Lilienthal / Bremen 1984

Noll, Günther: Kinderlied und Kinderliedsingen im Missbrauch politischer Macht. In: Musikalische Volkskultur und die politische Macht. Tagungsbericht Weimar 1992 der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. Hg. von Günther Noll. Essen 1994. S. 213–235

Noll, Günther: Neue Kinderlied-Produktionen in ihrer Präsentation durch elektronische Medien – anhand ausgewählter Beispiele aus der DDR. In: Musikalische Volkskultur und elektronische Medien. Tagungsbericht Köln 2004 der Kommission zur Erforschung musikalischer Volkskulturen in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. Hg. v. Gisela Probst-Effah. Osnabrück: epOs, 2006. S. 183–255

Vahle, Fredrik: Kinderlied. Erkundungen zu einer frühen Form der Poesie im Menschenleben. München, Basel: Beltz, 1992

 

Kinder wurden zu allen Zeiten mit den Themen Krieg und Militarismus konfrontiert; dies spiegelt sich auch in zahlreichen Kinderliedern. Durch ihre Wehrlosigkeit gehörten sie zu den in Kriegen am schlimmsten betroffenen Bevölkerungskreisen. Dennoch wurde – auch mithilfe von Liedern – versucht, in Kindern – vor allem den männlichen – Begeisterung für Krieg und Militär zu wecken. Zahlreiche Kinderlieder vom Soldatentod oder auch von schmucken Soldatenuniformen zeugen davon.

 

Kriegskinderlieder im 17. und 18. Jahrhundert

Frühe Zeugnisse von Kriegskinderliedern stammen aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ein Beispiel ist „Bet Kindlein, bet!“:

Bet, Kindlein, bet!
Morgen kommt der Schwed,
morgen kommt der Oxenstern,
wird die Kinder beten lehrn.
Bet Kindlein, bet!

Dieses Lied, das in zahlreichen Varianten überliefert ist, bezieht sich auf die Rolle des schwedischen Königs Gustav II. Adolf im Dreißigjährigen Krieg. Der König war am 4. Juli 1630 auf der Ostseeinsel Usedom mit 13 000 Reitern gelandet, um sich in den bereits seit zwölf Jahren tobenden Krieg zwischen dem katholischen Kaiser Ferdinand II. und seinen rebellischen evangelischen Fürsten einzumischen. Mit der Schreckensgestalt „Oxenstern“ meinte der Liedtext den schwedischen Reichskanzler Axel Oxenstierna, der allerdings in Schweden geblieben war und gar nicht unmittelbar an Gustav Adolfs Feldzug teilnahm.

1774 textete Friedrich Leopold Graf zu Stollberg das „Lied eines deutschen Knaben“, das von Adam Wilhelm Erk vertont wurde (s. Freitag 2001, S. 207 f.); von seinen insgesamt fünf Strophen lauten die Strophen 1 und 2:

Mein Arm wird stark und groß mein Mut;

gib, Vater, mir ein Schwert;

verachte nicht mein junges Blut:

ich bin der Väter wert!

Schon früh in meiner Kindheit war

mein täglich Spiel der Krieg;

im Bette träumt’ ich nur Gefahr

und Wunden nur und Sieg.

(zitiert nach Freitag 2001, S. 208)

In militärische Kinderlieder projizieren Erwachsene ihre Vorstellungen. Vor allem repressive Herrschaftssysteme setzen sie als Zwangsmittel und Mittel der Disziplinierung ein.

 

19. Jahrhundert und Kaiserzeit

Verklärende, verharmlosende und den Krieg als Kinderspiel verniedlichende Darstellungen des Soldatenlebens in Liedern richteten sich vor allem an die Jungen und dienten deren geschlechtsspezifischer Sozialisation. Die „Bestimmung“ der Mädchen bzw. Frauen war es hingegen, Krieger zu gebären.

Kriegskinderlieder und soldatische Gesänge schrieb im 19. Jahrhundert u. a. der Lehrer Friedrich Güll (1812–1879), der ansonsten durch zahlreiche unpolitische Kinderlieder bekannt war, die besonders gern die sprachliche Form des Diminutivs benutzen (z. B. das „Büblein auf dem Eis“; Diminutive waren bzw. sind ein Stilmerkmal des Kinderliedes; sie schrumpfen die reale Welt auf ein Miniaturformat). Güll nahm militärische Begriffe ins Vokabular von Kinderliedern auf.

Büblein, wirst du ein Rekrut

(Friedrich Güll, 1836)

 

Büblein, wirst du ein Rekrut,

Merk’ dir dieses Liedchen gut.

 

Wer will unter die Soldaten,

Der muss haben ein Gewehr,

Das muss er mit Pulver laden

Und mit einer Kugel schwer.

 

Der muss an der rechten Seiten

Einen scharfen Säbel han,

Dass er, wenn die Feinde streiten,

Schießen und auch fechten kann.

 

Einen Gaul zum Galoppieren,

Und von Silber auch zwei Sporn’,

Zaum und Zügel zum Regieren,

Wenn er Sprünge macht im Zorn.

 

Einen Schnurrbart an der Nasen,

Auf dem Kopfe einen Helm. –

Sonst, wenn die Trompeter blasen,

Ist er nur ein armer Schelm.

(zit. nach Freitag 2001, S. 217 f.)

 

Die Wirkung kriegerischer Lieder wurde in anderen Bereichen verstärkt. So entstand beispielsweise damals ein Markt für militärisches Spielzeug.

Die Geschichte des deutschen Kinderliedes zeigt, wie sehr Lied und Singen in den Dienst politischer Macht gestellt wurden. Wesentlich daran beteiligt war das schulische Singen, das die Möglichkeit „der Gleichschaltung durch chorisches Singen“ (Freitag 2001, S. 225) nutzte.

Zahlreiche Beispiele für den politischen Missbrauch des Kinderliedes finden sich im deutschen Kaiserreich. Damals wurden besondere Feiertage eingerichtet und mit chauvinistischem Liedgut ausstaffiert: so der Sedantag im Gedenken an den 2. September 1870, als die französische Armee die entscheidende Niederlage gegen Deutschland erlitt, oder Kaisers Geburtstag am 27. Januar.

Die nationalistische und militaristische Propaganda war an alle Bevölkerungsgruppen gerichtet; besonders problematisch war jedoch die Wirkung auf Kinder und Jugendliche. Gegenüber dem offiziell geförderten Liedgut konnten antimilitaristische, oppositionelle und humanistische Lieder nur auf Flugblättern oder auf mündlichem Wege verbreitet werden.

In der Politik des Kaiserreichs sieht Heinz Lemmermann wesentliche Voraussetzungen für die Rolle Deutschlands in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts (Lemmermann 1984). Die Schulliederbücher der Kaiserzeit enthalten zahlreiche „vaterländische Lieder“, die den Krieg verherrlichen. Ihr Anteil am Repertoire nahm ständig zu.

Besonders in der Regierungszeit Wilhelms II. (1888–1918) stand die „vaterländische Erziehung“ ganz im Dienst der Herrschaftssicherung nach innen und deutscher Großmacht-Ambitionen nach außen. Die junge Generation wurde so programmiert, dass sie politische Veränderungen ablehnte und vor allem gegenüber „gottlosem“ und „vaterlandslosem“ sozialistischem und sozialdemokratischem Gedankengut immun war. Es wurde suggeriert, Gerechtigkeit und Sicherheit seien nur durch die herrschende Monarchie garantiert.

Gehorsam und Unterordnung wurden in der Schule durch militärischen Drill und eine Kommandosprache erzwungen. Es wurden Kriegsspiele veranstaltet, die der physischen und psychischen Vorbereitung der Schüler auf den Krieg dienten. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehörten sie mehr und mehr zum Standardrepertoire der deutschen Schulerziehung, ja sogar der Kindergärten. So sollten Marschieren und Exerzieren früh eingeübt und kriegerische Inhalte verinnerlicht werden. In einem im Dokumentationsband der Publikation von Lemmermann veröffentlichten Beispiel mit dem Titel „Der kleine Soldat“ (Lemmermann 1984, Bd. 2, Dokument 32) marschiert der dreijährige Hans zum Entzücken der Mutter mit geschultertem Holzgewehr hinter den Größeren her und singt die „Wacht am Rhein“. Die Kinderliteratur suggerierte, es sei der sehnlichste Wunsch der (vor allem männlichen) Kinder und Jugendlichen, eine Waffe zu tragen und Krieg zu führen. Soldatenlieder, die den Krieg und seine Folgen kritisierten, erschienen in keinem Schulliederbuch.

Lieder galten durch ihren emotionalen Gehalt und ihre Wirkung auf der Gefühlsebene als ein zur Indoktrination besonders geeignetes Mittel. Das Singen – ganz besonders das gemeinschaftliche Singen – vermögen die unkritische Aneignung von Textinhalten zu fördern, dies um so mehr, als die Schule das mechanische Auswendiglernen und nicht das Textverständnis in den Mittelpunkt stellte. Kaiser Wilhelm II. schätzte die Funktion des Gesangs für die emotionale Verankerung seiner Herrschaft hoch ein. Unter ihm wurde eine preußische Volksliedkommission gebildet, die eine Chorliedersammlung zusammenstellte und 1906 als „Volksliederbuch für Männerchor“ erschien (Leitung der Kommission: R. von Liliencron); 1915 folgte der Band für gemischten Chor (Leitung der Kommission: Max Friedlaender). Beide Bände wurden als sog. „Kaiserliederbücher“ bekannt und hatten als Standardwerke eine nachhaltige Wirkung.

Nach der Reichsgründung 1871 und insbesondere in der Wilhelminischen Ära nach 1888 gab es eine rapide Zunahme patriotischer Schulveranstaltungen. Wichtige Anlässe waren außer Kaisers Geburtstag (27. Januar) und dem Sedantag (Sieg bei Sedan im deutsch-französischen Krieg am 2. September 1870) das Gedenken an verschiedene Schlachten, die Geburts- und Todestage Wilhelms I. und Friedrichs III. u. a.

Bei den patriotischen Feiern wurde der Herrscher und glorreicher kriegerischer Ereignisse gedacht. Ein wesentlicher Teil des schulischen Musikunterrichts diente ihrer Vorbereitung. Den Kern bildeten Deklamationen, Lieder (meist aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon), Kantaten und Instrumentalstücke, besonders Märsche, sowie die Ansprache des Direktors, eines Lehrers oder Schülers. Zu den Sedanfeiern gehörte fast immer das Absingen von „Deutschland, Deutschland über alles“. Zur organisatorischen Erleichterung und Vereinheitlichung erschienen Publikationen von Feiermaterialien. Die spätere nationalsozialistische Feierpraxis konnte auf den Grundlagen, die in der Kaiserzeit geschaffen wurden, aufbauen.

Kontrafakturen bekannter Lieder erleichterten die Internalisierung bestimmter Textinhalte. So entstand z. B. auf die Melodie von „Kommt ein Vogel geflogen“ die folgende Textfassung, die in einem Schulliederbuch von 1914 überliefert ist:

Wenn ich groß bin, wenn ich groß bin,

dann werd’ ich General

mit dem Helme auf dem Kopfe,

mit dem Säbel aus Stahl.

Wird der Kaiser dann kommen,

kommandiere ich laut:

Präsentiert die Gewehre

Und nach links umgeschaut

Doch ich selber salutiere,

stehe kerzengrad’ da.

Ist der Kaiser vorüber

Ruft’ „hoch“ und „hurra!“

(zitiert nach Freitag 2001, S. 231 f.)

In einem weiteren Schulliederbuch von 1914 findet sich eine Parodie auf das Lied „Hänschen klein“:

Kühn voran, ziehn die Fahn!

Folget alle Mann für Mann!

Tapfer mit! Tritt für Tritt!

Haltet strammen Schritt!

(zitiert nach Freitag 2001, S. 232)

Die schulische Kriegserziehung, die sich auch im schulischen Singen spiegelt, erlebte zur Zeit des Ersten Weltkriegs einen vorläufigen Höhepunkt. Der linke Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht kritisierte 1916 den Ungeist an deutschen Schulen:

„So ist Schule nach ihrem Grundcharakter ein politisches Propagandamittel für den Krieg, ein Hilfsmittel für die Kriegswirtschaft, ein Werkzeug für den Krieg! Die Militarisierung der Schule [...] wird auch von mancher bürgerlichen Seite mit Bedenklichkeit betrachtet. Die heutige Erziehung geht darauf hinaus, schon in der Schule zu beginnen, die Menschen zu Kriegsmaschinen zu erziehen, sie macht Schulen zu Dressuranstalten für den Krieg, körperlich und seelisch“ (zitiert nach Freitag 2001, S. 232).

Die seit der Kaiserzeit praktizierte Kriegserziehung hatte Auswirkungen bis in die Zeit des Nationalsozialismus – trotz gegenteiliger Bemühungen: Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gaben die für die Volksbildung in Preußen Verantwortlichen einen Erlass gegen jede Kriegsverherrlichung heraus. Durch ihn und andere Veränderungen sollte eine Demokratisierung des Schulwesens erreicht werden. Bereits 1919 wurden sie jedoch unter dem Einfluss restaurativer Kräfte teilweise wieder rückgängig gemacht bzw. modifiziert. Viele Pädagogen lehnten die Demokratie ab und trauerten der vermeintlichen Herrlichkeit des Kaiserreichs nach.

Nationalsozialismus

Im Führerkult des „Dritten Reiches“ wurde der Kaiserkult fortgesetzt, modifiziert und gesteigert. Eine gigantische Propagandamaschinerie, die von einem eigenen Ministerium gesteuert wurde, sorgte für die Durchsetzung nationalsozialistischer Ideologie. Dabei wurden auch Lieder instrumentalisiert.

Die NS-Diktatur bemächtigte sich aller Bereiche des menschlichen Lebens. Besonders betroffen waren die Kinder und Jugendlichen, die der Staat in seinen Organisationen „gleichschaltete“. Sie hatten wenige Möglichkeiten, ihre Erfahrungen im „Dritten Reich“ durch den Vergleich mit Lebensformen außerhalb dieses Machtbereichs zu relativieren, und waren der staatlichen Propaganda fast wehrlos ausgeliefert. Sie wurden zwangserfasst in staatlichen Jugendorganisationen, die als Vorstufen für die verschiedenen NS-Formationen für die Erwachsenen fungierten:

·        das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ (17- bis 21-jährige Mädchen)

Die politische Erziehung in diesen Formationen war im Prinzip Kriegserziehung. Für die männliche Jugend mündete sie konsequent in die Zugehörigkeit zu Reichsarbeitsdienst, Wehrmacht oder SS; für die weibliche Jugend gab es innerhalb der „Hitlerjugend“ eine Fortsetzung für die 17- bis 21-Jährigen (d. h. bis zum „heiratsfähigen“ Alter) in der Organisation „Glaube und Schönheit“.

Die „Kinderlieder“, die im „Deutschen Jungvolk“ und im „Jungmädelbund“ gesungen wurden, waren teils traditionell, teils neu komponiert. Im Repertoire tauchen viele militärische Lieder – nicht nur Kinderlieder – auf, die z. Tl. schon in den Kinderliedsammlungen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs enthalten waren.

Eines der neu komponierten, ideologisch eindeutigsten Lieder der NS-Zeit war das von dem Jugendführer der NSDAP und späteren Reichsjugendführer Baldur von Schirach verfasste „Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren“; die Melodie schrieb Hans-Otto Borgmann (für den Film „Hitlerjunge Quex“).

Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren.

Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren.

Heimat, du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch untergehn...

...

Wir marschieren fürs Volk durch Nacht und durch Not

mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.

Unsre Fahne führt uns in die Ewigkeit!

Ja, die Fahne ist mehr als der Tod!

Das Lied glorifiziert Kämpfen und Sterben im Krieg, der als ein „gerechter“ dargestellt wird. Das Individuum stellt sich in den Dienst von „Heimat“ und „Vaterland“, ist bereit, sein Leben dafür zu opfern. „Pseudoreligiöser Kitsch-Gestus, martialische Drohgebärde, Forderung nach bedingungslosem Gehorsam (Führerkult), Fahnenkult, Appell an die Opferbereitschaft bis zum Tode gehen hier eine unselige Allianz ein und werden tief in die Seelen schon von 10–14jährigen Kindern eingesenkt“ (Noll 1994, S. 223).

Einer der bekanntesten und wirksamsten Kinderliedverfasser z. Zt. des Nationalsozialismus war Hans Baumann (1914–1988). Seine Lieder erreichten alle Jugendorganisationen des „Dritten Reichs“. Anthologien, die er veröffentlichte, waren: „Trommeln der Rebellen“ (1935), „Horch auf, Kamerad“ (1936), „Wir zünden das Feuer“ (1936). Die Lieder Baumanns appellierten z. Tl. an die Rache-, Kampf- und Opferbereitschaft, einige waren offen aggressiv und kriegerisch (z. B. „Es zittern die morschen Knochen“) und bereiteten die Jugendlichen psychologisch auf den Krieg vor.

Ein Teil der „harmloseren“ Lieder Baumanns lebte nach 1945 in Schul-Liederbüchern fort, z. B. „Und die Morgenfrühe, das ist unsere Zeit“ und „Von allem blauen Hügeln“ (Hans Baumann: „Der helle Tag“, Potsdam). Sie erscheinen auf den ersten Blick nicht politisch oder gar nationalsozialistisch. Ihr oftmals martialisches Vokabular und eine Vorliebe für militärische Metaphern lassen aber Gemeinsamkeiten mit dem Nazi-Liedgut erkennen.

Von allen blauen Hügeln

Reitet der Tag ins Land

...

Nun stößt seine blitzende Klinge der Morgen ins Firmament,

entfaltet sein blaues Banner,

darinnen die Sonne brennt.

In der NS-Zeit gab es Bemühungen, christliche Feste in einem nationalsozialistischen Sinn umzudeuten. NS-Weihnachtslieder erinnern manchmal nur noch entfernt an den christlichen Ursprung des Weihnachtsfestes. Z. B. erscheinen – in offensichtlicher Anlehnung an die Gestalten Maria und das Jesuskind – die „Requisiten“ Mutter und neugeborenes Kind, hier jedoch in Verbindung gebracht mit einem völkischen Blut- und Boden-Mystizismus und pseudogermanischen Kultelementen. In dem Lied „Hohe Nacht der klaren Sterne“ von Hans Baumann heißt es in der zweiten und dritten Strophe:

2. Hohe Nacht mit großen Feuern, die auf allen Bergen sind, heut’ muß sich die Erd’ erneuern wie ein junggeboren Kind.

3. Mütter, euch sind alle Feuer, alle Sterne aufgestellt, Mütter, tief in euren Herzen schlägt das Herz der weiten Welt.

(„Hohe Nacht der klaren Sterne“. Ein Weihnachts- und Wiegenliederbuch. Im Auftrage der Reichsjugendführung hg. v. Doris Sondern. Wolfenbüttel und Berlin 1940, S. 8 f.) 

Oder aber es treten an die Stelle christlicher Gestalten ein säkularisierter „Weihnachtsmann“ und der „Knecht Ruprecht“, so in dem Lied „Bald nun ist’s Weihnachtszeit (Text: Carola Wilke; Melodie: Hans Helmut), das auch in der Gegenwart noch gesungen wird.

Bald nun ist Weihnachtszeit, fröhliche Zeit,

Jetzt ist der Weihnachtsmann gar nimmer weit.

(„Hohe Nacht der klaren Sterne“. Ein Weihnachts- und Wiegenliederbuch. Im Auftrage der Reichsjugendführung hg. v. Doris Sondern. Wolfenbüttel und Berlin 1940, S. 20)

Kinderlieder in der DDR

Im Osten Deutschlands – seit 1949 DDR – entstand nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell neues Liedgut. Prominente Komponisten und Schriftsteller / Dichter wie etwa Hanns Eisler und Bertolt Brecht erkannten nach ihrer Rückkehr aus dem Exil die Notwendigkeit, neue Lieder – auch für Kinder – zu verfassen. Sie wollten auf diese Weise zu einer Politik des Friedens und der Humanität beitragen.

Eines der bekanntesten Beispiele wurde 1950 von Bertolt Brecht gedichtet und von Hanns Eisler vertont: die „Kinderhymne“ („Anmut sparet nicht noch Mühe“), die als eines von sechs Liedern aus einem Kinderliedzyklus veröffentlicht wurde. Der Anlass zu der Dichtung war die Einführung des „Liedes der Deutschen“ als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland. Brecht schrieb die „Kinderhymne“ bewusst als Gegenstück zu Hoffmann von Fallerslebens Lied, das für ihn durch den Nationalsozialismus korrumpiert war. Die „Kinderhymne“ besingt demgegenüber das friedvolle Nebeneinanderleben der Völker. Das Lied stand als mögliche Hymne für den jungen „Arbeiter- und Bauernstaat“ zur Verfügung, doch es wurde das „Auferstanden aus Ruinen“ mit der Melodie von Hanns Eisler und dem Text von Johannes R. Becher favorisiert. Nach der Wiedervereinigung 1990 setzten sich Bürgerinitiativen und verschiedene Medien – vergeblich – für die Kinderhymne als neue deutsche Nationalhymne ein.

Dem Text der „Kinderhymne“ stand eine Flut staats- und parteikonformer Liedschöpfungen entgegen, in denen Begriffe wie „Kampf“, „Fahne“, „Feind“ und „Sieg“ zum zentralen Wortschatz gehörten. Partei und Regierung der DDR versuchten sehr bald, über Schule und Jugendorganisationen auf das Lied und Singen der Kinder Einfluss zu nehmen. Einige Lieder wurden Teil eines schulischen Pflichtrepertoires. Die meisten Kinder waren darüber hinaus Mitglieder der Pionier- und Jugendorganisation, für die spezielle Liederbücher zusammengestellt wurden, z. B.

-          Sing mit, Pionier! – Liederbuch der Jungpioniere (Kinder der Klassen 1 bis 4)

-          Seid bereit! – Liederbuch der Thälmann-Pioniere (Kinder der Klassen 5 bis 8)

-          Leben, singen, kämpfen – Liederbuch der deutschen Jugend

Pionierlieder betonen den Kampf, die Treue (manchmal bis zum Tod), den Schwur auf die rote Fahne und das Bekenntnis zu politischen Führern und der Partei. Im Unterschied zur düsteren Untergangsstimmung und Todessehnsucht der Nazi-Lieder dominieren in ihnen ein übersteigerter, oft aufgesetzt erscheinender Zukunftsoptimismus.

In einer Untersuchung von Kinderlied-Produktionen der DDR stellt Günther Noll u. a. die folgenden Themenbereiche und Funktionen heraus (Noll 2006):

1. Das neue Kinderlied als Mittel der Wehrerziehung im Vorschul- und Schulalter

2 Textbeispiele:

1. Wenn ich groß bin, gehe ich zur Volksarmee,

ich fahre einen Panzer, ra-ta-ta, ra-ta-ta […]

5. Ich lade die Kanone, rumbumbum [...]

(Text und Melodie: Günther Preißler)

 

1. Mein Bruder ist Soldat im großen Panzerwagen,

und stolz darf ich es sagen: Mein Bruder schützt den Staat.

3. Und greift uns jemand an, so hat er nichts zu lachen.

Die Volkssoldaten wachen und stehen ihren Mann

(Text und Melodie: Manfred Hinrich)

Spätestens mit der Einführung des Wehrkundeunterrichts in den neunten und zehnten Klassen 1978 versuchte die Parteiführung der SED den Gedanken der Militarisierung auch in den Schulen fest zu verankern. Die „Nationale Volksarmee“ besaß ein hohes Ansehen und war ein Mittel der Machtdemonstration des Staates. Alljährlich wurde sie in einer pompösen Militärparade öffentlich vorgeführt.

Schon die Kinder sollten sich mit diesem Machtapparat identifizieren. Dabei boten sich u. a. Kinderlieder als geeignetes Mittel an. Ihr militärischer Inhalt wird zum Kinderspiel verharmlost. Die Liedtexte schaffen Identifikation durch die Ich-Form („Wenn ich groß bin, gehe ich zur Volksarmee“) und vertraute Figuren wie den „Bruder“, der bei der Volksarmee Dienst tut.

Aus den 1960er Jahren ist das Lied „Soldaten sind vorbeimarschiert“ (Hans Georg Beyer / Hans Naumilkat; s. Freitag 2001, S. 250 f.) überliefert. Das Lied wurde im schulischen Unterricht vermittelt und war weit verbreitet. Auch es suggeriert, das Soldatendasein sei ein fröhliches Spiel. Dabei dient es deutlich der Manipulation: Die Kinder werden mit Dienstgraden und militärischen Begriffen bekannt gemacht: Soldat, Hauptmann, der Zug, Leutnant, Flügelmann, ganze Kompanie, marschieren, Stahlhelm, MPi (= Maschinenpistole), gleicher Schritt und Tritt, Schutz der Heimat zu Land, Luft und See. Die letzte Strophe des Liedes mündet in den Wunsch, selbst einmal Soldat zu werden:

Soldaten sind vorbeimarschiert,

die ganze Kompanie.

Und wenn wir groß sind, wollen wir

Soldat sein so wie sie...

2. Das Pionierlied und sein Einsatz in der Schule

Schule und Jugendorganisationen waren in der DDR eng miteinander verbunden. Die Auswirkungen im Musikunterricht waren deutlich zu erkennen. Zu dem im Lehrplan verbindlich gemachten und empfohlenen Liedgut für die allgemeinbildende Schule gehörte ein bestimmtes Repertoire von Pionierliedern, das allerdings im Verlauf der Jahrzehnte Veränderungen unterworfen war.

Beispiel

Hell scheint die Sonne, und leicht ist unser Schritt,

froh ist der Schlag unsrer Herzen;

zieht doch die Freude an unsrer Seite mit,

Singen und Lachen und Scherzen

Pioniere voran, lasst uns vorwärts gehen!

Pioniere, stimmt an, lasst die Fahnen wehn!

Unsre Straße, sie führt in das Morgenlicht hinein;

Wir sind stolz, Pioniere zu sein!

(Text: Friedel Hart; Melodie: Wolfgang Richter)

Das Pionierlied „Hell scheint die Sonne“ demonstriert nicht nur den verordneten Optimismus, sondern es schafft im Refrain mit seinen punktierten Rhythmen die Assoziation eines vordrängenden Marsches. Dieses Pionierlied war weit verbreitet.

3. Staatsverherrlichung und Identifikation mit „unserer Republik“

Ein weiterer Typus des neuen Kinderliedes in der DDR thematisiert die Identifikation des Kindes mit dem Staat, der Partei, einzelnen Führern, mit der Heimat und der Republik.

Beispiel

1. Wie und wann, wie und wann

Geht die Arbeit gut voran?

Frohgemut, frohgemut

muss man sein, dann wird sie gut.

Lernen, schaffen, fröhlich sein –

das ist die Parole!

Weil wir uns des Lebens freun,

wird die Arbeit gut gedeihn.

Sing mit uns das Lied, das uns allen gefällt,

sing mit uns das Lied von einer glücklichen Welt.

Sing mit uns das Lied, das so jung ist wie wir,

singe fröhlich unser Lied, Pionier!

3. Und warum, und warum

Schaun wir uns im Leben um?

Und wofür, und wofür

Lernt ein jeder Pionier?

Unsre junge Republik –

Das ist die Parole!

Blüh in Frieden und in Glück,

blüh in Frieden, Republik!

Sing mit uns das Lied...

(Text: Ilse und Hans Naumilkat, Hans Heinz Paetzold; Melodie: Hans Naumilkat)

In vielen Kinderliedern der DDR wird die Friedensthematik herausgestellt. „So subjektiv ehrlich der eine oder andere Lyriker, Komponist, Liedermacher, Pädagoge, Erzieher und andere in der ehemaligen DDR sein Friedensbekenntnis und -engagement empfunden haben mag, so erschreckend ist die Tatsache massenhafter Manipulation über den Gedanken des Friedens. [...] Einem symbolisierten ‚Frieden‘ wurde eine Alibifunktion zugeordnet, um damit den Zustand politischer Stagnation zu kaschieren“ (Freitag 2001, S. 256). Die herrschende Ideologie wurde ohne jede Alternative vermittelt. Garant des Friedens schien nur das eigene System zu sein. So stellen Friedenslieder nicht immer einen Gegensatz zu Kriegsliedern dar und sie erfüllen eine vergleichbare Funktion: etwa indem sie suggerieren, nur innerhalb des eigenen politischen Systems sei der Friede gewährleistet und man müsse – im Namen des Friedens und der Gerechtigkeit – gegen dessen Feinde und Widersacher kämpfen. Es handelt sich in diesem Fall um eine Manipulation unter umgekehrten Vorzeichen.

 

Erneuerungs- und Emanzipationsbestrebungen im 20. Jahrhundert

Literatur (Auswahl)

Borneman, Ernest: Unsere Kinder im Spiegel ihrer Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Freiburg 1973 (Studien zur Befreiung des Kindes, Bd. 1)

Borneman, Ernest: Die Umwelt des Kindes im Spiegel seiner „verbotenen“ Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Freiburg 1974 (Studien zur Befreiung des Kindes, Bd. 2)

Freitag, Thomas: Das Kinderlied. Ein alphabetisches Lesebuch. Oldershausen: Lugert, 2000

Freitag, Thomas: Kinderlied – Von der Vielfalt einer musikalischen Liedgattung. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001

Freitag, Thomas: „...weder vulgär noch verspielt oder gar tölpelhaft modernistisch“. Bertolt Brecht (1898-1956) und Hanns Eisler (1898-1962) in ihrem künstlerischen Schaffen für Kinder. Edition Luisenstadt 1998 (www.luise-berlin.de/lesezei/blz98_02/text02.htm)

Hennenberg, Fritz (Hg.): Brecht-Liederbuch. Frankfurt am Main 1984

Rühmkorf, Peter: Über das Volksvermögen. Exkurse in der literarischen Untergrund. Reinbek 1967

Schleuning, Peter: Kinderlieder selber machen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978

Vahle, Fredrik: Kinderlied. Erkundungen zu einer frühen Form der Poesie im Menschenleben. Weinheim, Basel 1992

 

„Das Kinderlied – aufgeladen mit vorgeblich bedeutsamen und nützlichen Implikationen, abgerichtet auf pädagogische, moralische, aufklärerische, unterhaltende, gesellige Absichten und in jedem Falle ganz unter der Kontrolle der Erwachsenen, ermunterte jene Kräfte, die sich als die besseren Anwälte der Kinder verstanden und die kindgemäßeren, besseren Lieder, Reime, Verse für die junge Generation bereitzuhalten oder dies wenigstens vorzugeben wussten“ (Freitag 2001, S. 271).

Was Kinder unter sich singen, ist nicht identisch mit dem, was Erwachsene unter „Kinderliedern“ verstehen oder für wünschenswert halten. Schon im 18. Jahrhundert fiel das dem einen oder anderen auf; so kritisierte etwa Goethe: „Es darf kein Bube mit der Peitsche knallen, oder singen, oder rufen, sogleich ist die Polizei da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so dass am Ende nichts übrigen bleibt als der Philister“ (aus den Gesprächen mit Eckermann, zitiert nach Freitag 2001, S. 274).

Die Aufklärung hatte zum Ziel, in der Erziehung und Bildung der heranwachsenden Generation Leidenschaften und Affekte zu dämpfen und kindliche Vorstellungen zu zügeln. Sie verfolgte hauptsächlich belehrende Absichten. In Arnim / Brentanos Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ wandelte sich die Perspektive: Die pädagogischen Intentionen traten gegenüber künstlerischen und spielerischen Ambitionen zurück. Die Hinwendung zu einer „Volksdichtung“ lenkte die Aufmerksamkeit der „gebildeten Welt“ auf ein bisher unbekanntes Terrain.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden Kinderlied und Kinderliedsingen jedoch oftmals nationalistischen, chauvinistischen und militaristischen Zwecken untergeordnet. Auch trug das Schulsystem dazu bei, kindliches Singen autoritär zu lenken. Eine eigenständige Kinderkultur konnte sich so nicht entfalten.

Es gab im späten 19. Jahrhundert aber auch entgegengesetzte Tendenzen. So wies der Liedsammler Hermann Dunger 1894 in einer Abhandlung über das volkstümliche Kinderlied darauf hin, dass zu diesem auch Lieder gehören, „die wir nicht in der Schule, nicht aus Büchern, sondern auf der Straße von Gespielen, zu Hause von Eltern und Geschwistern gelernt haben“ (zitiert nach Freitag 2001, S. 283). Solche meist oral überlieferten Lieder nannte er „Volks-Kinderlieder“, die er von „Kunstkinderliedern“ unterschied.

Im Jahr 1900 veröffentlichte die schwedische Frauenrechtlerin Ellen Key ihr Buch „Das Jahrhundert des Kindes“, das u. a. eine individuelle Entwicklung im Sinne einer Reformpädagogik propagierte. Es wandte sich gegen schematische Lehrmethoden und starre Kindvorstellungen und akzentuierte demgegenüber die Individualität und Kreativität des Kindes. Keys reformerische Bemühungen standen am Anfang einer Bewegung, die sich bis in die Gegenwart auswirkt.

Auch der um 1900 in Deutschland aufkommende „Wandervogel“ und die damit verbundenen pädagogischen Bestrebungen prägten nachhaltig die Lied- und Gesangskultur der Jugendlichen, regten zu einem spielerischen Umgang damit an.

Weitere neue Impulse gab es in den 1920er Jahren. So schrieben z. B. Paula und Richard Dehmel emanzipatorische Kindergedichte (s. Vahle 1992, S. 70 ff.), mit denen sie sich nicht nur Beifall, sondern auch Kritik einhandelten. „Für sie waren Kinderlieder kein niedliches Spielzeug, kein Medium der Rückerinnerung an vergangenes Kinderglück. Sie wandten sich gegen die traditionellen Normen der bürgerlichen Erziehung, gegen Erstarrung und Zwang und auch gegen die ‚Verbalpädagogik mit Strafandrohung‘ in der Kinderliteratur“ (Vahle 1992, S. 68). Mit Gedichten, die eine respektlose Sprache verwenden, wollte Richard Dehmel gegen die bürgerliche Welt aufbegehren (Beispiele siehe Vahle 1992, S. 68 ff.). Sein Kindergedicht „Fitzebutze“ richtete sich gegen Geschichten wie die in Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“, wo der Ungehorsam der Kinder gegenüber den Erwachsenen streng bestraft wird.

Einige Künstler des antibürgerlichen, alternativen, oft politisch links stehenden Lagers trugen zu einem befreiten Kinderkulturschaffen bei. So setzte etwa der Schriftsteller, Kabarettist und Maler Joachim Ringelnatz (1883–1934) mit mehreren Kinderbüchern der herkömmlichen bürgerlichen Tradition etwas Neues entgegen. Er rief u. a. zu Auflehnung und Ungehorsam gegenüber den Normen der Erwachsenenwelt auf:

Kinder, ihr müsst euch mehr zutrauen!

Ihr lasst euch von Erwachsenen belügen

Und schlagen. – Denkt mal: fünf Kinder genügen,

Um eine Großmama zu verhauen.

(Joachim Ringelnatz: und auf einmal steht es neben dir. Gesammelte Gedichte. Berlin: Henssel, 1964, S. 382)

 

Lieber Gott mit Christussohn,

Ach schenk mir doch ein Grammophon.

Ich bin ein ungezognes Kind,

Weil meine Eltern Säufer sind.

(Joachim Ringelnatz: und auf einmal steht es neben dir. Gesammelte Gedichte. Berlin: Henssel, 1964, S. 303)

 

Auch Christian Morgenstern, Erich Kästner, Bertolt Brecht, Hanns Eisler u. a. prägten in der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Machtergreifung eine oppositionelle, antibürgerliche und eigenständige Kinderdichtung. 1934 schrieb Brecht das folgende an Kinder adressierte Gedicht (in „Alfabet“ für Kinder):

Adolf Hitler, dem sein Bart

Ist von ganz besondrer Art.

Kinder, da ist etwas faul:

Ein so kleiner Bart und ein so großes Maul.

(zitiert nach Freitag 2001, S. 281).

Ebenfalls 1934 verfasste Brecht die „Tierverse“, die er seinem damals neunjährigen Sohn Stefan widmete. Sie wurden 1967 und 1972/73 von Paul Dessau vertont; dabei ließ sich Dessau, der auch als Pädagoge tätig war, von Melodien und kleinen Vertonungen, die die Kinder zu Brechts Texten schufen, anregen. Allerdings können die Vertonungen nur teilweise von Schulkindern gesungen werden, einige davon erfordern gesangliche Virtuosität. Brechts Kinderlieder sollen zum Nachdenken stimulieren, sie sind gesellschaftliche Gleichnisse. Vahle nennt sie „kopflastig“; nach seiner Auffassung sprechen sie die Gefühle des Kindes nur wenig an (Vahle 1992, S. 79). Dessau und auch Eisler versuchten, ihre intellektuelle Qualität auch musikalisch zum Ausdruck zu bringen. „Dabei entstanden aber eher konzertante Vortragslieder“ (Vahle 1992, S. 80), die sich mehr an Erwachsene als an Kinder richten.

„Die angeführten Beispiele haben u. a. aufgrund der oben angeführten Merkmale nicht zu einer breiten Tradition geführt, die mit der von ‚Des Knaben Wunderhorn‘ bzw. von Hoffmann von Fallerleben ausgehenden vergleichbar wäre. Sie sind jedoch bis zu den Erneuerungsversuchen des Kinderliedes in den siebziger und achtziger Jahren [...] Vorbild und Anregung“ (Vahle 1992, S. 81).

Die Situation des Singens in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 1950er Jahre wird oftmals als eine Zeit der „Regression und Reaktion“ charakterisiert (Freitag 2001, S. 278). Neue Denkanstöße gab es erst mit der Studentenbewegung von 1968. „Die Kritik am überlieferten wertkonservativen Kindverständnis war derart massiv und tiefgreifend, dass der Einschnitt sich auch nach inzwischen 30 Jahren als wichtigste Zäsur [...] darstellt. ‚Alternative‘ und ‚freie‘ Äußerungen zur Wahrhaftigkeit kindlicher Artikulation traten verstärkt und offensiv hervor“ (Freitag 2001, S. 285).

Es waren vor allem die folgenden Publikationen, die von den Kindern kommende Äußerungen unverstellt dokumentierten und eine Absage an die obrigkeitliche Lenkung des Singens bedeuteten:

Peter Rühmkorf: Über das Volksvermögen. Exkurse in der literarischen Untergrund. Reinbek 1967

Ernest Borneman: Unsere Kinder im Spiegel ihrer Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Freiburg 1973 (Studien zur Befreiung des Kindes, Bd. 1)

Ders.: Die Umwelt des Kindes im Spiegel seiner „verbotenen“ Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Freiburg 1974 (Studien zur Befreiung des Kindes, Bd. 2)

Im Gegensatz zu bisherigen Auffassungen stellten sie den Tabu-Bereich fäkalisch-obszöner Kinderlieder als authentisch heraus.

1961 hatte sich bereits Hans Magnus Enzensberger in seiner Kinderreimsammlung „Allerleirauh“ „für einen von Erwachsenendünkel und pädagogischer Lehrhaftigkeit befreiten Begriff des Kinderreimes ausgesprochen“ (Freitag 2001, S. 285). Hier werden Kinderreim und Kinderlied als eine mündlich verbreitete Gattung verstanden, deren Schöpfer, Träger und Verbreiter die Kinder selbst sind.

Der deutsche Schriftsteller, Anthropologe, Psychoanalytiker und Sexualforscher Ernst Wilhelm Julius Bornemann wurde 1915 in Berlin geboren, er starb 1995. Er hatte in den frühen 1930er Jahren Kontakt zu Wilhelm Reich. Nachdem er 1933 nach England emigriert war, anglisierte er seinen Namen zu Ernest Borneman (Art. „Ernst Wilhelm Julius Bornemann“, in: Wikipedia). Borneman sammelte seit den sechziger Jahren in 36 deutschen Städten ca. 5000 Kinderlieder und -reime. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf oral tradierte Kinderverse und -lieder. „Borneman lieferte den überzeugenden Beweis, dass im nicht-schriftlichen Kinderlied vielfältige Entdeckungen möglich sind. Mit dem erotischen Kindervers und Abzählreim widerlegte er die These vermeintlicher kindlicher Asexualität“ (Freitag 2001, S. 40). Seine Untersuchungsergebnisse veröffentlichte in seiner 1973–1976 erschienenen mehrbändigen Publikation „Studien zur Befreiung des Kindes“. Hier zeigt er auf, dass Kinder eine ausgeprägte Neigung zu sexuellen und fäkalsprachlichen Äußerungen haben (Beispiele siehe Freitag 2001, S. 288). Bornemans Veröffentlichungen wirkten damals radikal, werden inzwischen jedoch nicht mehr als die einzig authentischen Äußerungen von Kindern verabsolutiert.

„Kritisch zu sehen ist der Bornemansche Forschungsansatz insofern, als er den von Kindern benutzten Liedern, Versen eine zu hohe Eigenwertigkeit einräumte, kaum den Erwachseneneinfluß und die gegenseitigen Durchdringungen von Erwachsenen- und Kinderwelt ins Kalkül zog. Die scharfe Trennung von Erwachsenen- und Kinderkultur war so zwingend nicht aufrechtzuerhalten. Die Forderung aber, Kinder in ihrer eigenen Sprache und im individualtypischen Verhalten wahrzunehmen, war fortan Kinderliedermachern und Kinderbuchautoren notwendig geworden“ (Freitag 2001, S. 40).

Anfang der 1970er Jahre entstanden auch gesellschaftskritische Kinderlieder, z. B. von:

-          Dieter Süverkrüp („Baggerführer Willibald“, 1973)

-          Fredrik Vahle / Christiane Knauf (Schallplattenproduktionen „Die Rübe“, 1973; „Der Fuchs“, 1976; „Der Spatz“, 1978)

-          dem Berliner GRIPS-Theater

 „Der Anspruch, Kindern nichts zu verheimlichen, ihnen in Liedern und Texten stets glaubhaft und wahr zu begegnen, damit dem verlogenen Heile-Welt-Kinderlied entgegenzuwirken, ging so weit, dass nun auch Themenbereiche wie Widerstand gegenüber der Gesellschaft, Klassenkampf und Friedenserziehung, Streik und Veränderung bestehender Verhältnisse künstlerisch aufgearbeitet wurden“ (Freitag 2001, S. 289).

Dieter Süverkrüp (geb. 1934 in Düsseldorf) ist Werbegrafiker und Liedermacher. Er gilt als einer der Gründerväter der Liedermacherbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg. Besonders bekannt wurde er in der alternativen Kulturszene der 1960er und 70er Jahre. Politisch war er langjähriges DKP-Mitglied. Zu seinen bekanntesten Liedern gehören: „Die erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten“, „Baggerführer Willibald“ und das Kindermusical „Das Auto Blubberbumm“.

Das GRIPS-Theater ist ein Kinder- und Jugendtheater am Hansaplatz in Berlin-Tiergarten. Im Sommer 1966 begann man damit, an den Wochenenden Stücke aufzuführen, die eigens für Kinder geschrieben wurden und einen direkten Bezug zur aktuellen Welt der Kinder hatten. Seit 1969 verfolgte das Theater ein neues Konzept des modernen Kindertheaters mit sozialkritischen Bezügen.

In einer Rückschau auf die siebziger Jahre reflektiert Fredrik Vahle kritisch und selbstkritisch das Kinderliedschaffen der damaligen Zeit. Er bekennt, dass man mit Zielen wie „Bewusstwerdung“, „Emanzipation“ und dgl. das Bedürfnis der Kinder nach Spiel und Unterhaltung nicht genügend wahrgenommen habe (Vahle 1992, S. 165 f.). Zur Entstehungsgeschichte einiger seiner eigenen Kinderlieder äußert sich Vahle in seiner 1992 erschienenen wissenschaftlichen Abhandlung „Kinderlied“ (Vahle 1992, S. 155 ff.).

Mitte der siebziger Jahre fand das neue Denken über Kindheit und Kinderkultur auch Eingang in die Musikpädagogik. In diesen Zusammenhang gehörte u. a. Peter Schleunings Projekt „Kinderlieder selber machen“ von 1978 mit einer Freiburger Musiklehrergruppe, bei dem die Pädagogen die Kinder u. a. dazu ermunterten, selber Lieder zu erfinden. Dabei erwies sich, dass Kinder nicht grenzenlos kreativ sind, sondern dass sie stets Überkommenes und Neues miteinander verbinden. Auch wurde deutlich, „dass es die autarke, oft beschworene geheimnishafte, separierte Welt des Kindes nicht gibt. Zwar gibt es in Kind-Kind-Beziehungen sehr offene Kommunikationsabläufe, es werden Tabus aufgebrochen und Eigengesetzlichkeiten des Handelns entwickelt. Erwachseneneinflüsse sind aber auch hier nachweisbar“ (Freitag 2001, S. 291).

Der US-amerikanische Musikethnologe Paul Nettl sieht im weltweiten Vergleich „kindliche Musikaktivitäten nicht losgelöst von den Musikverhältnissen der Erwachsenengeneration. Kinder stehen nicht außerhalb der Gesellschaft, für ihr Musiklernen und -artikulieren sei die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung ganz entscheidend“ (Freitag 2001, S. 294).

Kinder übernehmen tradierte Lieder, finden über ihre Erfahrungen des aktuellen Musikgeschehens Zugang dazu. So gibt es etwa eine gegenseitige Durchdringung von traditionellem Liedgut und aktueller Popmusik.

Um die Autonomie des kindlichen Musikmachens ging es auch in einem von der Kinderorganisation UNICEF 1993 und dem Westdeutschen Rundfunk ausgeschriebenen Wettbewerb. Ergebnis des Projekts war auch ein Liederheft mit dem Titel „Ich mach Musik für dich! Lieder von Kindern für Kinder“. Die Lieder entstanden in Kindertagesstätten und Grundschulen in der Kooperation zwischen Erwachsenen und Kindern (Beispiel s. Freitag 2001, S. 299).

Die Entdeckung der Diskrepanz zwischen der Kultur von Erwachsenen für Kinder und der eigenständigen Kultur von Kindern nennt Freitag eine wesentliche Errungenschaft im 20. Jahrhundert (Freitag 2001, S. 296). „Deutlich wird zugleich, dass die Positionen Musik FÜR beziehungsweise VON Kindern nicht nach der einen oder anderen Seite hin überzustrapazieren sind. Die zweifache Lebenswelt der Kinder, die sich gleichermaßen durch das Erwachsenen-Kind-Verhältnis wie durch die Kind-Kind-Beziehungen definiert, gründet sich immer auf gegenseitiges Durchdringen und relative Eigengesetzlichkeit. War es in früheren Jahren unter Erwachsenen üblich, Kind-Kind-Denken und Kind-Leben weitgehend – bewusst oder unbewusst – zu vernachlässigen, so ist heute auch zu beobachten, dass auf die von Kindern kommenden Äußerungen und Artikulationen allzu viel spekulative oder verklärende beziehungsweise überzogene Erwartungen übertragen werden“ (Freitag 2001, S. 297).

 

Kinderliedermacher seit den 1970er Jahren (Fredrik Vahle, Gerhard Schöne, Rolf Zuckowski)

Literatur (Auswahl)

Freitag, Thomas: Das Kinderlied. Ein alphabetisches Lesebuch. Oldershausen: Lugert, 2000

Freitag, Thomas: Kinderlied – Von der Vielfalt einer musikalischen Liedgattung. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001

Harnisch, Angelika: Fredrik Vahle, seine Lieder und ihre Vermittlung im Musikunterricht der Grundschule. Staatsexamensarbeit für das Lehramt für die Primarstufe, Köln 1996 (unveröffentlicht)

Schöne, Gerhard: Ich muß singen. Liederbuch. Berlin: Buschfunk, o. J.

Schöne, Gerhard: Das Kinderlieder-Buch. Berlin: Buschfunk, o. J.

Vahle, Fredrik: Das große Vahle-Liederbuch. Lieder und Texte, die Kindern Spaß machen. Weinheim, Basel: Beltz, 1994

Vahle, Fredrik: Gehupft wie gesprungen. Lieder für fröhliche Füße und neugierige Ohren. Düsseldorf: Patmos, 1994

Vahle, Fredrik: Hupp Tsching Pau. Das Bewegungsliederbuch. Weinheim, Basel: Beltz, 2. Aufl. 1998

 

In Anlehnung an Bertolt Brechts Begriff „Stückeschreiber“ kreierte Wolf Biermann die Bezeichnung „Liedermacher“. Er betont das Handwerkliche des künstlerischen Schaffensprozesses und erscheint weniger auratisch als „Komponist“ oder „Tondichter“.

Seit den 1970er Jahren gab es „das neuartige soziale und kulturell-künstlerische Phänomen“ des „Kinderliedermachers“ (Freitag 2001, S. 134), der eine Darbietungs- und Mitmachkunst anbietet. Kinderliedermacher erreichen ihr Publikum über den Tonträgermarkt, aber auch über Live-Konzerte. Seit Anfang der achtziger Jahre erzielten einzelne Kinderlieder die Popularität und Verkaufserfolge von Pop- und Rocksongs. Erstmals gelang Rolf Zuckowski 1981 mit dem Titel „Du da im Radio“ ein solcher Erfolg, ein Jahr später kam das Lied „Und ganz doll mich“ auf Platz 1 der ZDF-Hitparade (Freitag 2001, S. 204). Seit 1994 verkaufte Zuckowski mehr als eine Million Tonträger pro Jahr, bisher gab es neunmal „Gold“ und einmal „Platin“ für seine meistverkauften Titel (Freitag 2000, S. 21).

Wichtige Beiträge zum gegenwärtigen Kinderliedschaffen leisteten bzw. leisten u. a.: Wolf Biermann, Klaus W. Hoffmann, Gerhard Schöne, Fredrik Vahle, Rolf Zuckowski, Dorothée Kreusch-Jacob sowie Detlev Jöcker (geb. 1951), der sich mit einem eigenen Verlag („Menschenkinder“) auf dem Markt behaupten kann (weitere Namen siehe Freitag 2001, S. 135 f.).

Fredrik Vahle (geb. 1942) sang seit den frühen 1970er Jahren zusammen mit Christiane Knauf Kinderlieder mit einer gesellschaftskritischen Tendenz:

-          „Die Rübe“ (1973)

-          „Der Fuchs“ (1976)

-          „Der Spatz“ (1979)

Christiane & Fredrik, die bis 1979 gemeinsam auftraten, waren geprägt durch die gesellschaftlichen Vorstellungen der Studentenbewegung der sechziger Jahre und das Konzept der antiautoritären Erziehung. Die frühen Kinderlieder griffen z. Tl. Themen auf, die bislang als nicht „kindgemäß“ galten, sich jedoch auf die reale Umwelt der Kinder (und Erwachsenen) beziehen. Das Zusammenleben mit ausländischen Mitbürgern thematisiert das Lied „Die Rübe“. Gegenüber negativen und trennenden Vorurteilen plädiert es für Solidarität und appelliert an den Teamgeist, denn: „Gemeinsam sind wir stark“.

Die Rübe

(Text u. Musik: Fredrik Vahle, 1973)

 

6. Jetzt ziehn sie zu viert, doch die Rübe bleibt drin.

Der Fritz meint schon traurig: ’s hat doch keinen Sinn.

Ganz plötzlich ruft Paul: Hier, ich hab ’ne Idee,

wie wär’s, wenn wir mal zum Antonio gehn?

 

7. Doch da meint der Klaus: So was hilft uns nicht weiter.

Das sind doch alles Kinder von so Gastarbeitern.

Mein Vater sagt immer, die verschwänden viel besser.

Und außerdem sind das Spaghettifresser!

 

8. Das ärgert den Paul, was der Klaus da so spricht.

Der Antonio ist kräftig, und dumm ist er nicht,

und außerdem, Klaus, hast du eins wohl vergessen,

du hast dich an Spaghetti neulich fast überfressen.

 

9. Wir brauchen Antonio und auch seine Brüder.

Klaus’ Schwester versteht’s , und sie läuft schnell hinüber,

hat alle geholt, und gemeinsam ging’s ran.

Alle Kinder zusammen, die packten jetzt an,

 

10. Den Antonio zieht der Carlo mit Hallo und Hauruck!

Und siehe da, die dicke Rübe, die bewegt sich ein Stück.

Und jetzt noch mal Hauruck, und die Erde bricht auf,

die Rübe kommt raus und liegt groß obendrauf.

 

11. Die Kinder, die purzeln jetzt alle durcheinander,

doch freut sich ein jeder nun über den andern.

Sie sehn, wenn man so was gemeinsam anpackt,

wird die allerdickste Rübe aus der Erde geschafft.

Auch Umweltprobleme, soziale Ungerechtigkeit und Egoismus werden beklagt (LP „Die Rübe“ u. a. „Lied vom Fischeklauen“, „Pu Pam und Pam Pu“, „Herr Krötzkopp wollte bauen“). Einige Lieder Vahles verwenden traditionelle Lieder, aktualisieren und politisieren sie: „Warum ist der Bauer sauer“ basiert auf  „Im Märzen der Bauer“, einem populären traditionellen Lied, das die reale Situation der Bauern in eine falsche Idylle verwandelt. Das allbekannte „Hänschen klein“ kritisiert in Vahles Version Missstände an den Schulen und attackiert die hohen und sinnlosen Ausgaben für das Militär an (LP „Die Rübe“). Das Lied „Ein Fisch mit Namen Fasch“ verwendet – wie auch andere Lieder von Vahle – einen Text von Bertolt Brecht, der parasitäres Verhalten anprangert.

Musikalisch bleibt Vahle weitgehend konventionell; er bevorzugt ein traditionelles Begleitinstrumentarium (Gitarre, Blockflöte, Bass, Violine, Perkussion) und setzt elektronische Mittel zurückhaltend ein. Er greift auch Kinderlieder anderer Länder auf.

In den letzten Jahren fand in Vahles Liedern eine Verlagerung von einem sozialkritischen Impetus auf ein verstärktes Interesse an Sprache, Bewegung und Musik statt. Die späteren Produktionen Vahles betonen die „Fantasiepotenziale“ und kommen den „elementaren kindlichen Spiel- und Unterhaltungsbedürfnissen“ mehr entgegen (Freitag 2000, S. 48); Belehrung und Gesellschaftskritik treten in den Hintergrund.

Diese inhaltliche Schwerpunktsverlagerung zeigt sich etwa an der Produktion von 2001 „Tiger Oma Samurai“, für die Vahle mit einem großen internationalen Ensemble auftritt. Musikalisch gibt es Anklänge an „Weltmusik“; dies etwa in der „Räuberballade“ (Track 7), auf die sich auch das abschließende Instrumentalstück „Der Tanz des Horrificus“ bezieht (Track 14). Die Lust am spielerischen Umgang mit Sprache und Bewegung drückt sich besonders phantasievoll in dem Titellied „Tiger Oma Samurai“ (Track 12) aus.

Vahle hat auch Kinderbücher veröffentlicht, und er beschäftigt sich nicht nur künstlerisch, sondern auch wissenschaftlich mit Kinderliedern, verfasste z. B. eine Habilitationsschrift über Kindersprache und Kinderlied.

Gerhard Schöne: geboren 1952. Er gehörte in der DDR zu den bekanntesten Liedermachern und ist auch heute noch in Konzerten und mit neuen Tonaufnahmen erfolgreich. Er tritt seit 1979 auf. 1981 erschien seine erste LP bei Amiga. Trotz seiner kritischen Töne wurde Schöne als erfolgreicher Liedermacher der DDR 1989 mit dem Nationalpreis der DDR geehrt.

Schönes Kinderlieder richten sich nicht nur an Kinder, sondern auch an Erwachsene, die ihre Kindheit nicht verdrängt haben. Zu seinen bekanntesten Liedern gehört „Kinderland“, das eine Wunsch- und Phantasiewelt abseits von der Welt der Erwachsenen mit ihrer kalten Ordnung und ihren Verboten beschwört; das „Kinderland“ stellt ein Refugium dar, das jedoch nicht als ein autonomer Bereich verstanden wird, sondern als notwendiges Pendant zum „Erwachsenenland“.

Kinderland

(Text u. Musik: G. Schöne, 1981)

 

Hinter dem Affenstrand,

kurz vor Schlaraffenland,

da liegt Kinderland.

Wo die Kinder alles dürfen:

Kippeln, krabbeln, schmatzen,

schlürfen, popeln.

Alle müssen kräftig schreien,

es gibt tolle Keilereien,

Löcher in den Hosen.

Kein Erwachsener, der gleich zankt,

sofort Disziplin verlangt.

Dort gibt’s keine Großen.

Wer dahin will, hebt die Hand,

nach Kinderland...

1988, d. h. noch zu DDR-Zeiten, verfasste Schöne das Lied „Laß uns eine Welt erträumen“, ein Friedenslied, das eine utopische Welt ohne feindselige Grenzen erahnen lässt, ohne den (durch viele offizielle Gesänge abgenutzten) Begriff Frieden zu verwenden:

Laß uns eine Welt erträumen, die den Krieg nicht kennt,

wo man Menschen aller Länder seine Freunde nennt,

wo man alles Brot der Erde teilt mit jedem Kind,

wo die letzten Diktatoren Zirkusreiter sind.

Ein weiteres Friedenslied Schönes ist „Gesprengter Bunker“ (LP „Menschenskind“, Seite 1, Track 8). Andere Lieder betonen den Gedanken der Toleranz (z. B. „Wellensittich und Spatzen“ auf der LP „Menschenskind“, Seite 2, Track 4).

Schönes Lieder vermeiden direkte Belehrung, sie mokieren sich über hohle, nichtssagende Phrasen: z. B. „Raxli, faxli“ (LP „Lieder aus dem Kinderland“, Seite 2, Track 15).

Populär ist Schöne auch wegen seiner Sammlung von Kinderliedern aus aller Welt geworden: s. CD „Gerhard Schöne singt Lieder aus aller Welt“ mit (ins Deutsche übersetzten) Liedern aus Italien, England, den USA, Russland, Bulgarien, Tansania, Mexiko, Kuba, Australien, Japan, Kanada, Angola, Bolivien, Venezuela, Frankreich, Spanien und China. Ein Lied auf der LP „Menschenskind“ übernimmt und modifiziert eine indische (?) Lebensweisheit: „Ganz einfach“ (Seite 2, Track 5).

Über die Schlager- und Rock- und Popmusik kommt Rolf Zuckowski (geb. 1947) und überträgt deren Stilmerkmale auf seine Kinderlieder, die er seit 1974 schreibt. Zuckowskis Lieder werden von den Medien Rundfunk und Fernsehen verbreitet, aber auch in Live-Konzerten, in denen er gemeinsam mit Kindern als Solisten oder in Chören erscheint („Rolf und seine Freunde“). Seine Auftritte sind oft mit karitativen Aktionen zur Stärkung der Rechte und zum Schutz der Kinder verbunden. Seine Produktionen erzielen Massenauflagen.

Zu den Hits von Zuckowski gehören u. a.: „Du da – im Radio“ (DVD Rolf Zuckowski und seine Freunde, Nr. 1) und „Lieder, die wie Brücken sind“.

Die Erreichbarkeit der Kinder durch das Radio und zugleich deren Vorstellungen von diesem Medium spiegelt der Song „Du da im Radio“, einem Gespräch zwischen einem Radioapparat und einem zuhörenden Kind, das sich vorstellt, im Radio sei eine Person versteckt, die unmittelbar zu ihm spreche.

1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, schrieb Zuckowski das Lied „Deutschland, deine Kinder“, ein Lied, „das von der Hoffnung um die Chancen der nachwachsenden Generation spricht. In diesem Zusammenhang äußerte der Liedermacher sein Bedauern darüber, dass in der veränderten politischen Landschaft keine neue und passende Nationalhymne entstanden ist“ (Vahle 2001, S. 46). Der Refrain seines Liedes lässt sich auf die Melodie der Nationalhymne singen und hat evtl. ein Vorbild in Brecht / Eislers „Kinderhymne“.

Deutschland, deine Kinder

Refrain:

Deutschland, wir sind deine Kinder,

aber wir gehör’n dir nicht.

Wir gehör’n dem Traum von morgen,

hilf uns, dass er nicht zerbricht.

 

Fragmente zum Thema „Kind-Thematisierungen in musikalischen Kunstwerken des 19. und 20. Jahrhunderts“

Literatur (Auswahl)

Freitag, Thomas: Kinderlied – Von der Vielfalt einer musikalischen Liedgattung. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001

 

Im 19. Jahrhundert wenden sich einige Komponisten der Komposition von Kinderliedern zu. „Der Kunstwerkcharakter des Kinderliedes [...] ist eine neue Erscheinung innerhalb der Gattungsentwicklung des Kinderliedes im 19. Jahrhundert“ (Freitag 2001, S. 179). Die Romantik zeigte ein besonderes Interesse am Kind und ein verändertes Verständnis davon.

Einer der ersten Komponisten, die sich dieser Thematik zuwandten, war Robert Schumann. Charakteristika seiner Werke mit Kindbezug sind keineswegs Simplizität oder Naivität, sondern ein besonderer lyrischer Ausdruck und formale Komprimierung.

1838 veröffentlichte Schumann die „Kinderszenen“ (op. 15), 1848 das „Album für die Jugend“ (op. 68). Beides sind rein instrumentale Werke.

1849 – im Revolutionsjahr – erschienen Schumanns „Lieder für die Jugend“ (op. 79). Viele Lieder dieses Werkes übersteigen im Schwierigkeitsgrad das Leistungsvermögen junger Sänger; der Klavierpart steht stark im Vordergrund. „Schumann, der pädagogische Intentionen nie zugunsten professionell-künstlerischer Ansprüche opfert [...], hatte zu kalkulieren, dass nicht die ‚Jugend‘, sondern eher Erwachsene erreicht wurden“ (Freitag 2001, S. 182). Zehn von 29 Texten dieser Sammlung stammen von Hoffmann von Fallersleben.

In der Sammlung „Kinderstube“ veröffentlichte Modest Mussorgski Lieder mit einem starken Bezug zur Erlebniswelt der Kinder. Bekannt wurde „Mit der Njanja“ – auch als „Kind mit Wärterin“ übersetzt. Die Texte verfasste der Komponist selbst. Die „Kinderstube“ ist zwar von Kindern angeregt, ist jedoch eine vor allem für Erwachsene geschriebene Komposition.

Zahlreiche Kinderlieder komponierte im 19. Jahrhundert Carl Reinecke (1824–1910), ein Komponist, der weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Er war zu seinen Lebzeiten ein anerkannter Musiker, leitete u. a. 35 Jahre lang das Leipziger Gewandhausorchester; außerdem war er ein bekannter Pianist und Pädagoge. Er schrieb fast 300 Kompositionen, Werke der unterschiedlichsten Gattungen.

Er widmete sich auch der Komposition von Kinderliedern, veröffentlichte im Zeitraum zwischen 1851 und 1909 zehn Sammlungen mit insgesamt 105 Kinderliedern (Beispiel s. Freitag 2001, S. 191).

Volkslieder spielten im  Schaffen von Johannes Brahms eine wichtige Rolle. Er schrieb einige Lieder, die Volksliedhaftigkeit und Kunstanspruch vereinten. Trotz der Wertschätzung und des künstlerischen Anspruchs veröffentlichte Brahms sie ohne Opuszahl; dazu gehören:

-         Achtundzwanzig Deutsche Volkslieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung (vor 1858)

-         Vierzehn Volkskinderlieder mit Klavierbegleitung (vor 1858)

-         Vierzehn Deutsche Volkslieder für vierstimmigen Chor (veröffentlicht 1894)

-         Neunundvierzig Deutsche Volkslieder mit Klavierbegleitung (veröffentlicht 1894)

Brahms kannte und schätzte Johann Gottfried Herders „Stimmen der Völker in Liedern“ und „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Zu den rheinischen Volksliedsammlern um Wilhelm von Zuccalmaglio hatte er persönliche Beziehungen; die Kretschmar-Zuccalmaglio-Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen“ (1840) regten ihn mehrfach an.

Seine 14 Volkskinderlieder mit Klavierbegleitung (1858) widmete Brahms den Kindern von Clara und Robert Schumann. Lieder wie „Die Blümelein, sie schlafen“ („Sandmännchen“)  und „Marienwürmchen“ fanden durch ihn einen Platz in der Konzert- sowie der Hausmusik.

Der wissenschaftlichen Sammeltätigkeit von Franz Magnus Böhme und Ludwig Erk brachte Brahms kein Verständnis entgegen. Es ging ihm vielmehr um künstlerische Qualität. Seine Beschäftigung mit dem Volkslied „kann als eine Art ‚Veredlungsbestreben‘ am Lied angesehen werden“ (Freitag 2001, S. 194).

Die Vermischung von künstlerischem Charakter und volksliedhafter Popularität zeigt sich etwa in Brahms’ Wiegenlied op. 49/4 aus dem Jahr 1869. In seinem Lied „Guten Abend, gut’ Nacht“ griff Brahms hier ein schon aus dem 15. Jahrhundert bekanntes Liebesgedicht, eine alte Liebesformel, bzw. deren in Arnim / Brentanos „Des Knaben Wunderhorn“ mitgeteilte Version auf.. „Brahms gelangt mit dem Wiegenlied zur höheren Dignität des Genres, ohne dabei den populären Gebrauch ausschließen zu müssen“ (Freitag 2001, S. 195).

Im 20. Jahrhundert steuerte u. a. Hanns Eisler Wesentliches zur Gattung Kinderlied bei, dies vor allem in der Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Beide richteten sich gegen das bürgerliche Kunstverständnis, suchten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Sowohl politische Überzeugungen als auch eigene Erlebnisse und Erfahrungen waren dabei ausschlaggebend: u. a. die Situation der wilhelminischen Schule, der Erste Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus.

Im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit pädagogischer Musik schrieb Eisler: „Aus der neueren Pädagogik wissen wir, dass das Kind nicht so ‚kindisch’ ist, wie es der Erwachsene glaubt. Selbst die Kinderstücke der besten Autoren begehen denselben Fehler, den etwa ein schlechter Lehrer begehen würde, wenn er mit einem Kind in einer die Kindersprache nachahmenden Sprache sprechen würde“ (Eisler: Musik und Politik. Schriften 1924–1948. Leipzig 1973, S. 377).

1932 schrieben Brecht und Eisler die „Vier Wiegenlieder für Arbeitermütter“, wobei die „vertraute und konventionelle Form des Wiegenliedes so verfremdet wird, dass die betreffenden Lieder politische Lieder werden“ (Freitag 2001, S. 198). Es handelt sich bei ihnen um Darbietungskunst, wobei der traditionelle Begriff Wiegenlied mit neuem, antimilitaristischen und proletarisch-revolutionärem Geist erfüllt ist.

Nach dem Ende der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs wollten sich sowohl Brecht als auch Eisler in Deutschland am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen. Sie sahen eine ihrer gesellschaftlichen Aufgaben darin, mit ihrem künstlerischen Schaffen Kinder zu erreichen. Dabei setzten sie ihre langjährige Zusammenarbeit fort. Brecht schrieb eigens dafür Gedichte, die er 1950 veröffentlichte: „Nachkriegsliedchen“; „Die Pappel vom Karlsplatz“; „Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster“; „Lied vom Kind, das sich nicht waschen wollte“; „Kinderhymne“; „Drachenlied“; „Vom kriegerischen Lehrer“; „Willems Schloß“; „Aufbaulied“. Neben neuen Kinderliedern wurden Gedichte aus den 1930er Jahren erneut aufgenommen. Zwei Jahre später erschienen die Kinderlieder im Sonderheft „Versuche“.

Die Aufgabe, Kinderlieder zu schreiben, bereitete Eisler anscheinend große Schwierigkeiten; an Brecht schrieb er in einem Brief: „Auch bastel ich an Deinen Kinderliedern, die mir große Mühe machen. Es ist eben schwer ein passendes Arrangement zu machen, das weder vulgär noch verspielt oder gar tölpelhaft modernistisch ist. Ich entwickle mich zum musikalischen Hypochonder, es ist zum schlechte Laune kriegen“ (Brief an Brecht vom 13.8.1952; zitiert nach Freitag 2001, S. 201).

Das Zitat beweist u. a., wie ernst Eisler die Aufgabe, Kinderlieder zu komponieren, nahm und dass er dieses Genre keineswegs als ein Nebenprodukt seiner kompositorischen Tätigkeit abtat.  

Beispiel eines Kindergedichts von Brecht aus dem Jahr 1950 (es lässt sich auf die Melodie von „Maikäfer, flieg“ singen):

Nachkriegsliedchen

Tanz, Kreisel, tanz!

Die Straß ist wieder ganz.

Der Vater baut ein großes Haus

Die Mutter sucht die Steine aus.

Tanz, Kreisel, tanz!

Flieg, Drache, flieg!

Am Himmel ist kein Krieg.

Und reißt die Schnur, dann fliegt das Ding

Hoch über Moskau bis Peking.

Flieg, Drache, flieg!

Neue Gedanken sollen „freundlich, lehrhaft, nicht belehrend“ vorgebracht werden. „An traditionelle Kinderliedelemente wird angeknüpft, zugleich werden überlieferte Klischees aufgebrochen“ (Freitag 2001, S. 202). Die Lieder von Brecht und Eisler wurden in der Bundesrepublik weitgehend ignoriert und als parteipolitische Lyrik abgelehnt, während sie in die Schulen der DDR schnell Eingang fanden.

Die Kinderlieder von Brecht und Eisler seien – so Thomas Freitag – Darbietungsmusik, kaum Gebrauchsmusik für die Kinder. „Es schien nicht wichtig, dass Kinder diese Lieder singen, vielmehr sollten sie den Kindern vorgesungen und vorgelesen werden. Viele Lieder zielen so auf hohe und höchste gedankliche und künstlerische Ansprüche, sie sind mitunter kopflastig. Allerdings unterfordern Brecht und Eisler das junge Publikum auch nicht in seiner Konzentrationsfähigkeit und im Rezeptionsverhalten. Im Kind wird der künftige Erwachsene gesehen, die Kinderlieder stehen quasi zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt, weder der einen noch der anderen Altersschicht wollen sie allein zugehörig sein. Mittels kindbezogener Sujets, Verse und musikalischer Strukturen werden Erwachsene und Kinder gleichermaßen an das ‚Vergnügen des Denkens‘, an Normalität lebenslänglichen Lernens erinnert“ (Freitag 2001, S. 203).

(c) Probst-Effah 2008