Das 20. Jahrhundert in Liedern

(Seminar Probst-Effah, Wintersemester 2008/09)

(Das Skript basiert auf einem Teil der im Folgenden genannten Literatur und auf Beiträgen, die im Rahmen des Seminars entstanden sind.)

 

Inhalt

Das „Lied der Deutschen“

„Horst-Wessel-Lied“

Die Nationalhymne der DDR („Auferstanden aus Ruinen“)

Die „Internationale“

„Lili Marleen“

Zwei „Pflichtlieder“ aus dem NS-Repertoire

Das „Lied der Moorsoldaten“
Lieder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: „We shall overcome“,
„If you miss me at the back of the bus“

Antikriegslieder: „Zogen einst fünf wilde Schwäne“; Where have all the flowers gone“ (Pete Seeger); „Blowin’ in the Wind“

Kollektive Emotionalisierung durch Medien: Elton Johns „Candle in the Wind“

 

Das „Lied der Deutschen“

Literatur

Enzensberger, U. (1986): Auferstanden über alles. Berlin.

Glaner, Birgit: Art. „Nationalhymnen“ in Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG).

Günther, Ulrich (1966): „...über alles in der Welt“? Darmstadt, Neuwied.

Hansen, H. J. (1978): Heil Dir im Siegerkranz. Die Hymnen der Deutschen. Heidelberg / Oldenburg.

Greve, Uwe (1982): Einigkeit und Recht und Freiheit. Kleine Geschichte des Deutschlandliedes. Heidelberg.

Knopp, Guido / Kuhn, Ekkehard (1988): Das Lied der Deutschen. Schicksal einer Hymne. Berlin, Frankfurt am Main.

Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz.

Nationalhymnen. Texte und Melodien. Stuttgart 1982.

Nationalhymnen. 21 neue Arrangements. Mainz etc.: Schott, 1988.

Otto, Till / Otto, Uli (2007): „Deutschland, Deutschland über Alles“. Die deutsche Nationalhymne – ein „fragwürdiges Lied“. Ausführungen zur Entstehung, Rezeptionsgeschichte und Gegenwart der deutschen Nationalhymne. Regensburg (unveröff. Hausarbeit).

Ragozat, Ulrich (1982): Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon. Freiburg i.Br. 1982.

Rumler, Fritz (1999): Wigman, Walstatt, Walhall. Die bizarre Welt der Nationalhymnen. Spiegel Spezial 6/1999. S. 66.

Sievritts, Manfred (1984): Politisch Lied, ein garstig Lied?“. Wiesbaden.

Trümmler, Hans (1979): Deutschland, Deutschland über alles.

Zeichner, Jürgen (2008): Einigkeit und Recht und Freiheit. Zur Rezeptionsgeschichte von Text und Melodie des Deutschlandliedes seit 1933. Köln: PapyRossa Verlag.

Tonträger

Deutschlandlied, gesungen von Heino und Chor; erschienen bei EMI Electrola GmbH, 1978 als „unverkäufliche Sonderauflage“.

Geschichte in Liedern. Deutschland im 20. Jahrhundert. CD u. Begleitheft Texte–Noten–Erläuterungen. Heidelberg. (RAAbits Geschichte.)

CD „Hymnen der Deutschen“. 1998.

 

Nationalhymnen

Definition: „Die Nationalhymne ... ist ein in der Regel mit Text unterlegtes Musikstück, das durch staatliches Dekret zum nationalen Symbol erhoben wird ... Zusammen mit der Staats­flagge und dem Staatswappen repräsentiert sie die nationale Souveränität eines Landes. Die Nationalhymne wird bei staatlichen, sportlichen und anderen öffentlichen Anlässen gesungen bzw. gespielt“ (Glaner, Sp. 16). Oft erklingen Nationalhymnen auch zum Sendeschluss der Rundfunkanstalten, in manchen Ländern auch am Ende von Theater- und Kinovorstellungen.

Geschichte

Der Begriff „Hymne“ bedeutet ursprünglich den rituellen Opfer-, Fest- und Lobgesang zu Ehren einer Gottheit. Später gab es auch säkularisierte Hymnen (oder Oden), die Volkshelden oder weltliche Herrscher priesen. Mit dem beginnenden Nationalismus im 19. Jahrhundert „wird schließlich auch das Vaterland zum quasi-göttlichen Gegenstand der gesungenen Ver­ehrung“ (Glaner, Sp. 16). Das erste deutschsprachige Lied, das die Ehre des Vaterlandes ver­herrlicht, wird bereits Walther von der Vogelweide zugesprochen („Ir sult sprechen: willeko­men“, um 1200). Vorläufer der Nationalhymne sind auch religiöse Kampflieder wie Luthers reformatorisches „Ein feste Burg“ (1529). Als älteste Nationalhymne gilt „Wilhelmus von Nassouwe“ (1568), das seit 1932 offizielle Staatshymne der Niederlande ist.

Als wegweisend bei der weltweiten Verbreitung von Nationalhymnen gelten die französische „Marseillaise“ und das englische „God Save the King / Queen“. Die englische Hymne, deren Urheberschaft noch nicht  genau erforscht ist und die erstmals 1745 in der Öffentlichkeit er­klungen sein soll, wurde sehr populär und in der ganzen Welt von zahlreichen anderen Staa­ten adaptiert. Sie war u.a. Vorlage für das 1793 von Balthasar Gerhard Schumacher gedichtete „Heil Dir im Siegerkranz“ (erstmals veröffentlicht 1793).

Die französische „Marseillaise“ galt als Prototyp der Revolutionshymne. Sie soll in der Nacht vom 24. Zum 25. April 1792 entstanden sein, als die Nachricht der Kriegserklärung Frank­reichs an die Monarchien Deutschland und Österreich Straßburg erreichte. Inspiriert von der patriotisch aufgeheizten revolutionären Atmosphäre, schrieb der Pionierhauptmann und Gele­genheitsmusiker Cl. J. Rouget de Lisle Melodie und Text des „Chant de guerre pour l’armée du Rhin“, das am folgenden Tag uraufgeführt wurde und sich schnell verbreitete. Das Lied begleitete Truppen aus Marseille auf ihrem Weg nach Paris und erhielt daher seinen Namen. Die „Marseillaise“ diente zahlreichen Ländern in der Phase nationaler Selbstbehauptung als Vorbild. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erhielten viele Länder ihre staatliche Unabhängigkeit – so die ehemaligen Kolonien oder die Länder des zerbrochenen „Ostblocks“ – und wollten nun ihre eigenen musikalischen Staatssymbole. Bemerkenswert ist, daß außereuropäische Nationalhymnen nicht auf der musikalischen Tradition des jeweiligen Landes basieren, son­dern westeuropäische Melodietypen adaptieren. Prägend war dabei oft der Stil der durch die ehemalige Kolonialmacht importierten Militärmusik.

 

Das „Lied der Deutschen“

Beim „Lied der Deutschen“ handelt es sich um ein Lied, das schon im 19. Jahrhundert entstanden ist. Seine komplizierte Geschichte als Nationalhymne setzte jedoch erst im 20. Jahrhundert ein.

Im Januar 1797 entstand die österreichische Kaiserhymne („Gott erhalte Franz den Kaiser“). Als napoleonische Truppen auf Wien vorrückten, schrieb Joseph Haydn (1732-1809) die Melodie im Stil der englischen Hymne, die er auf seiner Londonreise (1790-1795) kennengelernt hatte. Baron Gottfried van Swieten leitete die bereits als Nationalhymne konzipierte Komposition an den Wiener Hof weiter, wo Innenminister Graf Franz von Saurau den Theologieprofessor Lorenz Leopold Haschka mit der Textdichtung beauftragte. Am 12. Februar 1797 wurde die Hymne anlässlich des Geburtstages von Kaiser Franz II. am Wiener Hoftheater uraufgeführt. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 wurde die Kaiserhymne obsolet.

Haydn erweiterte die von ihm komponierte Hymne später zu dem Variationensatz (Adagio) seines „Kaiserquartetts“ in C-dur (op. 76, Nr. 3).

Der Textdichter des „Liedes der Deutschen“ war August  Heinrich Hoffmann von Fallersleben ( 1798-1874). Das „von Fallersleben“ war kein Adelstitel, sondern diesen Zusatznamen hatte Hoffmann sich selbst gegeben, und zwar nach seinem Geburtsort, wo er am 2. April 1798 zur Welt gekommen war: Fallersleben in der Nähe von Braunschweig.

Seit 1823 lebte Hoffmann in Breslau (Schlesien). Er hatte dort seit 1830 eine Professur für Germanistik – ein damals neues Fach, begründet von Jakob Grimm. Hoffmann hatte sich nach einer Begegnung mit Grimm dem Studium der deutschen Literatur und Sprache zugewandt. Er beschäftigte sich nicht nur wissenschaftlich mit Sprache und Literatur, sondern sammelte auch Volkslieder und schrieb selbst Verse im volksliedhaften Stil („Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald“, „Alle Vögel sind schon da“, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, „Winter, ade!“).

Hoffmann engagierte sich in den Burschenschaften für eine Demokratisierung Deutschlands. In den Burschenschaften hatten sich seit 1815 Studenten und Professoren zusammengeschlossen, die in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gekämpft hatten und von den Beschlüssen des Wiener Kongresses enttäuscht waren. 1817 Wartburgfest. Gefordert wurden nationale Einheit und Freiheit und Gleichheit aller Bürger. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 wurden die Burschenschaften verboten. Trotz des Verbots gab Hoffmann gemeinsam mit Ernst Moritz Arndt, der aus politischen Gründen seine Professur verloren hatte, die „Bonner Burschenlieder“ heraus.

1840 veröffentlichte Hoffmann die Gedichtsammlung „Unpolitische Lieder“ bei dem Hamburger Verleger Hoffmann und Campe, der auch der Verleger Heinrich Heines und anderer Vormärzliteraten war. Der Titel war eine bewusste Irreführung der Zensur, denn die Gedichte riefen nach gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und forderten die nationale Einheit Deutschlands.

Im August 1841 reiste Hoffmann zu einer Kur nach Helgoland, das damals ein bekannter Badeort war. Die Nordseeinsel war seit 1806 in britischem Besitz. Während dieses Aufenthalts schrieb er passend zu Haydns Melodie drei Strophen mit dem Textanfang „Deutschland, Deutschland über alles“.

Am 28. August 1841 kam der Verleger Campe gemeinsam mit dem Stuttgarter Buchhändler Paul Neff zu Besuch nach Helgoland. Er brachte Hoffmann das erste fertige Exemplar des zweiten Teils der „Unpolitischen Lieder“. Bei dieser Gelegenheit bot der dem Verleger für vier Louisdor das „Lied der Deutschen“ an. Schon wenige Tage später erschien es als Einzeldruck.

Mit dem „Lied der Deutschen“ und den „Unpolitischen Liedern“ galt Hoffmann als ein „aufmüpfiger“ Dichter und Staatsfeind. In vielen deutschen Staaten wurden seine Gedichte und Lieder verboten. 1842 verlor er seine Professur und wurde des Landes verwiesen. Es wird in der Literatur immer wieder betont, dass Hoffmann von Fallersleben Republikaner und Demokrat gewesen sei. „Sein Gedicht [das Deutschlandlied] war nie ein chauvinistischer Fanfarenstoß, sondern stets ein leidenschaftlicher Appell an die zersplitterten Partikularstaaten des deutschen Bundes gewesen – ein Aufruf zur inneren Einigung“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 12).

Mit seiner Amtsenthebung begannen für Hoffmann Jahre der Verfolgung. Er konnte sich nirgendwo niederlassen, wurde immer wieder ausgewiesen. Unterdessen wurde sein „Lied der Deutschen“ populär. (Es soll über fünfzig Mal vertont worden sein; s. Knopp / Kuhn 1988, S. 32.) 1843 erschien es in einem Kommersbuch „Deutsche Lieder“; 1844 wurde es in Ludwig Bechsteins „Deutschem Dichterbuch“ und im „Allgemeinen deutschen Lieder-Lexikon“ abgedruckt. Nach einem unsteten Wanderleben verbrachte Hoffmann seit 1860 seine letzten Lebensjahre als Bibliothekar des Herzogs von Ratibor in Corvey – das Schloß Corvey liegt an der Weser. Dort starb er am 19. Januar 1874.

Aufführungen des Liedes: Erstmals wurde das „Deutschlandlied“ im Oktober 1841 von der von Albert Methfessel gegründeten „Hamburger Liedertafel von 1823“ in Anwesenheit des Textdichters gesungen. Es erklang im August 1890 bei der Feier der Übergabe der bislang zu Großbritannien gehörenden Insel Helgoland an Deutschland – sie war gegen Sansibar eingetauscht worden. Als offizielle Hymne setzte es sich aber nur langsam durch. Es gab keine Reichshymne, statt dessen zahlreiche regional begrenzte Volks- und Landeshymnen, so etwa die bis in die Gegenwart bekannte „Bayernhymne“ „Gott mit dir, du Land der Bayern“. Bei der Proklamation des Deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 wurde „Heil Dir im Siegerkranz“ auf die Melodie der englischen Nationalhymne gesungen. „Heil Dir im Siegerkranz“ blieb bis zum Ende des Wilhelminischen Reiches 1918 inoffiziell nationales Repräsentationslied bei patriotischen Feiern.

Um 1900 erklang das „Lied der Deutschen“ öfter bei feierlichen Anlässen, und es gehörte zum festen Bestand der deutschen Schulbücher.

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik: Während des Ersten Weltkriegs wurde die erste Strophe des Liedes oft bei Siegesmeldungen und in Augenblicken patriotischer Begeisterung angestimmt. „‚Wenn es stets zu Schutz und Trutze, brüderlich zusammenhält‘ entsprach dem deutschen Grundgefühl in jenen Tagen, ‚gegen eine Welt von Feinden‘ ganz allein auf sich gestellt zu sein“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 59). Das „Lied der Deutschen“ fungierte vor allem auch als Soldatenlied.

Während des Ersten Weltkriegs entstanden auch zahlreiche Umdichtungen, darunter „wehrkraftzersetzende“ wie die folgende, die im Mainzer Karneval 1916 gesungen wurde:

Deutschland, Deutschland schwer im Dalles*

Schwer im Dalles in der Welt,

wenn die Marmelad nit alles

brüderlich zusammenhält.

Eier, Butter, Wurscht und Schinke

Sin nur für die Reiche da

Nur mir arme, arme Schlucker

Gucke zu und kreische: Hurra

* Dalles (jiddisch) = Armut, Not

(Knopp / Kuhn 1988, S. 68)

Seit dem Ersten Weltkrieg betrachteten die Entente-Mächte den Text Hoffmann von Fallerslebens als Ausdruck imperialer Machtgier und Selbstüberheblichkeit der Deutschen. Daher wurde in den nach 1918 besetzten Gebieten das Lied verboten.

Nach 1918 verstummte die monarchische Hymne, und neben der linken „Internationale“ u. a. Kampfliedern der deutschen Arbeiterbewegung setzte sich Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ durch, allerdings hauptsächlich bei den politisch rechten Parteien und Gruppierungen, was wiederum zur Ablehnung des Liedes bei den Linken führte. Ragozat schreibt: „Als die neugewählten Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung 1919 über die Friedensbedingungen der Alliierten debattierten, unterbrach der Vorsitzende der Zentrumsfraktion die Sitzung und stimmte ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ an. Der sozialdemokratische Abgeordnete Hugo Haase rief daraufhin: ‚Kriegstreibereien.‘“ (Ragozat 1982, S. 61).

Auch jetzt entstanden wieder viele Umdichtungen. Bekannt wurde die folgende des Münchener Schriftstellers Albert Matthäi (Sommer 1919):

Deutschland, Deutschland über alles

Und im Unglück nun erst recht.

Nur im Unglück kann die Liebe

Zeigen, ob sie stark und echt.

Und so soll es weiterklingen

Von Geschlechte zu Geschlecht:

Deutschland, Deutschland über alles

Und im Unglück nun erst recht.

(Knopp / Kuhn 1988, S. 74)

Diese Zeilen wurden als sog. „Trutzstrophe“ populär. Sie entsprachen der allgemeinen Überzeugung, daß den Deutschen in und nach Versailles ein historisches Unrecht widerfahren sei.

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gab es viele Kontroversen um nationale Symbole, z. B. die Flagge. Die nationalistische Rechte wollte eine Fortsetzung des Schwarz-Weiß-Rot, die Kommunisten die rote Fahne, während Zentrum, SPD und linke Liberale Schwarz-Weiß-Rot durch Schwarz-Rot-Gold ersetzen wollten. Die Parteien der Mitte, der „Weimarer Koalition“, konnten sich durchsetzen: Schwarz-Rot-Gold wurde Reichsflagge, doch blieb Schwarz-Weiß-Rot für die Handelsflagge bestehen. (Im Dritten Reich war die Flagge wieder schwarz-weiß-rot, sie wurde gemeinsam mit der Hakenkreuzfahne gehisst.) Als es um die neue Hymne ging, ließen sich die SPD-Fraktion im Reichstag und der Reichspräsident Friedrich Ebert davon überzeugen, dass das Deutschlandlied geeignet sei – trotz seiner „Belastung“ durch „rechte Interpretatoren“.

Offiziell wurde das „Lied der Deutschen“ am 11. August 1922, dem Verfassungstag der Weimarer Republik, anerkannt, als der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert in seiner Ansprache die dritte Strophe mit „Einigkeit und Recht und Freiheit“ als Leitgedanken hervorhob: „Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; es soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten.. Sein Lied [...] soll nicht Mißbrauch finden im Parteikampf [...]; es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung“ (Ragozat 1982, S. 61).

Dennoch blieb das Lied bei den Linken diskreditiert, weil die Rechte es stark für sich beanspruchte. Gegen Ende der 1920er Jahre stand das Deutschlandlied in allen Liederbüchern der Rechtsparteien und der NSDAP, während es im sozialistischen „Jugendliederbuch“ fehlte. Kurt Tucholsky mokierte sich über „Deutschland über alles“, „jenen törichten Vers eines großmauligen Gedichts“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 81). Es sei, so Tucholsky‚ ein „wirklich schlechtes Gedicht“, „das eine von allen guten Geistern verlassene Republik zu ihrer Nationalhymne erkor“ (Günther 1966, S. 126).

Das „Dritte Reich“: Am 19. Mai 1933 erklärte Adolf Hitler im „Reichsgesetz zum Schutz nationaler Symbole“ das nationalsozialistische „Horst-Wessel-Lied“ („Die Fahne hoch“; s. u.) zum offiziellen Zusatz des Deutschlandliedes, von dem nun die erste Strophe gesungen wurde. Seit 1940 mussten Deutschland- und Horst-Wessel-Lied gemeinsam aufgeführt werden. Diese Doppelhymne wurde – wie auch viele andere nationalsozialistische oder nationalsozialistisch belastete Lieder – am 14. Juli 1945 durch den Alliierten Kontrollrat verboten.

Auch während des „Dritten Reiches“ kursierten (sowohl pro- als auch antinationalsozialistische) Parodien des Deutschlandliedes. „Mit dem Anschluß Österreichs und der Besetzung Dänemarks und der Niederlande hatte auch das Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt erneut seinen Status geändert. Aus der Utopie war ... Realität geworden, die Sehnsucht schien erfüllt“ (Kurzke 1990, S. 48 f.). Deshalb sangen deutsche Soldaten:

Von der Maas bis an die Memel,

Von der Etsch bis an den Belt

Stehen deutscher Männer Söhne

Gegen eine ganze Welt

(aus: Soldatenliederbuch, hg. vom Generalkommando des VII Armeekorps, 2. Aufl. München 1940; zit. nach Kurzke 1990, S. 49)

1942 war im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ folgende Version im Umlauf:

Deutschland, Deutschland nimmt sich alles

nimmt sich alles in der Welt

Ohne Maß bis an den Kreml

Bis es dann zusammenfällt.

(Knopp / Kuhn 1988, S. 91)

Nach 1945 verboten die Alliierten das Spielen und Singen des Horst-Wessel-Liedes und des Deutschlandliedes. Als problematisch galten und gelten nicht nur die ersten zwei Zeilen der ersten Strophe, sondern vor allem auch die Grenzziehung: Maas, Etsch und Belt markierten 1841 die Grenzen eines Staatenpaktes namens „Deutscher Bund“, wobei die Memel schon außerhalb dieser Grenzen lag, aber zu Preußen gehörte. Dieser historische Bezug wird aber überlagert durch die Erinnerung an Hitlers aggressive Expansionspolitik. „Dies wäre wohl vermieden worden, wenn die verpönte erste Strophe nur die Nachkriegsgrenzen beider deutscher Staaten nennen würde. Warum nicht ‚von der Maas bis an die Oder, von den Alpen bis zum Belt‘?“ (Knopp Kuhn 1988, S. 14). Solche pragmatischen Überlegungen fanden nach 1945 nicht statt, man wollte anscheinend den „authentischen“ Text bewahren. Andere Nationen hatten bei Textänderungen weniger Bedenken: Die französische Hymne wurde mehrfach umgedichtet, ebenso die sowjetische.

Schon vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 20. September 1949 gab es viele Diskussionen und Auseinandersetzungen um das „Lied der Deutschen“ als Staatssymbol des neuen demokratischen Staates. Im Artikel 22 des Grundgesetzes vom 25. Mai 1949 ist nur die Bundesflagge „Schwarz-Rot-Gold“ festgelegt; die Frage der Nationalhymne wurde ausgespart. Für viele Parlamentarier blieb das „Deutschland über alles“ – trotz aller gut gemeinten Deutungen – zu missverständlich.

Es gab starke Einwände gegen das Deutschlandlied, weil es in der NS-Zeit missbraucht worden war. Ein ehemaliger Häftling, der Publizist Axel Eggebrecht, erinnerte sich: „Im KZ mußten wir die heiligen Worte Recht und Freiheit nach Kommando herausbrüllen. Wächter mit Knüppeln umstanden uns, brüderliche Gesangslehrer. Und da sollen wir nun wieder singen, als sei nichts gewesen?“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 108).

Das Fehlen einer Nationalhymne machte sich nach 1945 u. a. bei internationalen Sportveranstaltungen bemerkbar. Offiziell vorgesehen war für solche Gelegenheiten Schiller/Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“. Es kam aber auch vor, dass anstelle einer Hymne der Kölner Karnevalsschlager von 1948 „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ gespielt wurde oder aber „In München steht ein Hofbräuhaus“ und bei Auftritten Konrad Adenauers „Heidewitzka, Herr Kapitän“.

In der BRD setzte sich Bundeskanzler Adenauer für das „Lied der Deutschen“ ein, ebenso der Vorsitzende der SPD Kurt Schumacher – im Gegensatz zu den meisten SPD-Mitgliedern. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) hatte Bedenken. Im August 1950 ließ er mitteilen, dass bis zum Vorliegen einer neuen deutschen Nationalhymne das Lied „Ich hab mich ergeben“ gesungen werden solle (Knopp / Kuhn 1988, S. 104). Heuss wünschte sich eine neue Nationalhymne. In einem Schreiben vom September 1950 an Carl Orff (den Heuss als Komponist einer neuen Nationalhymne auserkor, der lehnte aber ab) äußerte er die folgenden Bedenken gegenüber Hoffmann von Fallerslebens Text:

„... die erste Strophe paßt nicht mehr in die geschichtliche Landschaft, die zweite ist zu trivial und immer trivial gewesen, die dritte allein für sich wenig. Die mannigfaltigen Versuche, auf die Haydnsche Melodie einen neuen Text zu stülpen, halte ich für aussichtslos. Ich glaube, die Deutschen genug zu kennen, um zu wissen, daß dann die ‚loyalen‘ Patrioten den sogenannten amtlichen Text, die ‚militanten‘ Patrioten [...] den Hoffmannschen Text singen, und wir kommen aus dem ewigen Sängerwettstreit der stärkeren Stimmen nicht heraus“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 105).

Heuss schlug ein Lied als neue Nationalhymne vor, dessen Text von Rudolf Alexander Schröder (geb. 1878) gedichtet und dessen Melodie von Hermann Reutter komponiert worden war. Schröders „Hymne an Deutschland“ lautete:

Land des Glaubens, deutsches Land,

Land der Väter und Land der Erben,

Uns im Leben und im Sterben

Haus und Herberg, Trost und Pfand.

Sei den Toten zum Gedächtnis,

den Lebendgen zum Vermächtnis,

Freudig von der Welt bekannt,

Land des Glaubens, deutsches Land.

(Knopp / Kuhn 1988, S. 104)

Bundeskanzler Adenauer rief heftige Reaktionen im In- und Ausland hervor, als er am 18. April 1950 anlässlich eines Besuchs in Berlin bei einer Kundgebung im Titania-Palast die dritte Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ anstimmte. Er wollte eine Entscheidung in der Hymnenfrage provozieren (Ragozat 1982, S. 62). Adenauer forderte die Versammlung zum Mitsingen auf. Der Parteivorstand der SPD verließ den Raum, während die drei Westberliner Kommandanten sich von ihren Sitzen erhoben. Im Ausland gab es Kritik an Adenauers Vorgehen.

Noch wollte Heuss das Lied von R.A. Schröder und Hermann Reutter „Land des Glaubens“ als Bundeshymne durchsetzen. Zum Jahreswechsel 1950/51 erklang dieses Lied nach der Rundfunkansprache des Staatsoberhauptes über alle westdeutschen Sender. Die Öffentlichkeit blieb reserviert. Der Dichter Gottfried Benn schrieb: „Und nun die neue Nationalhymne. Der Text ganz ansprechend, vielleicht etwas marklos. Der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichsflagge“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 107). Die „Frankfurter Rundschau“ sah sich erinnert an Gesänge der Hitlerjugend zu Morgenfeiern und Sonnwendfeiern, wohl auch, weil R. A. Schröder eine NS-Vergangenheit hatte.

In seinem Brief an Adenauer vom 2. Mai 1952 gab Heuss schließlich nach: „Als mich die Frage nach einer Nationalhymne bewegte..., glaubte ich, daß der tiefe Einschnitt in unserer Volks- und Staatsgeschichte einer neuen Symbolgebung bedürftig sei.[…] Ich weiß heute, daß ich mich täuschte.[…] Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis unterschätzt“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 110). Der Bundespräsident erklärte sich bereit, unter Verzicht auf eine feierliche Proklamation der Bitte der Bundesregierung um Wiedereinführung des ‚Deutschlandliedes‘ als Staatssymbol der Bundesrepublik Deutschland zu entsprechen (Ragozat 1982, S. 63; Knopp /Kuhn 1988, S. 110). Als Stunde der „Wiedergeburt“ gilt der 6. Mai 1952. An diesem Tag veröffentlichte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung eine Erklärung (Wortlaut siehe Ragozat 1982, S. 63). Es wurde darin betont, dass bei staatlichen Veranstaltungen die dritte Strophe gesungen werden solle, obgleich alle Strophen des Liedes als Nationalhymne anerkannt seien. Diese Regelung – dass zwar alle Strophen als Nationalhymne anerkannt sind, jedoch bei staatlichen Veranstaltungen nur die dritte Strophe gesungen werden solle – führte immer wieder zu Irritationen; immer wieder war es die erste Strophe, die Anstoß erregte.

In den langjährigen Diskussionen wies die parlamentarische Opposition auf die unangeneh­men Erinnerungen hin, die das Deutschlandlied durch seine Verwendung in der NS-Zeit bei vielen hervorrief, doch ging die SPD nach und nach dazu über, die Hymne zu tolerieren. Im Ausland waren die Reaktionen geteilt. Im Ostblock gab es scharfe Ablehnung, während die drei Hohen Kommissare in Bonn übereinstimmend erklärten, es sei „deutsche Angelegenheit, die Nationalhymne zu bestimmen“. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy meinte. es sei nicht entscheidend, was die Völker singen, sondern wie sie handeln (Knopp / Kuhn 1988, S. 113 f.).

Es gab bis in die sechziger Jahre keine getrennten Olympiamannschaften der BRD und der DDR, sondern nur eine gesamtdeutsche Mannschaft. Daher mussten bei den Olympiaden in Rom 1960 und Tokio 1964 Kompromisse gefunden werden: Die deutschen Sportler wurden damals mit Beethovens Hymne „An die Freude“ geehrt. Erst seit 1968 traten auf Beschluss des Olympischen Komitees die Sportler aus der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit eigener Flagge und Hymne an.

Auch nachdem das Deutschlandlied seit 1952 offizielle Hymne war, gab es weiterhin zahlreiche Auseinandersetzungen. Das zeigt z.B. seine Behandlung in den Funkhäusern der einzelnen ARD-Anstalten. Anfang 1974 erklang die dritte Strophe nur noch am Sendeschluss im Bayerischen und Hessischen Rundfunk und im Sender Freies Berlin. Der Westdeutsche Rundfunk hatte zu dieser Zeit die Ausstrahlung der Hymne eingestellt, nahm sie bald aber wieder im dritten Programm auf (Knopp / Kuhn 1988, S. 124). 1977 regte Bundespräsident Walter Scheel an, im Fernsehen an vier herausgehobenen Tagen des Jahres das Deutschlandlied zu spielen: am 23. Mai, dem Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes (Verfassungstag); am 17. Juni, dem Tag der deutschen Einheit; am 20. Juli, dem Gedenktag für die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime; am Volkstrauertag (2 Sonntage vor dem 1. Advent). Am 8. März 1985 votierte der Fernsehrat des ZDF einstimmig für die tägliche Ausstrahlung der Nationalhymne zum Programmschluss; kurz darauf folgte die ARD.

In den Schulen gehört die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu den für das 4. Schuljahr verbindlichen Lerninhalten. Auch hier erregte die erste Strophe mehrmals Anstoß: So gab es im Frühjahr 1978 in Baden-Württemberg einen Parteienstreit, als der damalige Ministerpräsident Filbinger an alle Schulen des Landes eine mit allen drei Strophen besungene Schallplatte, dargeboten von dem Sänger Heino, schicken wollte. In Berlin gab es Ärger, als der Charlottenburger Volksbildungsstadtrat Roeseler die drei Strophen des Deutschlandliedes an die Lehrer mit der Anweisung schickte, den Text allen Kindern des Bezirks in den vierten Klassen bekannt zu machen. Es gab Proteste von SPD- und FDP-Stadträten, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft reichte Klage ein (Knopp / Kuhn 1988, S. 126 f.). Stein des Anstoßes war dabei die belastete erste Strophe.

Ein Briefwechsel zwischen Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl vom August 1991 legte für das wiedervereinte Deutschland fest, dass seit dem 3. Oktober 1990 die Nationalhymne der bisherigen Bundesrepublik – reduziert auf ihre dritte Strophe – „für das vereinte deutsche Volk gilt“. Die erste Strophe ist nicht verboten, jedoch bei staatlichen Anlässen verpönt.

Aber nicht erst seit 1945, sondern von Anfang an war das „Deutschlandlied“ umstritten. Schon Friedrich Nietzsche äußerte dazu: „...die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist“ (Ragozat 1982, S. 61). Der Historiker Golo Mann hingegen nannte den Text „zarteste Lyrik“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 7). Er betonte, dass andere Hymnen viel aggressiver seien: Die Marseillaise strotze geradezu vor Militarismus. Da werde „zu den Waffen“ gerufen, da spritze Blut („Qu’un sang impur abreuve nos silons“ – „Das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen“), werde den Feinden Frankreichs Rache angedroht. In der US-Hymne weht das Sternenbanner – „hoch und tapfer“, „unter den Blitzen der Schlacht“.

Das Deutschlandlied „ist ein Paradebeispiel dafür, daß es keinen Text an sich gibt, sondern nur einen Text, der von ganz bestimmten Lesern (Sängern) mit einem ganz bestimmten Erwartungshorizont verwendet wird ... Jede Epoche der deutschen Geschichte sang mit denselben Worten ein anderes Lied“ (Kurzke 1990, S. 50).

 

Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch“)

Literatur

Günther, Ulrich (1966): „...über alles in der Welt?“ Studien zur Geschichte und Didaktik der deutschen Nationalhymne. Neuwied und Berlin.

Knopp, Guido / Kuhn, Ekkehard (1988): Das Lied der Deutschen. Schicksal einer Hymne. Berlin, Frankfurt am Main.

Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz.

Lazar, Imre (1980): Der Fall Horst Wessel. Stuttgart und Zürich.

Wulf, Joseph (1966): Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation. 2. Aufl. 1966.

Tonträger, Fernsehsendungen

CD „Hymnen der Deutschen“. Stimmen des 20. Jahrhunderts. Deutsches Historisches Mu­seum, Deutsches Rundfunkarchiv 1998.

„Verklärt, verhaßt, vergessen“ – Horst Wessel. Film von Ernst-Michael Brandt. mdr 1997.

 

Am 27. März 1933 bestimmte der damalige bayerische Kulturminister Hans Schemm, das Horst-Wessel-Lied solle in allen Schulen des Landes Bayern neben dem Deutschlandlied gesungen werden. Später wurden das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied im gesamten Deutschen Reich eine untrennbare Einheit. Seit 1940 war es Vorschrift, bei offiziellen Anlässen nach dem Deutschlandlied das Horst-Wessel-Lied zu spielen. In vielen Liederbüchern des „Dritten Reichs“ erscheinen beide Hymnen am Beginn (z.B. im SA-Liederbuch, 1939; SS-Liederbuch, 1937; Liederbuch der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, 1936) oder am Schluss (Liederbuch der deutschen Soldaten, 1939). Welche besondere Bedeutung dem Singen des Horst-Wessel-Liedes zukam, zeigt sich u.a. in einer Anweisung in dem Liederbuch „Singkamerad“ (2. Aufl. München 1934): „Die 1. Und 4. Strophe dieses neuen deutschen Weiheliedes werden mit erhobenem rechten Arm gesungen.“

Wie wichtig dem Regime beide Hymnen waren, zeigt auch eine spätere Anweisung, wie beide Lieder zu spielen seien: In den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer vom 15.2.1939 hieß es: „Der Führer hat entschieden, daß das Deutschlandlied als Weihelied im Zeitmaß ¼ = M 80 zu spielen ist, während das Horst-Wessel-Lied als revolutionäres Kampflied schneller gespielt werden soll“ (Wulf 1963, S. 128).

Horst Wessel, war ein Berliner SA-Sturmführer. Das nach ihm benannte Lied schrieb er 1927 (nach anderen Zeugnissen 1929) für seinen SA-Sturm.

Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen

SA marschiert mit ruhig festem Schritt

Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen

Marschieren im Geist in unsern Reihen mit.

Die Straße frei den braunen Bataillonen

Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann

Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen

Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an.

Zum letztenmal wird nun Appell geblasen

Zum Kampfe stehen wir alle schon bereit

Bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen

Die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit.

1929 erschien das Lied erstmals im Druck; seit 1930 findet es sich in Liederbüchern der NSDAP – wobei es im Laufe der Jahre einige Textänderungen gab (s. Kurzke 1990, S. 133). So wurden einige kämpferische Formulierungen später, als die NSDAP Regierungspartei war, eliminiert.

Horst Wessel wurde 1907 als Sohn eines Pfarrers in Bielefeld geboren. Er studierte Jura an der Berliner Universität und wurde Mitglied einer studentischen Verbindung. 1926, im Alter von 19 Jahren, trat er der NSDAP und der SA bei. 1930 starb er im Alter von 23 Jahren, laut NS-Diktion nach einem Straßenkampf mit Kommunisten. Tatsächlich jedoch wurde Wessel Opfer einer Schießerei aus mehr privatem als politischem Anlass. Wessel wurde dabei schwer verletzt und starb nach einigen Tagen.

Mit Wessels frühem Tod begann die Karriere des Liedes. Ihm wurde mit viel propagandistischem Aufwand der Glorienschein einer Hymne der nationalsozialistischen „Bewegung“ verliehen. Der Autor, seine Biographie und die Entstehungsgeschichte des Liedes wurden verfälscht, idealisiert, und so avancierte das Lied zu einer Art nationalsozialistischem Glaubensbekenntnis. Der damalige Gauleiter der NSDAP von Berlin, Joseph Goebbels, war es, der in Wessels Tod die Chance witterte, „einen Märtyrer zu schaffen. Er erhob den Toten zum ‚Blutzeugen der nationalsozialistischen Bewegung‘. Bei seiner Beisetzung wurde das Lied zum erstenmal öffentlich gesungen, verbreitete sich rasch im ganzen Reich und wurde Kultgesang der braunen Kolonnen“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 86).

Zur Herkunft der Melodie des Horst-Wessel-Liedes gibt es viele unterschiedliche Vermutungen und Behauptungen. Kurzke hält eine Beziehung zur Tradition sozialistischer Arbeiterlieder für wahrscheinlich. „Da relativ viele nationalsozialistische Lieder aus kommunistischen Arbeiterliedern entstanden sind, wäre das nicht ungewöhnlich“ (Kurzke 1990, S. 129). In den NS-Liederbüchern finden sich zur Herkunft der Melodie des Horst-Wessel-Liedes folgende Angaben: „Horst Wessel“, „Volksweise“ oder „nach einem alten Soldatenlied“.

Das Horst-Wessel-Lied wurde häufig parodiert. Die bekannteste Parodie ist der „Kälbermarsch“ aus Bertolt Brechts „Schweyk im zweiten Weltkrieg“ (1943). „Der Dicke“ singt in der 7. Szene die folgende Variante des Liedes:

Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen,

SA marschiert mit ruhig festem Schritt,

Kameraden, deren Blut vor unserm schon geflossen,

sie ziehn im Geist in unsern Reihen mit.

Schweyk kontert mit dem „Kälbermarsch“, den er zu der Begleitung einer Militärkapelle singt, „und zwar so“, wie es in den szenischen Anweisungen heißt, „daß er den Refrain zu der Melodie singt, die Vorstrophen aber zu den Trommeln dazwischen“ (Brecht, Schweyk):

Hinter der Trommel her

Trotten die Kälber

Das Fell für die Trommel

Liefern sie selber.

Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen

Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.

Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen

Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.

Sie heben die Hände hoch

Sie zeigen sie her

Sie sind schon blutgefleckt

Und sind noch leer.

Der Metzger ruft…

Sie tragen ein Kreuz voran

Auf blutroten Flaggen

Das hat für den armen Mann

Einen großen Haken

Der Metzger ruft…

Es gibt weitere Parodien des Horst-Wessel-Liedes: siehe z. B. Inge Lammel, Das Arbeiterlied, Frankfurt am Main 1973, S. 205 f.

1945 wurde das Horst-Wessel-Lied zusammen mit dem Deutschlandlied vom Alliierten Kontrollrat verboten.

 

Die Nationalhymne der DDR („Auferstanden aus Ruinen“)

Literatur

Amos, Heike (1997): Auferstanden aus Ruinen... Die Nationalhymne der DDR 1949 bis 1990. Berlin. (inhaltlich noch nicht mit einbezogen!)

100 Jahre Deutsches Arbeiterlied. Eine Dokumentation. 2 LPs + Textheft. Eterna 810015-016.

Günther, Ulrich (1966): ... über alles in der Welt? Studien zur Geschichte und Didaktik der deutschen Nationalhymne. Neuwied und Berlin.

Knopp, Guido / Kuhn, Ekkehard (1988): Das Lied der Deutschen. Schicksal einer Hymne. Berlin, Frankfurt am Main.

Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz 1990.

Leben Singen Kämpfen (1958). Liederbuch der deutschen Jugend. Hg. vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Berlin/DDR.

Ragozat, Ulrich (1982): Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon. Freiburg i.Br. (Lf. 411)

Melodie und Text in: Leben Singen Kämpfen. Liederbuch der deutschen Jugend. Hg. vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Berlin/DDR 1958; ebenso in Ulrich Günther: „... über alles in der Welt“, 1966

Tondokumente

CD „Dem Morgenrot entgegen“. Edition BARBArossa 1995.

CD „Arsch huh, Zäng ussenander!“ Kölner Musiker gegen Rassismus und Neonazis. Köln, EMI, 1992

CD „Hymnen der Deutschen“. Stimmen des 20. Jahrhunderts. Deutsches Historisches Mu­seum, Deutsches Rundfunkarchiv 1998.

 

Seit 1949 gab es zwei deutsche Staaten, die ihre politischen und ideologischen Gegensätze stark betonten. Die Unterschiede drückten sich auch in verschiedenen Staatssymbolen aus. Die Flagge der DDR war wie die der Bundesrepublik schwarz-rot-gold, doch wurde sie mit Hammer und Sichel im Ährenkranz versehen. Bei der Wahl einer Nationalhymne versuchte die DDR, die Last der Tradition abzustreifen – im Unterschied zur Bundesrepublik, in der das  „Lied der Deutschen“ nach vielen Debatten wieder als Nationalhymne eingeführt wurde. Für die DDR gab es eine neue Nationalhymne, verfasst von Johannes R. Becher und Hanns Eisler. Offizielle Gültigkeit erlangte diese 1944 bzw. 1949 komponierte Nationalhymne durch einen Beschluss des Ministerrates der Regierung am 5. November 1949.

Hanns Eisler: geb. 1898, gest. 1962. War in Wien Kompositionsschüler von Arnold Schön­berg. Übersiedelte 1924 nach Berlin. Nach Hitlers Machtergreifung ging er ins Exil, 1938 in die USA, wo er 1948 aus politischen Gründen ausgewiesen wurde. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Wien zog Eisler 1950 in die DDR. Für die gemeinsam mit Johannes R. Becher verfasste Nationalhymne erhielt er 1950 den Nationalpreis der DDR.

Ragozat schreibt über Eisler: „Der Komponist gilt als einer der prominentesten Vertreter mas­senwirksamer Musikgestaltung in der DDR“ (Ragozat 1982, S. 73). Und zur musikalischen Gestaltung der Hymne meint Ragozat: „In Melodieoriginalität und der einfachen, harmonischen Ausformung ist von Eislers Schülerschaft bei Schönberg nicht viel zu spüren“ (Ragozat 1982, S. 73). Ragozat scheint Eislers Kompositionen nicht zu kennen und ist evtl. beeinflusst von der in der BRD während des Kalten Krieges verbreiteten einseitigen Festlegung Eislers auf einige wenige „Kampflieder“ und die Nationalhymne der DDR. Auch in der DDR gab es eine Blickverengung auf Eislers kompositorisches Schaffen: Inge Lammel z.B. lässt in „Kampfgefährte – unser Lied“ wichtige Fakten aus Eislers Biographie unerwähnt, z. B. den Unterricht bei Arnold Schönberg und das amerikanische Exil.

Johannes R. Becher, der Textverfasser, wurde 1891 in München geboren. Durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wurde er Pazifist. 1923 trat er in die KPD ein. Er wurde Redakteur der „Roten Fahne“. Während des „Dritten Reichs“ wurde Becher aus Deutschland ausgebürgert. Im sowjetischen Exil arbeitete er von 1935 bis 1945 als Redakteur in Moskau. 1945 kehrte er nach Deutschland zurück. In der DDR wurde er 1954 Minister für Kultur. Er starb 1958 in Berlin.

Es heißt, „Auferstanden aus Ruinen“ sei unmittelbar nach der Gründung der DDR auf Wunsch des damaligen Staatspräsidenten Wilhelm Pieck verfasst worden. Hinsichtlich des Entstehungsdatums gibt es jedoch voneinander abweichende Angaben. Ulrich Günther nennt für den Text das Entstehungsjahr 1942, für die Melodie 1944. Auch Knopp / Kuhn geben 1942 als Entstehungsjahr des Textes an, während Ragozat das Entstehungsjahr 1942 für un­wahrscheinlich hält, denn es habe zu diesem Zeitpunkt noch keinen Grund gegeben, „Auferstanden aus Ruinen“ zu singen (Ragozat 1982, S. 74). Kurzke hebt hervor, dass Becher im Moskauer Exil zahlreiche Deutschlanddichtungen geschrieben habe. (Es ist bekannt, dass sich viele Emigranten im Exil intensiv mit Deutschland und ihrer möglichen Rückkehr nach der Befreiung vom Nationalsozialismus beschäftigten.) Als Becher im Juni 1945 als einer der ersten Exilanten in die verwüstete Heimat zurückkehrte, hätten sich „in seinem Gepäck ... vielerlei programmatische Vorarbeiten für den geistigen Wiederaufbau“ Deutschlands gefunden (Kurzke 1990, S. 154).

Nach Knopp / Kuhn schrieb Becher in Moskau folgendes Gedicht:

Auferstanden aus Ruinen

Und der Zukunft zugewandt,

Laß uns Dir zum Guten dienen,

Deutschland unser Vaterland,

Deine Einheit zu erringen,

Haben wir uns fest geeint,

Alte Not gilt es zu zwingen,

Daß die Sonne, daß die Sonne

Über Deutschland scheint.

(Knopp / Kuhn 1988, S. 98)

Später nahm Becher verschiedene Textänderungen vor. 1949 übersandte er dem Komponisten Ottmar Gerster seinen Text mit der Bitte um eine Vertonung. Kurze Zeit danach traf Becher Hanns Eisler bei einer Goethe-Feier in Warschau und erzählte ihm von Piecks Auftrag. Es wird erzählt, Eisler habe sich – im Geburts- und Wohnhaus Frédéric Chopins! – sofort an den Chopin-Flügel gesetzt und aus dem Stegreif eine Melodie entworfen, die Becher gefallen habe (Knopp / Kuhn 1988, S. 99). Eine schöne Legende?

Die beiden Fassungen von Gerster und von Eisler wurden im November 1949 im Berliner „Club der Kulturschaffenden“ und später vor dem Politbüro der SED dargeboten. Die Melodie von Eisler wurde in beiden Fällen bevorzugt. Am 7. November 1949, bei einer Feier zum 32. Jahrestag der Oktoberrevolution, sang der Chor des Berliner Rundfunks die Hymne erstmals öffentlich.

Text der DDR-Hymne:

Auferstanden aus Ruinen

Und der Zukunft zugewandt,

Laß uns dir zum Guten dienen,

Deutschland, einig Vaterland.

Alte Not gilt es zu zwingen,

Und wir zwingen sie vereint,

Denn es muß uns doch gelingen,

Daß die Sonne schön wie nie

Über Deutschland scheint.

Glück und Frieden sei beschieden

Deutschland, unserm Vaterland.

Alle Welt sehnt sich nach Frieden,

Reicht den Völkern eure Hand.

Wenn wir brüderlich uns einen,

Schlagen wir des Volkes Feind!

Laßt das Licht des Friedens scheinen,

Daß nie eine Mutter mehr

Ihren Sohn beweint.

Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,

Lernt und schafft wie nie zuvor,

Und der eignen Kraft vertrauend,

Steigt ein frei Geschlecht empor.

Deutsche Jugend, bestes Streben

Unsres Volks in dir vereint,

Wirst du Deutschlands neues Leben.

Und die Sonne schön wie nie

Über Deutschland scheint.

Der Text von Becher passte anfänglich noch in das Konzept der DDR-Führung, er war an das gesamte Deutschland gerichtet („einig Vaterland“). Seit 1972 jedoch hielt die Regierung unter Staats- und Parteichef Erich Honecker das Bekenntnis zu „Deutschland, einig Vaterland“ für nicht mehr tragbar, so dass der Wortlaut verschwand und die Hymne nur noch instrumental aufgeführt wurde. Verboten wurde der Text nicht, aber er wurde nicht mehr gesungen.

Wegen Eislers Melodie gab es Plagiatvorwürfe. Es hieß, sie würde sich an einen Schlager der vierziger Jahre anlehnen: In einem Film sang Hans Albers das von Peter Kreuder komponierte Lied „Good-bye, Jonny“ (s. Günther 1966, S. 4). Kreuder soll sich wegen der Urheberrechte sogar an die UNO gewandt haben (Ragozat 1982, S. 75). Es wird berichtet, dass Kreuder bei seiner DDR-Tournee 1976 das Publikum verunsichert habe, als er seinen Evergreen spielen ließ und sich die Zuhörer andächtig verhielten und von den Plätzen erhoben (Ragozat 1982, S. 75).

Die politischen Umwälzungen seit 1989 führten zu einer Wiederbelebung der Diskussion über eine zeitgemäße Deutschland-Hymne. Bechers Hymnentext wurde offiziell wieder zugelassen (Beschluss der Volkskammer der DDR am 3. Januar 1990). Die Textzeile „Deutschland, einig Vaterland“ wurde sogar einer der häufigsten Slogans in Sprechchören und auf Transparenten. Die „Auferstehung“ der DDR-Hymne im Jahr 1990 war jedoch nur von kurzer Dauer, denn am 3. Oktober 1990 wurde sie durch die Hymne der Bundesrepublik „abgewickelt“.

In den neunziger Jahren entstanden auch einige Kompositionen, in denen versucht wurde, verschiedene Hymnen miteinander zu verbinden, was nicht selten zu politischen Kontroversen führte. So gab aus Anlass der Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit 1998 in Hannover die Niedersächsische Landesregierung an den Berliner Komponisten Bardo Henning ein Werk in Auftrag. Dessen Idee, beide Hymnen, die in den letzten vierzig Jahren in beiden Teilen Deutschlands verschiedene Wertsysteme repräsentiert hatten, musikalisch zu vereinen und darüber hinaus mit dem Schlager „Good-bye, Jonny“ zu verbinden, löste einen Streit zwischen den Parteien und Ländern aus, auch der Kanzler äußerte sich ablehnend, und der Konflikt gipfelte in der Absage des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, an den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit teilzunehmen.

Als am 14. Juni 1994 Bundeskanzler Kohl in Bonn das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ eröffnete, das die Historie beider deutscher Staaten dokumentieren sollte, spielte das Bundesjazzorchester (BuJazzO) unter großem Beifall ein Arrangement des Bandleaders Peter Herbolzheimer, das aus der Europahymne, dem Deutschlandlied und der Hymne der DDR bestand und das bereits 1989 im Rahmen einer Deutschland-Revue erstmals öffentlich aufgeführt worden war.

 

Die Internationale

 

Literatur

Dithmar, Reinhard (1993): Arbeiterlieder 1844 bis 1945. Neuwied, Kriftel, Berlin.

Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz.

Lammel, Inge (1975): Das Arbeiterlied. Leipzig.

Lammel, Inge (1984): Arbeitermusikkultur in Deutschland 1844–1945. Leipzig.

Moßmann, Walter / Schleuning, Peter (1978): Alte und neue politische Lieder. Reinbek.

Sauer, Michael (2008): Historische Lieder. Seelze-Velber: Klett / Kallmeyer. (Buch + CD). S. 103–111. (Lf 509)

Stern, Annemarie (o. J.): Lieder gegen den Tritt. Politische Lieder aus fünf Jahrhunderten. Oberhausen.

Tondokumente

CD „Dem Morgenrot entgegen“. Edition BARBArossa 1995.

100 Jahre Deutsches Arbeiterlied. Eine Dokumentation. 2 LPs + Textheft. Eterna 810015-016

Karlheinz Stockhausen „Hymnen“

 

Die „Internationale“ entstand zur Zeit der Pariser Commune im Juni 1871 bzw. unmittelbar nach deren Sturz. Textverfasser war Eugène Pottier (1816-1887), tätig war als Packer, Dekorationsmaler und Stoffmusterzeichner, bekannt auch als Chansonnier, Verfasser von Revuen, Schlagern und Singspielen für Vorstadttheater, der sich in der Arbeiterbewegung stark engagierte. Nachdem die Commune niedergeschlagen war, flüchtete er ins Ausland, kehrte aber nach der Amnestie 1880 nach Paris zurück und arbeitete dort weiterhin politisch. Pottier gilt als der produktivste und bekannteste Liedermacher der Commune. 1908 wurde auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise unter großer Anteilnahme der Bevölkerung sein Denkmal enthüllt.

Die Melodie der „Internationale“ schrieb Pierre Degeyter (1848-1932) im Jahr 1888. Er war von Beruf Drechsler und tätig als Chormeister eines Arbeitergesangvereins in Lille. Die Vertonung soll im Juni 1888 erstmals öffentlich erklungen sein (Lammel 1975, S. 229). Die französischsprachige Urfassung (Kurzke 1990, S. 109 f.) hatte sechs Strophen, deren deutsche (wörtliche, nicht poetische) Übersetzung lautet:

Steht auf, Verdammte der Erde!

Steht auf, Galeerensklaven des Hungers!

Die Vernunft brodelt in ihrem Krater,

Das ist der endgültige Ausbruch.

Das Vergangene wollen wir ausmerzen,

Versklavte Masse, steh auf, steh auf!

Die Welt wird sich von Grund auf ändern:

Wir sind nichts, wir wollen alles sein!

Dies ist der letzte Kampf:

Schließen wir uns zusammen, und morgen

Wird die Internationale

Die menschliche Ordnung sein.

Es gibt keine höheren Retter:

Keinen Gott, keinen Cäsar, keinen Tribun,

Werktätige, retten wir uns selber!

Verordnen wir das Allgemeinwohl!

Damit der Dieb seine Beute wieder herausgibt,

Damit der Geist aus seinen Fesseln befreit wird,

Blasen wir selbst in unser Feuer,

Schmieden wir das Eisen, solange es glüht!

Dies ist der letzte Kampf...

Der Staat unterdrückt und das Gesetz betrügt;

Die Steuer läßt den Unglücklichen zur Ader;

Der Reiche hat keine Pflicht;

Das Recht der Armen ist ein leeres Wort.

Wir haben lange genug in der Unterdrückung geschmachtet.

Die Gleichheit will andere Gesetze,

„Keine Rechte ohne Pflichten, sagt sie,

Ebenso: Keine Pflichten ohne Rechte!“

 Dies ist der letzte Kampf...

Scheußlich in ihrer Verklärung

Die Könige des Bergwerks und der Eisenbahn.

Haben sie etwas anderes getan,

Als die Arbeit auszuplündern?

In den Geldschränken der Bande

Ist das, was geschaffen wurde, zu Geld geworden.

Wenn das Volk beschließt, daß ihm zurückgegeben werden muß,

Will es nur haben, was ihm gehört.

Dies ist der letzte Kampf...

Die Könige benebeln uns mit Qualm,

Friede zwischen uns, Krieg den Tyrannen!

Wenden wir den Streik an in den Armeen.

Gewehrkolben nach oben, sprengen wir das Glied!

Wenn sie darauf bestehen, diese Kannibalen,

Aus uns Helden zu machen,

Werden sie bald erfahren, daß unsere Kugeln

Für unsere eigenen Generäle sind!

Dies ist der letzte Kampf...

Arbeiter, Bauern, wir sind

Die große Partei der Werktätigen;

Die Erde gehört nur den Menschen,

Die Müßiggänger sollen anderswo bleiben.

Wieviel weiden sich an unserem Fleisch!

Aber wenn die Raben und die Geier

Eines Morgens verschwunden sind,

Wird die Sonne immer scheinen.

Dies ist der letzte Kampf...

(Moßmann / Schleuning 1978, S. 178 ff.; Kurzke 1990, S. 120 f.)

Zum Titel des Liedes (s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 180): Er bezieht sich auf die „Internationale Arbeiterassoziation“, die 1864 in London gegründet worden war und deren Gründungsmanifest und die Statuten Karl Marx verfasst hatte. Mitglieder waren vor allem englische und französische Arbeiter, aber auch Vertreter aus Deutschland, Italien, Polen und der Schweiz. Pottier gehörte zu den französischen Sektionen. In ganz Frankreich hatte die Internationale 245 000 Mitglieder.

Das Lied wurde zunächst in den Pariser Sektionen der „Internationalen Arbeiterassoziation“ gesungen. Mitte der neunziger Jahre wurde es in Deutschland bekannt und es tauchte um 1907 erstmalig in deutschen Arbeiterliederbüchern auf – „um von den Polizeibehörden sofort konfisziert zu werden! Auch Gefängnisstrafen wurden für das öffentliche Singen der Internationale verhängt“ (Lammel 1975, S 229).

Zur Melodie schreiben Mossmann und Schleuning: Sie „trägt wirklich alle Anzeichen des Außerordentlichen. Sie ist lang und differenziert, aus einem Guß, ohne schwache Stellen und verlegene Wendungen! Es ist, als ob hinter dieser Melodie ein erfahrener, feuriger Komponist stände, ein Verdi in seinen besten Jahren!“ Mossmann und Schleuning sehen Einflüsse französischer und italienischer Freiheitslieder, wie sie auch in vielen Opern der damaligen Zeit vorkamen (Mossmann / Schleuning 1978, S. 198 f.).

Im Laufe der Zeit entstanden zahlreiche melodische Varianten, die z. Tl. die differenzierte Melodie vereinfachten und glätteten (s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 208 f.).

Zunächst war die „Internationale“ nur in Nordfrankreich bekannt, verbreitete sich aber gegen Ende des Jahrhunderts in ganz Frankreich und verdrängte bei den Sozialisten den Gesang der „Marseillaise“. Die weltweite Karriere des Liedes begann aber erst mit der Jahrhundertwende. In Deutschland erschienen seit 1901 verschiedene Textdrucke und Übersetzungen, 1910 der erste Notendruck, und zwar in einer Chorfassung (mit der Übersetzung Luckhardts) des für die Arbeiterchorbewegung wichtigen Komponisten und Dirigenten Adolf Uthmann.

Die „Internationale“ wurde nach der Oktoberrevolution Staatshymne der Sowjetunion. 1935 verschwand auf Druck Moskaus die fünfte Strophe aus der französischen Fassung (Einzelheiten dazu s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 182 und 185). „Man fürchtete offenbar, die Aufforderung, auf die eigenen Generäle zu schießen, könnte auf eine unerwünschte Weise konkretisiert werden“ (Kurzke 1990, S. 112). 1943 – in der Stalinära – erhielt die Sowjetunion eine neue Hymne, die kein Revolutionslied mehr ist, sondern ein Preislied der Heimat und des Vaterlandes mit einer choralartigen Melodie (Verfasser der Melodie: Alexander Alexandrow). Als Parteihymne blieb die „Internationale“ bestehen.

„Mit dem Vordringen der Internationale in andere Länder um 1900 ergab sich das Problem der Übersetzungen. Meist stellen die Übersetzungen Bearbeitungen dar, schon durch die häufige Reduzierung der Strophenzahl“ (Moßmann / Schleuning 1978, S. 183). In Deutschland entstanden mehrere Fassungen, die sich eine Zeitlang nebeneinander hielten; allmählich setzte sich in der deutschen Arbeiterbewegung die seit 1910 belegte Version von Emil Luckhardt durch:

Wacht auf, Verdammte dieser Erde,

die stets man noch zum Hungern zwingt!

Das Recht wie Glut im Kraterherde

Nun mit Macht zum Durchbruch dringt.

Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!

Heer der Sklaven, wache auf!

Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger,

alles zu werden, strömt zuhauf!

Völker, hört die Signale!

Auf zum letzten Gefecht!

Die Internationale

Erkämpft das Menschenrecht!

Es rettet uns kein höh'res Wesen,

kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun.

Uns aus dem Elend zu erlösen,

können wir nur selber tun!

Leeres Wort: des Armen Rechte!

Leeres Wort: des Reichen Pflicht!

Unmündig nennt man uns und Knechte,

duldet die Schmach nun länger nicht!

Völker, hört...

In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute,

wir sind die stärkste der Partei'n.

Die Müßiggänger schiebt beiseite!

Diese Welt muß unser sein;

Unser Blut sei nicht mehr der Raben

Und der nächt'gen Geier Fraß!

Erst wenn wir sie vertrieben haben,

dann scheint die Sonn' ohn' Unterlaß!

Völker, hört...

„Gegenüber dem Urtext kommt es zu einer Aufweichung der aggressiven Frontstellung im Sinne einer Verallgemeinerung, einer Romantisierung und einer Verbürgerlichung. Die radikalsten Partien fehlen“ (Kurzke 1990, S. 116). „Eine solche Romantisierungstendenz zeigt auch die gleichwohl sehr effektvolle Übersetzung des Refrains. Ein ‚letztes Gefecht‘ erinnert metaphorisch an vorindustrielle Treffen mit Degen und Säbel.[…] Auch die im französischen Text fehlenden ‚Signale‘ (wohl Trompeten- oder Hornsignale) erinnern eher an Feldzüge der Feudalzeit als an moderne Arbeitskämpfe. Außerdem schwingt immer etwas Apokalyptisches mit bei der Vorstellung eines ‚letzten Gefechts‘, als werde danach endgültig die Heilszeit ausbrechen […]. Das ‚Menschenrecht‘ im deutschen Text ist eine Forderung der bürgerlichen, nicht speziell der proletarischen Revolution“ (Kurzke 1990, S. 116 f.).

Die Fassung von Luckhardt hat viele altertümliche sprachliche Wendungen. Es gab mehrere Versuche, die „Internationale“ neu zu übersetzen, so etwa von Erich Weinert (1890-1953). Als Weinert 1937 am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm, schrieb er eine sechsstrophige Neufassung (s. Mossmann / Schleuning 1978, S. 191 f.), deren Refrain lautet:

Zum letzten Kampf! Ihr alle,

Ihr Völker im Verein!

Die Internationale

Wird alle Menschheit sein!

Mossmann / Schleuning halten diese Übersetzung für „hervorragend“, allerdings erfordere sie eine neue Melodie, denn sie passe schlecht auf die alte.

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts erklang die „Internationale“ bei vielen Demonstrationen der Linken, im allgemeinen begleitet von einer Schalmeienkapelle. Mit dem Erstarken des Faschismus bzw. Nationalsozialismus gab es Versuche, durch Umtextierungen das ursprüngliche Lied zu verdrängen, so etwa mit der folgenden „Hitlernationale“ aus dem Jahr 1930 (gedruckt in „Deutschland erwache. Das kleine Nazi-Liederbuch“. 23. Auflage, Sulzbach [1931]):

Auf Hitlerleute, schließt die Reihen,

zum Rassenkampf sind wir bereit.

Mit unserem Blut wollen wir das Banner weihen,

Zum Zeichen einer neuen Zeit.

Auf rotem Grund in weißem Felde

Weht unser schwarzes Hakenkreuz.

Schon jubeln Siegessignale

Schon bricht der Morgen hell herein,

Der nationale Sozialismus

Wird Deutschlands Zukunft sein!

etc.

(Kurzke 1990, S. 124 f.)

Die Glanzzeit der „Internationale“ in Deutschland waren die Jahre nach der Oktoberrevolution bis 1933, als die Nationalsozialisten das Lied verboten. Wer es dennoch wagte, es zu singen, wurde mit Haft bestraft.

Eine wichtige Rolle spielte die „Internationale“ als Erkennungslied der internationalen Brigaden während des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939). 1938 erschien das von Ernst Busch herausgegebene Liederbuch des Spanischen Bürgerkriegs „Canciones de las Brigadas Internacionales“. Der Band enthielt Strophen der „Internationale“ in 14 verschiedenen Sprachen (s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 254 ff.).

In der BRD wurde die „Internationale“ von der KPD und DKP tradiert. Eine Renaissance erlebte sie in der Studentenbewegung. Zu einer Wiederbelebung kam es auch 1989. Die Hunderttausende, die im Oktober 1989 in Leipzig demonstrierten, sangen die „Internationale“ – nicht für, sondern gegen den kommunistischen Staat. „Die singende Menge mißt den kommunistischen Staat an seiner eigenen Tradition und wendet sich gegen ihn. Der Bedränger ist nicht mehr der Kapitalist, sondern die Nomenklatura, und als Heer der Sklaven versteht sich das der Theorie nach längst befreite Volk. Wieder einmal [...] zeigt sich, wie leicht sich die alten revolutionären Lieder gegen die zur Herrschaft gekommene Revolution wenden können“ (Kurzke 1990, S. 118).

Die „Internationale“ hat auch in verschiedene Kompositionen Eingang gefunden. So etwa bei Karl Amadeus Hartmann (s. Heister in: Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, hg. v. B. Sonntag, H.-W. Boresch, D. Gojowy, Köln 1999). – Karlheinz Stockhausen hat die „Internationale“ und einige Nationalhymnen in seiner Komposition „Hymnen“ (1967/68) verarbeitet.

 

„Lili Marleen“

Literatur

Andersen, Lale (1972): Der Himmel hat viele Farben. Leben mit einem Lied. Stuttgart.

Andersen, Lale (1981): Leben mit einem Lied. München.

Elbers, Winfried (1963): Das Soldatenlied als publizistische Erscheinung. Diss. Münster.

Henderson, Hamish (1948): Ballads of World War II. Glasgow.

Hinze, Werner (1996/97): Lili Marleen. Ein Lied zwischen Soldatenromantik und Propaganda. In: Musik von unten. Informationsblatt Nr. 20 (1996) S. 23–37, Nr. 21 (1997) S. 3–13.

Hinze, Werner (2004): Lili Marleen. Ein Lied zwischen Soldatenromantik und Propaganda. Hamburg. (Tonsplitter. Archiv für Musik und Sozialgeschichte. Liedbiographien Nr. 1.)

Jackson, Carlton (1979): The Great Lili – A Footnote to World War II. San Francisco.

Lammel, Inge (1975): Das Arbeiterlied. Leipzig.

Leip, Hans (1964/1981): Die Hafenorgel. Frankfurt am Main, Hamburg 1964. Neuausgabe München 1981.

Leip, Hans (1985): Das Hans Leip Buch. Zusammengestellt von Joachim Jessen und Detlef Lerch. Frankfurt a.M., Berlin, Wien.

Leip, Hans (1979): Das Tanzrad. Berlin, Frankfurt a.M., Wien.

Leip, Hans (1950): Die wahre Geschichte der Lili Marleen. Berlin.

Leonhardt, Rudolf Walter (1979): Lieder aus dem Krieg. München.

Magnus-Andersen, Litta (1981): Lale Andersen – die Lili Marleen. München: Universitas Verlag.

Mezger, Werner (1975): Schlager. Tübingen. S. 134–138.

Peters, Christian (2001): Lili Marleen. Ein Schlager macht Geschichte. Bonn.

Schepping, Wilhelm (1979): Liedmonographie als „Liedbiographie“. Die Wirkungsgeschichte von „Lili Marlen“ als Paradigma. In: ad marginem 44/1979.

Schepping, Wilhelm (2007): Lili Marleen – Eine denkwürdige Liedbiographie. In: Barbara Stambolis / Jürgen Reulecke (Hg.): Good-bye memories? Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts. Essen: Klartext-Verlag. S. 199–242.

Schepping, Wilhelm (1984): Zeitgeschichte im Spiegel eines Liedes. Der Fall „Lili Marleen“ – Versuch einer Summierung. In: Festschrift für Ernst Klusen. Hg. von Günther Noll u. Marianne Bröcker. Bonn. S. 435–464.

Schultze, Norbert (1995): Mit dir, Lili Marleen. Die Lebenserinnerungen des Komponisten Norbert Schultze. Zürich und Mainz.

Schwarz, Walter Andreas (1980): Lieder für Adolf und Konsorten. Manuskript vom 28.7.1980.

Tondokumente, Filme

CD „Musik vom Deutschlandsender. Originalaufnahmen aus der Zeit von 1939 bis 1945“.

CD-Kassette „Entartete Musik“, CD 4 „Widerstand“ (Lucie Mannheim mit Parodie).

CD „American War Songs 1933–1947“ (Marlene Dietrich mit „Lili Marleen“)

Doppel-CD „Lili Andersen – Lale Marleen“. Die Geschichte einer Legende von Bettina Hindemith und Sabine Milewski. hr (audio).

„100 unvergessene Kino-Hits“, darunter „Lili Marleen“, gesungen von Lale Andersen.

Film „Lili Marleen“ nach dem Roman von Lale Andersen. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Mit Hanna Schygulla.

 

1915, während des Ersten Weltkriegs, schrieb Hans Leip die erste Textfassung von „Lili Marleen“. Sie erschien 1937 um zwei Strophen erweitert in der Gedichtsammlung „Kleine Hafenorgel“. 1935 wurde das Lied als Chanson in einer Vertonung von Rudolf Zink (1910–1983) in einem Schwabinger Kabarett dargeboten. Die Sängerin war Lale Andersen (1905–1972), die damals noch unter dem Namen Lieselotte Wilke auftrat. 1938 entstand die Vertonung von Norbert Schultze. Der Komponist hatte den Text in Hans Leips „Kleiner Hafenorgel“ von 1937 gefunden.

Biographische Daten zu Norbert Schultze:

geboren 1911; gestorben 2002. Kindheit und Jugend in Braunschweig; seit 1929 Studium an der Kölner Musikhochschule

1931 Umzug nach München, wo er vier Jahre lang unter dem  Pseudonym Frank Norbert in dem Studentenkabarett die „Vier Nachrichter“ gemeinsam mit Kurd E. Heyne, Bobby Todd und Helmut Käutner auftrat. In der Münchener Zeit lernte Schultze 1932 Lale Andersen kennen.

1936 komponierte Schultze die Oper „Schwarzer Peter“, die in der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt wurde und mit der er erfolgreich war. Später schrieb er noch weitere Opern.

Während des Krieges erhielt er die Gelegenheit, Filmmusiken zu komponieren. Der Regisseur Hans Bertram stellte im Auftrag des Luftfahrtministeriums den Propagandafilm „Feuertaufe“ her, zu dem Schultze Musik schrieb, u. a. das Lied „Bomben auf Engelland“ (Text: Wilhelm Stöppler), das ihm den Spitznamen „Bomben-Schultze“ einbrachte:

Wir fühlen in Horsten und Höhen

Des Adlers verwegenes Glück.

Wir stürmen zum Tor

Der Sonne empor.

Wir lassen die Erde zurück.

Kamerad! – Kamerad!

Alle Mädels müssen warten!

Kamerad! – Kamerad!

Der Befehl ist da: Wir starten!

Die Losung ist bekannt:

Bomben – Bomben –

Bomben auf Engelland!

(Schultze 1995, S. 69)

Schultze schrieb weitere Lieder für die Nazi-Propaganda.

1944 Mitarbeit Schultzes an dem UFA-Film „Kolberg“ mit dem Regisseur Veit Harlan.

1945 erhielt Schultze drei Jahre Berufsverbot. 1948 erfolgte seine formale „Entnazifizierung“.

1951 wanderte er mit seiner Familie nach Brasilien aus, kehrte aber schon nach einem Jahr nach Deutschland zurück. Produzierte nun wieder zahlreiche Filmmusiken, Lieder und Chansons.

Das Lied „Lili Marleen“

war anfänglich nicht besonders erfolgreich. Beim Rundfunk wurde das Lied abgelehnt, ebenso vom Verleger Sikorski. Schultze bot Liselotte Wilke, die sich inzwischen Lale Andersen nannte, seine Vertonungen aus der „Kleinen Hafenorgel“ an. Sie sang bald darauf die „Lili Marleen“ im Rundfunk. Bei der Plattenfirma ELECTROLA wurde das Lied schließlich akzeptiert: „Da die Wehrmacht anscheinend ‚stark im Kommen sei‘, habe das Kasernenlied vielleicht eine Chance, wenn man es ‚Lied eines jungen Wachtpostens‘ nennt“ (Schultze 1995, S. 64). Die Aufnahme sollte mit einem preußischen Zapfenstreich beginnen, im Hintergrund ein Soldatenchor, „dezenter Marschrhythmus“ (Schultze 1995, S. 64). (Das Arrangement stammte nicht von Schultze.) 1940 erschien „Lili Marleen“ im Druck mit einem „hölzernen Klaviersatz“, wie Schultze schreibt, der „auch noch den Marschrhythmus von der ELECTROLA-Platte“ übernommen habe (vgl. die CD „Musik vom Deutschlandsender. Originalaufnahmen aus der Zeit von 1939 bis 1945“).

Seit dem Sommer 1941 gab es plötzlich und gänzlich unerwartet eine enorme Nachfrage nach „Lili Marleen“ bzw. dem „Lied eines jungen Wachtpostens“. Der Grund war, dass der Soldatensender Belgrad (Welle 437,3) dieses Lied seit einiger Zeit sendete. Eine Gruppe junger Soldaten (im Zivilberuf Funktechniker vom Berliner Rundfunk) hatte im April 1941 den Auftrag erhalten, in Jugoslawien einen Soldatensender zu installieren. Im kriegszerstörten Belgrad errichteten sie einen Sendebetrieb. Einer von ihnen hatte aus Wien einen Stapel Schallplatten mitgebracht, darunter eine Aufnahme der „Lili Marleen“. Das „Lied eines jungen Wachtpostens“ mit dem Zapfenstreichsignal in der Aufnahme mit Lale Andersen erschien den Programmgestaltern als Sendeschluss besonders geeignet. Als es zeitweilig abgesetzt wurde, gab es Proteste der Zuhörer. Da der Soldatensender Belgrad seine Feldpostnummer bekanntgab, kam jeden Tag mehr Post an, die erkennen ließ, dass die Sendung in vielen Ländern, sogar bei Rommels Truppen in Afrika, gehört wurde. „Das Lied trifft im dritten Kriegsjahr die armen Frontschweine mitten ins Herz!“ (Schultze 1995, S. 78) Es wurde zum „Symbol für Heimweh, Trennung und Sehnsucht [...], vor allem für Hoffnung auf Wiedersehen. Die Zeit – der Krieg, der immer furchtbarer wird, die Umstände haben das bewirkt“ (Schultze 1995, S. 78).

Aufgrund des großen Echos wurde beim Soldatensender Belgrad eine allabendliche Sendung mit dem Titel „Der junge Belgrader Wachtposten“ eingerichtet. Darin wurden Briefe von zuhause an die Front und von der Front in die Heimat verlesen. Die Sendung endete kurz vor zehn Uhr mit Lale Andersens „Lili Marleen“. „Tatsächlich, Briefe bezeugen es, schwiegen während der Zeit die Waffen, und der Feind, erstmals in einem Kriege, hörte mit. ‚Überall in der Wüste‘, notierte ein britischer Kriegsberichterstatter, ‚pfiffen englische Soldaten das Lied‘“ (DER SPIEGEL, Nr. 4/1981, S. 173). „In einer Zeit, wo man zuhause von denen da draußen oft nur die Feldpostnummer kennt, mehr nicht, ist diese Verbindung für viele Menschen oft die schnellste und sicherste, um persönliche Grüße und familiäre Nachrichten zu übermitteln“ (Schultze 1995, S. 80).

„Lili Marleen“ avancierte innerhalb von kurzer Zeit zum populärsten Schlager des Zweiten Weltkriegs. Das Lied übersprang politische Grenzen und feindliche Fronten, es wurde in viele Sprachen übersetzt. Die internationale Bekanntheit von „Lili Marleen“ wurde auch durch das Massenmedium Radio ermöglicht, das erstmals „mit in den Krieg gezogen“ war (DER SPIEGEL, Nr. 4/1981, S. 172).

„Lili Marleen“ wurde sowohl von Nazis als auch von deren Gegnern gesungen: Von den Nazis wurde das Lied zeitweilig als Propagandamittel gebraucht, doch Goebbels brandmarkte es als „defätistisch“ und „wehrkraftzersetzend“, konnte aber nicht verhindern, dass es weiterhin ausgestrahlt und gesungen wurde. Zugleich faszinierte „Lili Marleen“ die Gegner der Nationalsozialisten. Die englische Fassung „Underneath the lantern“ sang Marlene Dietrich, die 1937 den Entschluss gefasst hatte, nicht mehr nach Hitler-Deutschland zurückzukehren.

Mezger weist auf die merkwürdige Tatsache hin, daß „Lili Marleen“ „stets“ von Frauen gesungen wurde (was nicht ganz zutrifft, es gab auch männliche Sänger), „obwohl der Inhalt des Liedes, in dem ein Soldat ein Mädchen besingt, eigentlich männliche Interpreten verlangt hätte“. Dazu schrieb Siegfried Schmidt-Joos: Im Zweiten Weltkrieg mussten Männer und Frauen voneinander getrennt leben, damals „schufen singende Frauen für die Männer so etwas wie eine Ersatzvorstellung: Ihre Fotos schmückten die Spindtüren und Bunkerwände der Soldaten. Ihre Stimmen waren im Ohr der Männer, wenn sie an daheim dachten“ (Schmidt-Joos: Geschäfte mit Schlagern, S. 41).

„Wann immer, nach 1945, auf der Welt ein Krieg ausbrach, in Indochina, Korea, Israel, Vietnam, stieg die Tantiemen-Kurve des Liedes steil nach oben; Lili marschiert mit“ (DER SPIEGEL, Nr. 4/1981, S. 171). Der 1959 gegründete Bundes-Soldatensender Radio Andernach sendet für Bundeswehr-Angehörige im Ausland. So gab es z.B. beim Einsatz in Bosnien Live-Sendungen mit viel Musik, um die Soldaten bei Laune zu halten, auch Gruß- und Wunschsendungen, in denen Kontakt zwischen Heimat und Front hergestellt wurde. Abend für Abend erklang dabei zum Programmschluss um 21 Uhr „Lili Marleen“, gesungen von Lale Andersen, „als hätte das Lied keine Geschichte“ (Kölner Stadt-Anzeiger, 10.11.1997).

Parodien von „Lili Marleen“

Neben vielen fremdsprachigen Versionen gibt es eine Vielzahl von Parodien von „Lili Marleen“. 1944 z.B. sang in Frankfurt nachts ein Unbekannter: „Unten an der Laterne / hängt ein schwarzer Mann, / Warte nur balde / hängen mehrere dran. / Wenn wir alle hängen sehn, / wird es uns wieder besser gehn / wie einst Lili Marlen“  (Schepping 1979). Zahlreiche Parodien finden sich bei Rudolf Walter Leonhardt, Lieder aus dem Krieg, München 1979, S. 162 ff.

Im deutschsprachigen Programm der BBC sang Lucie Mannheim (vgl. CD-Cassette „Entar­tete Musik“. Tondokumente zu der Ausstellung „Entartete Musik“, Düsseldorf 1988. CD 4 „Widerstand“):

Ich muß heut‘ an dich schreiben,

mir ist das Herz so schwer,

ich muß zu Hause bleiben

und lieb’ dich doch so sehr.

Du sagst, du tust nur deine Pflicht,

doch trösten kann mich das ja nicht,

ich wart’ an der Laterne.

Deine Lili Marleen.

 

Was ich still hier leide,

weiß nur der Mond und ich,

einst schien er auf uns beide,

nun scheint er nur auf mich.

Mein Herz tut mir so bitter weh,

wenn ich an der Laterne steh’

mit meinem eignen Schatten.

Deine Lili Marleen.

 

Vielleicht fällst du in Rußland,

vielleicht in Afrika,

doch irgendwo, da fällst du,

so will’s dein Führer ja.

Und wenn wir doch uns wiedersehn,

so möge die Laterne stehn

in einem andern Deutschland.

Deine Lili Marleen.

 

Der Führer ist ein Schinder,

das sehn wir hier genau,

zu Waisen macht er Kinder,

zur Witwe jede Frau.

Und wer an allem schuld ist, den

will ich an der Laterne sehn.

Hängt ihn an die Laterne!

Deine Lili Marleen.

 

Verfilmungen

„Lili Marleen“ regte auch zu zahlreichen Filmen an. 1956 drehte Paul Verhoeven mit Marianne Hold und Adrian Hoven „Wie einst, Lili Marleen“. 1960 wurde unter der Regie von Paul May der Film „Soldatensender Calais“ gedreht. Darin ist „Lili Marleen“ ein Lied des Widerstandes – wie Lucie Mannheims Version, die 1942 und 1943 von der BBC London ausgestrahlt wurde. „Lili Marleen“ tauchte wenig später nochmals in Stanley Kramers „Das Urteil von Nürnberg“ auf, einem Film aus dem Jahr 1961 mit Spencer Tracy, Maximilian Schell und Marlene Dietrich. Marlene Dietrich hatte dieses Lied während des Krieges in der Uniform eines U.S. Captain für die Invasionstruppen gesungen und später für die Kriegsveteranen. Es gibt auch einen Dokumentarfilm über „Lili Marleen“, den einer der Söhne von Schultze 1970 für das Fernsehen drehte. Das Lied erlebte damals einen besonderen Boom in Japan. Rainer Werner Faßbinders Film „Lili Marleen“ mit Hanna Schygulla wurde nach Lale Andersens Autobiographie gedreht.

 

Zwei „Pflichtlieder“ aus dem NS-Repertoire

Literatur

Burkhardt, Werner: Beilage zu der LP-Kassette „Musik der Stunde Null“. Eine Dokumentation. Schallplatten-Edition des Zeitmagazins.

Gamm, Hans-Jochen (1962): Der braune Kult. Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion. Hamburg.

Heister, Hanns-Werner / Klein, Hans-Günter (Hg.) (1984): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt am Main.

von Hellfeld, Matthias (1987): Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930-1939. Köln. (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung, Bd. 3.)

Hodek, Johannes (1984): „Sie wissen, wenn man Heroin nimmt...“ Von Sangeslust und Gewalt in Naziliedern. In: Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Hg. von Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein. Frankfurt am Main. S. 19–35.

Klönne, Arno (1960): Gegen den Strom. Hannover und Frankfurt am Main.

Klönne, Arno (1980): Jugendbewegung und Faschismus. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 12/1980.

Kratzat Gerd (1988): Zündende Lieder. Einsatz und Wirkung nationalsozialistischer Propagandalieder. In: Zündende Lieder – Verbrannte Musik. Folgen des Nationalsozialismus für Hamburger Musiker und Musikerinnen. Hg. von der Projektgruppe Musik und Nationalsozialismus. Hamburg. S. 86–100.

Mann, Erika (1986): Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich. München.

Markmiller, Fritz (1986/87): Beobachtungen zum Fest- und Brauchwesen während der NS-Zeit. Teil II. In: Der Storchenturm. Geschichtsblätter für die Landkreise um Dingolfing, Landau und Vilsbiburg, 21./22. Jg., H. 42/43.

Probst-Effah, Gisela (1996): Lieder im NS-Kult. In: Musikalische Volkskultur als soziale Chance. Laienmusik und Singtradition als sozialintegratives Feld. Hg. von Günther Noll und Helga Stein. Essen. (Musikalische Volkskunde. Materialien und Analysen. Schriftenreihe des Instituts für Musikalische Volkskunde der Universität zu Köln, Band 13.)

Schepping, Wilhelm (1977): Das Lied als Corpus delicti in der NS-Zeit. In: Beiträge zur Musikgeschichte der Stadt Düsseldorf. Hg. von Julius Alf. Köln. (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, H. 118.)

Schepping, Wilhelm (1997): Kommentar zu dem Lied „Unsre Fahne flattert uns voran“. In: Geschichte in Liedern. Deutschland im 20. Jahrhundert. CD-Begleitheft Texte–Noten–Erläuterungen. Heidelberg. (RAAbits Geschichte.)

Staff, Ilse (Hg.) (1978): Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main.

Stern, Annemarie (o. J.): Lieder gegen den Tritt. Oberhausen.

Vondung, Klaus (1971): Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen.

Wimmer, Fridolin (1994): Das historisch-politische Lied im Geschichtsunterricht: exemplifiziert am Einsatz von Liedern des Nationalsozialismus und ergänzt durch eine empirische Untersuchung über die Wirkung dieser Lieder. Frankfurt am Main u. a.

Tonträger

Geschichte in Liedern. Deutschland im 20. Jahrhundert. CD u. Begleitheft Texte–Noten–Erläuterungen. Heidelberg. (RAAbits Geschichte.)

 

„Unsre Fahne flattert und voran“

Am 17. Juni 1933 wurde Baldur von Schirach zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“ ernannt. Seine erste Amtshandlung war das Verbot der bündischen Jugend. Die Auflösung bestimmter Gruppen war ein erster Schritt der nationalsozialistischen Machthaber zu dem Ziel, die gesamte deutsche Jugend in einem Staatsjugendverband zusammenzuzwingen. Wie die NSDAP nunmehr die einzige Partei sein sollte, so sollte die HJ die einzige Jugendorganisation sein.

Die Gleichschaltung wurde mithilfe der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933“ erzwungen, die u.a. die Einschränkung der persönlichen Freiheit sowie des Rechtes auf freie Meinungsäußerung, des Vereins- und Versammlungsrechts, des Brief- und Postgeheimnisses legalisierte und Haussuchungen und Beschlagnahmungen erlaubte. Bei Zuwiderhandlungen wurden hohe Gefängnis- bzw. Geldstrafen, manchmal auch die Todesstrafe verhängt.

Die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ richtete sich zunächst gegen die Kommunisten („Auf Grund des Artikels 48, Abs. 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte folgendes verordnet...“), sie wurde per Erlass am 3. März 1933 auch auf Anarchisten und Sozialdemokraten angewandt (diejenigen, „die mit den Kommunisten zusammenarbeiten und deren verbrecherische Ziele, wenn auch nur mittelbar, unterstützen oder fördern“; vgl. Staff 1978, S. 56 f.). In einem weiteren Erlass Görings an die Polizeibehörden wurde ihre Übertragung auf „alle Personen als zulässig bezeichnet [...], die Verhaltensformen zeigten, ‚die geeignet sind, Unzufriedenheit über die von der nationalen Regierung getroffenen Maßnahmen zu erzeugen und eine Fortsetzung der marxistischen Hetze‘ darstellten“ (Staff 1978, S. 57). Diese Bedingungen erfüllte bereits, wer es unternahm, „den organisatorischen Zusammenhang einer früheren bündischen Vereinigung zu bilden, insbesondere wer auf andere Personen durch Weitergabe von bündischem Schrifttum, Liederbüchern und dergleichen einwirkt, oder wer bündische Bestrebungen in anderer Weise unterstützt“ (Klönne 1960, S. 48).

Am 23. Juni 1933 verbot Schirach fast alle nichtkonfessionellen Jugendbünde. Am Ende des Jahres 1933 dehnte er das Verbot auf die evangelische Jugend aus. Mit dem Reichsbischof Müller, dem Vorkämpfer der mit Hitler sympathisierenden „Deutschen Christen“, schloss er am 19. Dezember 1933 ein Abkommen, das die Eingliederung der gesamten evangelischen Jugend (damals ca. 100 000 Mitglieder) in die HJ verfügte.

Der Status der katholischen Jugend unterschied sich von dem der evangelischen. Zwar gab es auch für die katholische Jugend bereits im Juni 1933 die Gefahr, liquidiert zu werden. Dann aber wurde plötzlich die ganze Aktion von Berlin aus gestoppt. Der Grund waren die noch schwebenden Konkordatsverhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl in Rom und dem Hitlerregime. Als am 20. Juli 1933 das Reichskonkordat unterzeichnet war, begann für die katholische Jugend eine vorübergehende Atempause. In späteren Jahren verschlechterte sich die Lage der katholischen Jugendverbände. Das „Reichsjugendgesetz“ verfügte am 1. Dezember 1936 die Zwangsmitgliedschaft aller Jugendlichen in der HJ.

Die Hitlerjugend adaptierte bewährte Formen des Gemeinschaftslebens der bündischen Jugend (z. B. gemeinsames Wandern, Singen, Lagerfeuer), ein Teil des bündischen Liedrepertoires wurde übernommen.

Ein Kernlied der Hitlerjugend war „Unsre Fahne flattert uns voran“, dessen Textverfasser der Reichsjugendführer Baldur von Schirach war. In der Vertonung von Hans Otto Borgmann war dieses Lied durch den Ufa-Tonfilm „Hitlerjunge Quex“ und viele Liederbücher seit 1933 verbreitet. Es gehörte zum Pflichtlied-Repertoire der Hitlerjugend.

Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren.

Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren.

Deutschland, du wirst leuchtend stehn,

mögen wir auch untergehn.

Vorwärts! Vorwärts

...

Ist das Ziel auch noch so hoch,

Jugend zwingt es doch!

Unsre Fahne flattert uns voran.

In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann.

Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not

Mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.

Unsre Fahne flattert uns voran.

Unsre Fahne ist die neue Zeit.

Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!

Ja, die Fahne ist mehr als der Tod!

Jugend! Jugend! Wir sind der Zukunft Soldaten.

Jugend! Jugend! Träger der kommenden Taten.

Ja, durch unsre Fäuste fällt,

wer sich uns entgegenstellt.

Jugend! Jugend

...

Führer, wir gehören dir,

wir, Kam’raden dir!

Unsre Fahne flattert uns voran

...

Bei allen Feiern des Deutschen Jungvolks (DJ), der Hitlerjugend (HJ) und des Bundes Deutscher Mädel (BDM) wurde dieses Lied gesungen. Es propagiert das Ideal einer Jugend, die „keine Gefahren kennt“ und die Hitler folgendermaßen charakterisierte: „flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“. Kampf und Sterben für die Fahne (die „mehr als der Tod“ sei), den „Führer“ (dem man blind – „durch Nacht und Not“ – folgt) und das Vaterland werden als psychologische Einstimmung auf den geplanten Krieg glorifiziert. Der Krieg, der längst mit modernen Vernichtungswaffen geführt wurde, wird reduziert auf einen Kampf „Mann gegen Mann“, bei dem wie bei einer jugendlichen Rauferei nur der Körper eingesetzt wird: „Ja, durch unsre Fäuste fällt, wer sich uns entgegenstellt“.

Hans-Jochen Gamm schreibt zu der psychischen Wirkung dieses Liedes: „Es mutete seltsam an, aus dem Munde zehnjähriger Kinder zu hören, daß ‚die Fahne mehr als der Tod‘ sei. Der Nationalsozialismus unterstellte auch das Kind ohne Einschränkung den Parolen, die meistens einen blutigen Hintergrund hatten. Die Heranwachsenden ihrerseits konnten daran kaum Anstoß nehmen, da ihnen Vergleichsmöglichkeiten fehlten. So entstand der Widerspruch zwischen den kindlichen Gesichtern und den oft mörderischen Liedern, die man ihnen eingeprägt hatte. Unzählige junge Menschen wurden dadurch verdorben, daß man ihnen keine sittlichen Modelle als Maßstäbe anbot. So fanden sie sich auch bereit, insbesondere, wenn sie im SS-Geist erzogen wurden, die Blutaufträge der Vorgesetzten blind auszuführen und nicht zu fragen, ob es recht sei. Besonders in Rußland wurden Erschießungen der Zivilbevölkerung von sogenannten ‚Einsatzgruppen‘ vollzogen. Hitlers Erziehungsziel war ja, das ‚Raubtier‘ wieder wachzurufen und die jahrhundertelange ‚Domestikation‘ rückgängig zu machen“ (Gamm 1962, S. 49).

Von dem Lied „Unsre Fahne flattert uns voran“ kursierten während des Dritten Reiches auch inoffizielle Fassungen, die beweisen, dass nicht alle Jugendlichen der Propaganda kritiklos ausgeliefert waren, z. B.:

Brüder, Brüder, laßt uns die Flammen bewahren,

Brüder, Brüder, wehret den stumpfen Barbaren,

Nirgend laßt den Baldur ran,

daß er nichts zertrampeln kann.

Laßt ihn trügen. werben mit lockenden Klängen.

Laßt ihn lügen, hetzen, drohen und bedrängen.

Steht er heut auch noch so hoch,

Einmal kippt er doch.

            Refrain:

Unser Baldur flattert uns voran,

Unser Baldur ist ein dicker Mann

Wir marschieren trotz Schirach, durch Nacht und Verbot,

Und wir schern uns den Teufel um Neid und Verbot.

Unser Baldur flattert uns voran,

Unser Baldur meint die neue Zeit

Doch wir halten uns wachsam und trutzig bereit,

Unser Bund gilt uns mehr als der Tod.

Oder auch:

Rückwärts, rückwärts quaken die trägen Fanfaren,

Baldur Liebling sei dir darüber im klaren,

Wenn ein neuer Geist sich rührt,

wirst du schleunigst abserviert.

Wotan selber kann dich dann nicht halten

...

Eine weitere Parodie findet sich bei Annemarie Stern (Stern o. J., S. 309).

Einige dieser Parodien finden sich in Akten der Geheimen Staatspolizei, die auch belegen, dass diejenigen, die solche umtextierten Fassungen sangen, viel riskierten. Einer der Sänger einer solchen Parodie war ein 20-jähriger Angehöriger der katholischen Jugend. Er wurde im Mai 1934 denunziert, verhaftet und angeklagt, „das Lied der HJ in gehässiger Form zum Hetzlied der katholischen Jugend umgedichtet zu haben“ (Akte Nr. 37 918, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf). Das Verhör brachte weitere Mitwisser bzw. Mittäter ins Spiel; zwei Angehörige der katholischen Sturmschar wurden verhaftet. Da die Mittäter mit 13 Jahren strafunmündig waren, wurde für sie ein Strafverfahren nicht eröffnet. Die Härte der Justiz traf den bereits volljährigen Erstverhafteten, und zwar durch eine damals gängige Taktik: Er wurde der „Unzucht zwischen Männern“ angeklagt. „Das wirksamste und vor allem juristisch abgesichertste Mittel, illegale Gruppen mit Strafe belegen zu können, war die Anwendung des Paragraphen 175, der im Dritten Reich erheblich verschärft wurde. Damit hatten die Nationalsozialisten eine [...] Handhabe gegen politisch mißliebige Personen oder Gruppen, denen – meist propagandistisch wirkungsvoll unterstützt – homosexuelle Handlungen vorgeworfen wurden. Davon besonders betroffen waren katholische Priester und [...] auch mißliebige Soldaten oder SA-Funktionäre“ (Hellfeld 1987, S. 208).

 

„Siehst du im Osten das Morgenrot“

 

Siehst du im Osten das Morgenrot

(Melodie und Text: Arno Pardun)

Siehst du im Osten das Morgenrot,

ein Zeichen zur Freiheit, zur Sonne?

Wir halten zusammen, ob lebend, ob tot,

mag kommen, was immer da wolle!

Warum jetzt noch zweifeln? Hört auf mit dem Hadern!

Noch fließt uns deutsches Blut in den Adern.

Volk, ans Gewehr! Volk, ans Gewehr!

Viele Jahre zogen dahin,

            geknechtet das Volk und betrogen.

            Verräter und Juden hatten Gewinn,

            sie forderten Opfer Legionen.

            Im Volke geboren erstand uns ein Führer,

            gab Glaube und Hoffnung an Deutschland uns wieder.

            Volk, ans Gewehr!

            Deutscher, wach auf, und reihe dich ein,

            wir schreiten der Sonne entgegen,

            frei soll die Arbeit und frei wolln wir sein

            und mutig und trotzig-verwegen.

            Wir ballen die Fäuste und werden es wagen,

            es gibt kein Zurück mehr und keiner darf zagen!

            Volk, ans Gewehr!

            Wir Jungen und Alten, Mann für Mann,

            umklammern das Hakenkreuzbanner.

            Ob Bauer, ob Bürger, ob Arbeitsmann,

            sie schwingen das Schwert und den Hammer,

            sie kämpfen für Hitler, für Arbeit und Brot.

            Deutschland, erwache! ende die Not!

            Volk, ans Gewehr!

(aus: Morgen marschieren wir. Liederbuch der deutschen Soldaten, im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht hg. von Hans Baumann, 2. Aufl. Potsdam 1939, S. 181 f.)

Dieses Lied mit dem agitatorischen Refrain „Volk ans Gewehr“, das zu den bekanntesten und am häufigsten gesungenen Massenliedern des „Dritten Reiches“ gehörte, schrieb der Berliner Hobby-Musiker und Kaufmann Arno Pardun 1931 und widmete es Joseph Goebbels (Hodek 1984, 31). Da es inhaltlich zum aktuellen Kriegsgeschehen in Osteuropa des Jahres 1942 einen gewissen Bezug aufweist, war es während des Krieges für die Propaganda besonders nützlich. Andererseits ist die Szenerie des Liedes von jeglichem Realismus weit entfernt. Der „Osten“ erscheint hier nicht als ein konkreter geographischer Ort, sondern – wie auch das „Morgenrot“ und die „Sonne“ – als Metapher für eine bereits sichtbare siegreiche, freiheitliche Zukunft; als irrealer, übergeschichtlicher Schauplatz heroischer, schicksalhafter Auseinandersetzungen existierte er in der Sprache der nationalsozialistischen Ideologen schon lange vor Kriegsbeginn. Der Kampf, der dem sicheren, unzweifelhaften Sieg vorausgeht, ist im Lied – im Gegensatz zum realen Kriegsgeschehen – schon fast überwunden, die aktuelle Not wird in die Vergangenheit, die Zeit vor dem „Dritten Reich“, projiziert und einem fiktiven „Feind“ – dem „Verräter“ und „Juden“ – angelastet. Der Ausgang des Kampfes, so suggeriert es der Text, ist durch die Rassenzugehörigkeit vorentschieden, und die – auch musikalisch durch weite Intervallsprünge besonders nachdrücklich und großspurig geäußerte – Überzeugung von der natürlichen Überlegenheit der eigenen Rasse übertönt alle Zweifel, Ängste und Hemmungen und lässt Fragen nach Ursache, Sinn und Ziel des Krieges verstummen („Warum jetzt noch zweifeln, hört auf mit dem Hadern, noch fließt uns deutsches Blut in den Adern“). Als Grundprinzip des Lebens erscheint der Kampf auf eine übergeschichtliche Ebene entrückt. Den Charakter der Zeitlosigkeit erhält er auch durch die Verwendung von Bildern und Begriffen aus einer idealisierten Vergangenheit: Hans-Jochen Gamm hat darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus, obgleich er sich „als ausgesprochen realistisch und als allen Mystizismen abhold“ betrachtet habe, niemals die gegenwärtigen Kriegsinstrumente wie das Panzerfahrzeug besungen habe, sondern z. B. das für die Eroberungszüge des 20. Jahrhunderts völlig ungeeignete Pferd (Gamm 1962, S. 21). So wird im Lied „Siehst du im Osten das Morgenrot“ die „Schlacht“ – trotz des Aufrufs „Volk ans Gewehr“ im Refrain – nicht mit modernen Waffen, sondern mit dem altertümlichen „Schwert“ geführt. (Zur besonderen Wirkung des Liedes „Volk, ans Gewehr!“ vgl. auch Hodek 1984, 31 ff.)

Viele nationalsozialistische Lieder fungierten als gesungene Propagandaparolen; sie veränderten die Wahrnehmung und schufen eine „zweite Realität“ (Vondung 1971, 193): „Das von Hunderttausenden immer wieder gesungene und darum einverleibte Lied verwandelt die Wirklichkeit im Sinne der ausgesagten Idee“ (Gamm 1962, S. 15). Verstärkt wurde die agitatorische Wirkung durch Massengesang und gemeinsames Marschieren.

„Das einheitliche und meist einstimmige Singen eines Liedes kann ein Gefühl von uneingeschränkter Macht, von Unbesiegbarkeit hervorrufen. Der Einzelne fühlt sich geborgen, sicher, aufgehoben; dieses orgiastische ‚Aufgehen in der Masse‘, von dem man sich emotional nur schwer distanzieren kann, enthält die Bereitschaft zur Aufgabe des eigenen freien Willens. Die Anfälligkeit für ideologische Aussagen ist in diesen erhebenden Momenten besonders groß. Das subjektive Gefühl beim Singen wird fälschlicherweise als Wahrhaftigkeit der Musik und der Textaussage gedeutet. Und der Eindruck der Wahrhaftigkeit wird für den Einzelnen durch die Beobachtung gestützt, daß alle anderen überzeugt zu singen scheinen“ (Kratzat 1988, 95).

Viele Foto- und Filmdokumente bezeugen, dass insbesondere die nationalsozialistischen Großveranstaltungen ihr Ziel nicht verfehlten: Sie zeigen jubelnde Volksmassen. Ausländische Beobachter haben mitgeteilt, dass die Bevölkerung bei den Nürnberger Parteitagen „wie von einem Rausch befallen und die alte Stadt in einen unvergeßlichen Zauber gehüllt“ gewesen sei (Gamm 1962, S. 109). Selbst in kritischen wissenschaftlichen Darstellungen des NS-Kultes wird – fast widerstrebend – dem Nationalsozialismus die Fähigkeit zugestanden, große Teile der Bevölkerung emotional zu packen und zu faszinieren. Der „beinahe südländisch anmutende Enthusiasmus“ der Menschen sei, meint Hans-Jochen Gamm, nicht gestellt, sondern „ehrlich“ gewesen (Gamm 1962, S. 126).

Die „Gleichschaltung“ der Individuen in der „Masse“ während des „Dritten Reiches“ weckte Empfindungen der Fremdheit und Ohnmacht in denen, die den öffentlich propagierten Idealen misstrauten oder sie ablehnten. Geborgenheit in der Menschenmasse erlebte nur, wer sich der Gemeinschaft der „Gläubigen“ zugehörig fühlte – am intensivsten wohl die Jugendlichen, die kaum Alternativen kannten und die durch die „völlige Abgeschlossenheit [...] der Naziwelt“ (Mann 1986, S. 39) den Zwang des Systems, in dem ihr Leben verplant wurde, nicht wahrzunehmen vermochten. Die Disziplinierung und Unterordnung des einzelnen in gleichgeschalteten Marschkolonnen riss Berichterstatter der Nürnberger Reichsparteitage zu schwärmerischen Bildern hin, in denen sich die Entsubjektivierung und Instrumentalisierung der Menschen unmissverständlich ausdrückt:

„Man erkennt von hier oben nicht mehr den einzelnen Mann, den Fackelträger, man sieht nur noch das Ganze, sieht den Gau, der im Gleichschritt vorbeizieht, sieht nur das eine Feuer, das sie alle tragen“ (zit. nach Gamm 1962, 113).

„Die Jungvolk-Kapelle rückt vor, Musik klingt auf, die Fahnen dieser Jugend marschieren ein“ (zit. Nach Gamm 1962., S. 114).

Es gilt durch massenpsychologische Untersuchungen als erwiesen, dass das Gefühl kollektiver Stärke sich mit feindseligen Affekten gegenüber Außenstehenden verbindet. Die Integration in das Wahngebilde der „Volksgemeinschaft“ war nur möglich durch die rigorose Ausschaltung aller störenden „Elemente“. Die scheinbar klassenlose, auf unveränderlichen, nämlich biologischen Wesensmerkmalen beruhende Gemeinschaft brandmarkte als „artfremd“, was von den staatlich verordneten Normen abwich. Sie ging erbarmungslos gegen diejenigen vor, die nach der herrschenden Auffassung aus rassischen Gründen nicht anpassungsfähig waren, sowie gegen sog. „Miesmacher“, „Nörgler“ und „Stänkerer“, die die Anpassung freiwillig verweigerten. – Die „Times“ vom 23.8.1933 berichtete:

„In Neu-Ruppin [...] wurde ein Mädchen, weil es sich nicht erhoben hatte, als das Horst-Wessel-Lied gespielt wurde, unter der Bewachung von Sturmtruppen durch die Stadt geführt. Sie trug am Rücken und auf der Brust je ein Plakat mit der Inschrift: 'Ich schamlose Kreatur habe es gewagt, sitzen zu bleiben, als das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde, und habe so die Opfer der Nationalen Revolution mißachtet.' [...] Die Zeit des Schauspiels war vorher in der Ortszeitung angegeben worden, so daß große Menschenmengen sich versammeln konnten“ (zit. nach Heister 1984, 311).

Wie Markmiller mitteilt, bildeten Diffamierungen und Diskriminierung manchmal Bestandteile von Bräuchen. Hierbei offenbarte sich in krasser Weise die Negativseite der sozial integrativen Wirkungen von Volkskultur. So „benutzte die Partei die Feier der Sommersonnenwende 1934 gezielt dazu, im Feuer des Holzstoßes die "Volksschädlinge" aus dem "Volkskörper" auszubrennen, wie wenn es sich dabei um einen Schlangenbiß mit der Gefahr einer Blutvergiftung gehandelt hätte“ (Markmiller 1986/87, S. 253).

Die Dingolfinger Lokalzeitung berichtete am 25. Juni 1934:

„Gauredner Pg. Kuhr-Bayreuth ergriff nach seiner Ansprache nochmals das Wort, um abzurechnen mit den Juden, Stänkerern, Nörglern und Miesmachern. [...] Der Jude soll ausgelöscht werden für immer aus Deutschlands Geschichte, das Miesmacher- und Stänkerertum sollen die Flammen wegzehren. Symbolisch wurden nun die Feinde des dritten Reiches ins Feuer geworfen“ (Markmiller 1986/87, S. 253).

Wir wissen, was später geschah: Die propagandistische Gewalt schlug um in tatsächlichen Terror. So kündigte das nationalsozialistische Regime im Rahmen von Festen und Feiern in symbolischen Handlungen sein „politisches Programm“, die geplante Massenvernichtung in den Konzentrationslagern, an.

 

Das „Lied der Moorsoldaten“

Literatur

Buchenwald (1988): ein Konzentrationslager. Bericht der ehemaligen Häftlinge Emil Carlebach u. a.. 2. Aufl. Berlin 1988.

Eisler, Hanns (1973): Bericht über die Entstehung eines Arbeiterliedes. In: Musik und Politik. Schriften 1924–1948. Hg. v. Günter Meyer. München. S. 274–280.

Fackler, Guido (2000): „Des Lagers Stimme“. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Bremen.

Kogon, Eugen (1947/1974): Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Berlin 1947. Neuaufl. Stuttgart, Hamburg, München 1974.

Das Lagerliederbuch (1980). Lieder, gesungen, gesammelt und geschrieben im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin 1942. Dortmund 1980.

Lammel, Inge (1975): Das Arbeiterlied. Leipzig.

Lammel, Inge (1978): Kampfgefährte – unser Lied. Berlin (DDR).

Lammel, Inge, und Günter Hofmeyer (Hg.) (1962): Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern. Leipzig 1962. (Das Lied – im Kampf geboren, H. 7.)

Langhoff, Wolfgang (1978): Die Moorsoldaten. 13 Monate KZ. Zürich. (1. Aufl. 1935).

Das Lied der Moorsoldaten (2002): 1933 bis 2000. Bearbeitungen, Nutzungen, Nachwirkungen. Hg. vom Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager (Papenburg). Papenburg (2 CDs + Textkommentar).

Mall, Volker (1979): Lied im Unterricht: „Die Moorsoldaten“. In: Musik und Bildung 11 (1979). S. 686–690.

Der Moorsoldat (1978), hg. v. Komitee der Moorsoldaten, H. 1 u. 2.

Musik in Konzentrationslagern (1991). Dokumentation der Veranstaltungsreihe Freiburg i. Br., Oktober – Dezember 1991.

Naujoks, Harry (1987): Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936–1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten. Köln.

Probst-Effah, Gisela (1995): Lieder gegen „das Dunkel in den Köpfen“. Untersuchungen zur Folkbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Essen.

Probst-Effah, Gisela (1995): Das Moorsoldatenlied. In: Jahrbuch für Volksliedforschung, im Auftrag des Deutschen Volksliedarchivs hg. von Otto Holzapfel. Jg. 40 (1995). S. 75–83.

Probst-Effah, Gisela (2006): Das „Moorsoldatenlied“ im Spannungsfeld deutsch-deutscher Ideologien. In: Musik als Kunst, Wissenschaft, Lehre. Festschrift für Wilhelm Schepping zum 75. Geburtstag. Hg. v. Günther Noll, Gisela Probst-Effah, Reinhard Schneider. Münster. S. 384–399.

Probst-Effah, Gisela (2007): Das Moorsoldatenlied. Zur Geschichte eines Liedes von säkularer Bedeutung. In: Good-bye memories. Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts. Hg. von Barbara Stambolis u. Jürgen Reulecke. Essen. S. 155–173.

Schaul, Dora (Hg.) (1975): Résistance. Erinnerungen deutscher Antifaschisten. Frankfurt am Main.

Sofsky, Wolfgang (1993): Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt am Main.

Suhr, Elke, und Werner Boldt (1985): Lager im Emsland 1933–1945. Geschichte und Gedenken. Oldenburg.

Die Moorsoldaten (Originalfassung)

Wohin auch das Auge blicket,

            Moor und Heide nur ringsum.

            Vogelsang uns nicht erquicket,

            Eichen stehen kahl und krumm.

                        Wir sind die Moorsoldaten

                        und ziehen mit dem Spaten

                        ins Moor!

Hier in dieser öden Heide

            ist das Lager aufgebaut,

            wo wir fern von jeder Freude

            hinter Stacheldraht verstaut.

                        Wir sind die Moorsoldaten...

            Morgens ziehen die Kolonnen

            in das Moor zur Arbeit hin.

            Graben bei dem Brand der Sonne,

            doch zur Heimat steht der Sinn.

                        Wir sind die Moorsoldaten...

            Heimwärts, heimwärts jeder sehnet,

            zu den Eltern, Weib und Kind.

            Manche Brust ein Seufzer dehnet,

            weil wir hier gefangen sind.

                        Wir sind die Moorsoldaten...

            Auf und nieder gehn die Posten,

            keiner, keiner kann hindurch.

            Flucht wird nur das Leben kosten,

            vierfach ist umzäunt die Burg.

                        Wir sind die Moorsoldaten...

            Doch für uns gibt es kein Klagen,

            ewig kann's nicht Winter sein.

            Einmal werden froh wir sagen:

            Heimat, du bist wieder mein.

                        Dann ziehn die Moorsoldaten

                        nicht mehr mit dem Spaten

                        ins Moor!

                        (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 14 f.)

Das Moorsoldatenlied – auch „Moorlied“ oder nach seinem Entstehungsort „Börgermoorlied“ genannt – ist eines der frühesten Lieder aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und das bekannteste unter mehreren „Moorliedern“ (vgl. Lammel/Hofmeyer 1962, S. 11 ff.). Es entstand 1933 im KZ Börgermoor bei Papenburg, einem von fünfzehn Gefangenenlagern im Emsland, in denen seit dem Beginn der Nazi-Diktatur überwiegend politische Oppositionelle aus dem Rhein- und Ruhrgebiet – in der Mehrzahl Kommunisten – inhaftiert waren.

Es war die Aufgabe der Häftlinge, riesige Moorflächen mit Schaufeln und Hacken, ohne die Hilfe von Maschinen zu kultivieren: Arbeit in den Konzentrationslagern zielte nicht auf Gewinn und Nutzen, sondern bezweckte die Schinderei und Vernichtung von Menschen (vgl. Sofsky 1993, S. 193 ff.).

Das Moorsoldatenlied wurde im Sommer 1933 anlässlich einer Kulturveranstaltung im Lager, des „Zirkus Konzentrazani“, verfasst, die die Häftlinge als Antwort auf ein nächtliches Pogrom der SS inszenierten. Sie beabsichtigten mit ihren Darbietungen u.a., den SS-Leuten, „den Unterschied zwischen ihrer eigenen primitiven und der Lebensauffassung ihrer politischen Gegner vor Augen zu führen“ (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 16).

Der Bergmann und Arbeiterdichter Johann Esser aus Rheinhausen verfasste sechs Strophen, die der Schauspieler und Regisseur Wolfgang Langhoff in ihre heute bekannte Form brachte. Rudi Goguel, ein kaufmännischer Angestellter mit musikalischer Ausbildung – später war er als Journalist und Historiker tätig (Fackler 2000, S. 246) – erfand zu dem Text eine Melodie und schrieb dazu einen vierstimmigen Satz für Männerchor. Abends wurde im Waschraum von Block 8 heimlich geprobt, während einige „Schmiere“ standen und vor herannahenden SS-Leuten warnten.

Am Sonntagnachmittag des 27. August 1933 wurde das Moorsoldatenlied uraufgeführt. Rudi Goguel und Wolfgang Langhoff haben dieses Ereignis eindrucksvoll beschrieben: „Die sech­zehn Sänger, vorwiegend Mitglieder des Solinger Arbeitergesangvereins, marschierten in ihren grünen Polizeiuniformen (unsere damalige Häftlingskleidung) mit geschultertem Spaten in die Arena, ich selbst an der Spitze in blauem Trainingsanzug mit einem abgebrochenen Spatenstiel als Taktstock. Wir sangen, und bereits bei der zweiten Strophe begannen die fast 1000 Gefangenen den Refrain mitzusummen. Von Strophe zu Strophe steigerte sich der Refrain, und bei der letzten Strophe sangen auch die SS-Leute, die mit ihrem Kommandanten erschienen waren, einträchtig mit uns mit [...] Bei den Worten ‚Dann ziehn die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten ins Moor‘ stießen die sechzehn Sänger die Spaten in den Sand und marschierten aus der Arena, die Spaten zurücklassend, die nun, in der Moorerde steckend, als Grabkreuze wirkten“ (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 17).

Nicht nur die Häftlinge, sondern auch die SS-Leute waren von der Darbietung überwältigt: „Ich sah den Kommandanten. Er saß da, den Kopf nach unten und scharrte mit dem Fuß im Sand. Die S.S. still und unbeweglich. – Ich sah die Kameraden. Viele weinten“ (Langhoff 1978, S. 192). Nach der Aufführung des Moorsoldatenliedes soll es zu politischen Gesprächen zwischen Häftlingen und SS-Leuten gekommen sein (Langhoff 1978, S. 195), aber auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen unter der SS, die auf das Lied teils begeistert, teils ablehnend reagierte (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 17). Zwei Tage nach der Veranstaltung durfte es nicht mehr gesungen werden, aber sogar SS-Leute sollen sich dem Verbot widersetzt haben (Langhoff 1978, S. 194).

Das Moorsoldatenlied wurde inner- und außerhalb der nationalsozialistischen Lager und Ge­fängnisse vor allem durch entlassene oder in andere Lager und Gefängnisse überführte Häftlinge, deren Sympathisanten oder auch durch SS-Leute schnell bekannt. Vermutlich über das Lager Esterwegen gelangte es in das KZ Sachsenhausen und von dort aus später nach Buchenwald. Aus Sachsenhausen sind mehrere Liederbücher überliefert, die das „Moorlied“ enthalten. Wolfgang Langhoff emigrierte nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager im Jahr 1934 in die Schweiz. 1935 erschien im Züricher Spiegel-Verlag sein Bericht „Die Moorsoldaten“, der die Erlebnisse in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern schildert. Das Buch, das schon kurz nach der Veröffentlichung in sieben weitere Sprachen übersetzt wurde, enthält auch das Moorsoldatenlied und dessen Entstehungsgeschichte.

Das Lied ist in verschiedenen Varianten überliefert, seine Urfassung nicht bekannt. Textliche und melodische Abweichungen kamen vermutlich durch Übertragungs- und Erinnerungsfehler bei dem teils schriftlichen, teils mündlichen Tradierungsprozess zustande.

Im Ausland wurde das „Moorsoldatenlied“ vor allem durch Exilanten verbreitet. 1935 lernte der Komponist Hanns Eisler es während eines Aufenthaltes in London durch einen ehemaligen Häftling, der ein Polizeispitzel gewesen sein soll (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 18), kennen. Er schrieb die ihm mitgeteilte Melodie für den Sänger Ernst Busch auf, der wiederum das Lied mit nach Spanien nahm, wo es während des Bürgerkrieges (1936–1939) in das Repertoire der Internationalen Brigaden gelangte, so dass Menschen vieler Nationalitäten es kennenlernten. Es wurde damals in viele Sprachen übersetzt.

Rudi Goguel hat den konkreten musikalischen Bezug der Originalmelodie zur Situation im KZ Börgermoor betont: „Die drei gleichbleibenden Töne, mit denen das Lied beginnt, sollten die Öde des Moores und die schwere Situation charakterisieren, unter der die Moorsoldaten leben mußten“ (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 17). Die Tonrepetition am Beginn der ersten und dritten Zeile wurde von den Häftlingen als prägnanter musikalischer Ausdruck ihrer Misere empfunden. In Eislers Fassung des Liedes sind diese charakteristischen Tonwiederholungen durch einen Quartschritt ersetzt (vgl. Lammel/Hofmeyer 1962, S. 18). In der veränderten Melodie glaubte Eisler u.a. Reminiszenzen an „ein Lied aus dem Dreißigjährigen Krieg“ („Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind weht“) zu entdecken, und im Wechsel des Refrains nach Dur vermutete er Anklänge an „den russischen revolutionären Trauermarsch“ (Eisler 1973, S. 276). „Horch, Kind, horch“ wurde jedoch viel später verfasst: Die Melodie zu dem Text von Ricarda Huch entstand in der Jugendbewegung. Eislers – irrtümlich oder beabsichtigt – fehlerhafte Interpretation (vgl. Mall 1979) steigerte die geschichtliche Bedeutsamkeit des Moorsoldatenliedes und trug erheblich zu seiner ideologisch verklärten Mythisierung bei. Sein Ursprungsort und Entstehungsanlass verblassten zu einer Etappe in dem epochenübergreifenden Geschichtsprozess der internationalen Arbeiterbewegung.

Der „getarnte revolutionäre“ Gehalt des Moorsoldatenliedes, den Eisler in seiner Deutung des Liedes hervorhob, lag vor allem in der Schlussstrophe, die die Häftlinge, wie man ihm erzählt habe, „mit besonderer Wuchtigkeit“ sangen (Eisler 1973, S. 277). Die Wirkung dieser Strophe beschrieb ein ehemaliger Buchenwaldhäftling kurz nach der Befreiung: „Das waren keine Töne mehr. Das war Hoffnung, das wurde Gewißheit! Das Lied trug uns, es hat uns fest und zuversichtlich gemacht, damals in den Februartagen 1938 im KZ Buchenwald“ (Musik in Konzentrationslagern. Freiburg im Breisgau Oktober – Dezember 1991. S. 67). Die Häftlinge steigerten den verborgenen oppositionellen Sinn der Schlusszeilen in ihrer Phantasie in offenen Widerstand. Der ehemalige Moorsoldat Heinz Junge erinnert sich, dass im Lager Börgermoor bei der Textstelle „Dann ziehn die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten“ auf die Holzfußböden in den Baracken mit dem Fuß fest aufgestampft worden sei. Die „Moorsoldaten“ hätten die Spaten, die sie bei der Arbeit im Moor benötigten, geschultert – wie Gewehre – getragen (Interview vom 6.7.1990). Eugen Kogon teilt eine Textvariante des Schlussrefrains, die im KZ Buchenwald heimlich kursierte, mit: „Dann zieh'n die Moorsoldaten / Gewehre statt der Spaten [...]“ (Kogon 1974, S. 106). Dem Zukunftsoptimismus in der Schlussstrophe des Moorsoldatenliedes lag die Überzeugung zugrunde, dass die dunkle Gegenwart eine überwindbare Phase der Geschichte sei, die die Beteiligten nicht „als ‚Opfer‘ des SS-Terrors, nicht als Leidende, sondern als Kämpfer“ herausfordere (Buchenwald 1988, S. 111). Diese Gewissheit wirkte ermutigend und rettete davor, in Gefühle der Isolation, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht zu versinken.

Es ist dokumentiert, dass das „Moorsoldatenlied“ in den Konzentrationslagern einen festen rituellen Bestandteil bildete: Als Häftlinge des KZ Sachsenhausen im Frühjahr 1937 glaubten, Carl von Ossietzky sei gestorben, veranstalteten sie eine Gedenkfeier, die sie mit dem Moorsoldatenlied einleiteten (Naujoks 1987, S. 51; Lammel/Hofmeyer 1962, S. 49). Heinz Junge erinnert sich, dass das Lied im KZ Börgermoor regelmäßig am Ende von „bunten Abenden“ „zur Hebung der Kampfmoral“ gesungen worden sei (Interview Junge vom 6.7.1990). Es erklang auch als feierlicher Abschluss von Veranstaltungen im KZ Sachsenhausen (Naujoks 1987, S. 49; Lammel/Hofmeyer 1962, S. 48). Man sang das Moorsoldatenlied als demonstrativen Gegensatz zu den Pflichtgesängen stehend; es sollte für außergewöhnliche Anlässe aufbewahrt bleiben: „weil es uns besonders wertvoll war“ (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 17).

Um neu eingetroffene Häftlinge zu ermutigen, gab es in den frühen Emslandlagern ein Begrüßungszeremoniell: „Leitete die SS die beabsichtigte Einschüchterung der Gefangenen mit einem ‚Prügelempfang‘ ein, so setzten die Gefangenen ein eigenes Willkommen dagegen: Wenn die Neuankömmlinge abends müde und zerschunden in ihre Betten gekrochen waren, wurden sie mit dem – leise gesummten – Moorsoldatenlied oder einem vertrauten Arbeiterlied begrüßt. Sodann machte sie ein illegaler ‚Lagersender‘ – eine anonyme Stimme aus dem Dunkeln – mit überlebensnotwendigen Gepflogenheiten des Lageralltags bekannt“ (Suhr/Boldt 1985, S. 41).

Der Neuankömmling im Konzentrationslager erlebte die Aufnahmeprozedur als „einen Prozeß tiefster persönlicher Erniedrigung und Entwürdigung [...] Nackt wurde er durch den Abgrund gejagt, der die ‚Welt draußen‘ und diese ‚Welt drinnen‘ unüberwindbar trennte“ (Kogon 1947, S. 337). „Wüste Beschimpfungen, Schläge mit Peitschen, Knüppeln und Gewehrkolben, Quälereien wie Kniebeugen, Liegestütze, Hinwerfen in Schmutzpfützen sollten vom ersten Augenblick an den Gefangenen erniedrigen, seinen Willen brechen, ihn zum Arbeitsvieh machen“ (Buchenwald 1988, S. 14). In dieser Welt des Terrors gab es jedoch einige, die den unerfahrenen, desorientierten Neuankömmlingen freundlich begegneten und ihnen Hilfe anboten.

Aus den Erinnerungen des ehemaligen Häftlings Heinz Junge (Interview vom 6. Juli 1990):

Heinz Junge, Mitglied der KPD, wurde im Mai 1933 erstmals festgenommen worden, im August wurde er verhaftet. Er kam ins Gefängnis und danach ins KZ Börgermoor, danach – 1934/35 – nochmals eineinhalb Jahre ins Gefängnis. 1936 emigrierte er nach Holland. Dort wurde er 1939 auf einer Insel interniert. Als die Nationalsozialisten in Holland einmarschierten, wurde Junge an die Deutschen ausgeliefert. 1940 kam er ins Konzentrationslager Sachsenhausen, 1945 nach Mauthausen und das KZ Ebensee in Österreich. 1945 wurde er von den Amerikanern befreit. – In einem Gespräch erinnerte sich Heinz Junge an die Ankunft im KZ Börgermoor vor 57 Jahren und an die Wirkung des Moorsoldatenliedes, das er damals zum ersten Mal hörte:

„Ich wurde am 19. September 1933 vom Dortmunder Polizeigefängnis aus gemeinsam mit ca. achtzig weiteren Häftlingen auf Transport geschickt. Wir wurden in Viehwaggons befördert, Polizeibeamte bewachten uns. – In Papenburg mussten wir aussteigen, nun übernahmen SS-Leute die Bewachung. Im Dunkel tauchten sie auf mit ihren Totenkopfmützen und den schweren Uniformen. Jede Diskussion, die es noch vorher im Wagen gegeben hatte, erstarb... Dem einen oder anderen unter uns wurde es beklommen ums Herz. – Die SS prügelte uns aus den Waggons heraus. Wir wurden in große Loren verladen und ins KZ Börgermoor gebracht. Das Moor wirkte in der Dunkelheit unheimlich und öde. Es gab dort weder Bäume noch Sträucher. Wenn man heute durchgeht, sieht man blühende Gärten; wir haben damals das Gebiet urbar gemacht. – Als wir im Lager ankamen, war der Eingang erleuchtet. SS-Leute standen am Weg. Wir mussten uns aufstellen, abzählen, es gab die ersten Schläge. – Wir wurden in die Baracken geschickt. Mir wies man die Baracke 4 zu. Als ich dort ankam, brannte Licht [...] Der Barackenälteste gab mir Essen und brachte mich danach in den Schlafsaal. Dort brannte nur eine Notleuchte. Es herrschte Ruhe, nur hier und da hörte ich ein wenig Geflüster. Mein Begleiter zeigte mir mein Bett und meine Uniformjacke und wies mich in die neue Umgebung ein. Als er weggegangen war, ertönte von irgendwoher eine Stimme: ‚Kameraden! Ich begrüße hiermit die Neuen, die heute gekommen sind. Wir nehmen sie sofort und ohne Bedenken in unsere Kameradschaft auf. Wir erwarten, dass sich alle dieser Kameradschaft würdig erweisen. Wir machen darauf aufmerksam, dass sich keiner durch Verrat bei der SS Vorteile verschaffen darf [...]‘ Wir bekamen noch einige weitere Informationen. Dann sagte die Stimme: ‚Ihr werdet jetzt unser Moorlied hören.‘ Nun sang an einer anderen Stelle des Raumes jemand das Moorlied zur Klampfe. Wir erfuhren später, wer der Sänger war, aber damals in der Nacht konnten wir ihn nicht erkennen. Man muss sich unsere Stimmung vorstellen: Wir waren todmüde, in Not, in Furcht vor dem Kommenden. Und dann singt einer das Moorlied!“

Nach 1945 gehörte das „Moorsoldatenlied“ in der SBZ bzw. DDR zum offiziell geförderten und gepflegten Liedrepertoire. Es gab dort ein großes – wenn auch eigennütziges – Interesse an der Bewahrung und Pflege von Liedern, in denen sich Widerstand gegen die Obrigkeit artikulierte. Insbesondere in der Bearbeitung Eislers diente das „Moorsoldatenlied“ „ideologisch umgedeutet, dem realsozialistischen Staat zur Bekräftigung seines antifaschistischen Gründungsmythos“ (Fackler 2000, S. 263).

Der Besitzanspruch der DDR gegenüber demokratischen kulturellen Traditionen erscheint nicht gänzlich unbegründet: Viele der vom NS-Regime Verfolgten fanden nach einem langen Leidensweg ihre politische Heimat in der DDR. Nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ sorgten Verlage durch die Veröffentlichung von Büchern und Schallplatten für die baldige Verbreitung des demokratischen Kulturerbes. Seit 1954 sammelte und publizierte das Arbeiterliedarchiv der Akademie der Künste politische Lieder, und zahlreiche Singegruppen und Chöre betrachteten die Pflege solcher Lieder als ihre zentrale Aufgabe.

Ein Teil der politischen Lieder wurde in der DDR unter den Begriff „Arbeiterlied“ subsumiert. Das „revolutionäre Arbeiterlied“ definierte Inge Lammel als die „Erscheinungsform einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsetappe“ und ein „Kampfinstrument der Arbeiter gegen das kapitalistische Herrschaftssystem“ (Lammel 1975, S. 13). Als konstitutiv für das Arbeiterlied galt seine „oppositionelle Stellung zur herrschenden, kapitalistischen Gesellschaftsordnung" (Lammel 1975, S. 14). Zu fragen ist, wie seine Rolle innerhalb des sozialistischen Systems, eines Systems, dem die Überwindung des Kapitalismus und der damit verbundenen Unterdrückung theoretisch vorausgeht, interpretiert wurde. Dazu Lammel: „Die Lieder der Arbeiter sind seitdem nicht mehr Kampfmittel einer unterdrückten Klasse gegen eine Klasse von Ausbeutern; sie stehen nicht mehr in Opposition zur herrschenden Staatsmacht; in ihnen kommen vielmehr die gemeinsamen Interessen von Partei, Regierung und werktätigem Volk beim Aufbau des Sozialismus zum Ausdruck“ (Lammel 1978, S. 141).

Demnach manifestierten sich in den Liedern nicht gegenwärtige Konflikte, sondern die Kämpfe der Vergangenheit, nicht Gegensätze im eigenen Land, sondern nur im Machtbereich des politischen Gegners. Wo die ehemaligen gesellschaftlichen Antagonismen für aufgehoben erklärt wurden, konnten sich Protest und Widerstand „von unten“ nicht mehr artikulieren, weil es das „Unten“ nicht mehr gab bzw. seine Existenz in den offiziellen Verlautbarungen geleugnet wurde. Selbstverständlich zeigte sich, dass die öffentlich proklamierte Übereinstimmung von Volkskultur und staatlicher Kultur Propaganda war und der Realität nicht entsprach.

Viele Lieder aus demokratischer Tradition wurden als historische Monumente ohne einen politischen Gegenwartsbezug behandelt. Oft wurden sie in großer Besetzung und pompöser Aufmachung dargeboten, dadurch feierlich überhöht und in eine irreale Ferne gerückt. Ihrer politischen Brisanz wurden sie auf diese Weise beraubt.

Die Situation des Kalten Krieges zwischen Ost und West bestimmte lange Zeit das Verhältnis zu Teilen der musikalischen Tradition. In vielen Kreisen der Bundesrepublik stieß auf Misstrauen und Ablehnung, was in der DDR von Staat und Regierung gefördert wurde. So begegnete auch das „Moorsoldatenlied“ in der BRD starken Ressentiments, als ein angeblich „antifaschistisches Pflichtlied der DDR“ war es verpönt und außer in den Kreisen der ehemaligen KZ-Häftlinge kaum bekannt. In Schulbüchern war es noch bis zum Ende der siebziger Jahre nur selten zu finden. Populär wurde das Lied in der BRD erst durch die Folk- und Liedermacherszene seit dem Ende der sechziger Jahre. Als es in deren Repertoire gelangte, kannten viele nicht einmal seine Herkunft aus den deutschen Konzentrationslagern. In den siebziger Jahren gehörte das Lied zum Standardrepertoire der Folksänger.

Lieder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung

Literatur

Adamek, Karl (1981): Lieder der Arbeiterbewegung. Frankfurt am Main.

Bonson, Manfred (1981):. USA: Lieder der Bürgerrechtsbewegung. In: Folk, Folklore, Volkslied. Zur Situation in- und ausländischer Volksmusik in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. von Monika Tibbe u. Manfred Bonson. Stuttgart. S. 95-112.

„Bürgerrechtsbewegung“. In: Wikipedia (Stand: 9. Dezember 2008).

Kleff, Michael (1999): Pete Seeger. Eine Legende wird 80 Jahre. In: „Folker!“ Nr. 2/99. S. 6 ff.

„Montgomery Bus Boycott“. In: Wikipedia (Stand: 29. Dezember 2008).

Moosbrugger, Daniel (2004): Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. „Schwarze Revolution“ in den 1950er und 60er Jahren. Stuttgart.

Reimers, Astrid (2006/07): Zwei bekannte Kölner Karnevalslieder, In: ad marginem 78/79 (2006/07), S. 3–9.

„Rosa Parks“. In: Wikipedia (Stand: 5. Januar 2009).

„We shall overcome“. In: Wikipedia (Stand: 8. Dezember 2008).

 

Daten der afroamerikanischen Geschichte

Zwischen 1619-1865 wurden ca. 15 Millionen Afrikaner nach Nordamerika zwangsverfrachtet, um als Sklaven zu arbeiten.

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung (1776) gab es in den Vereinigten Staaten mehr als 460 000 Sklaven. Die nördlichen Bundesstaaten, in deren Wirtschaftsleben die Sklaven nie eine große Rolle gespielt hatten, begannen bald, die Sklaverei abzuschaffen – ein Prozess, der sich allerdings als langwierig erwies und in einigen Fällen erst 1865 abgeschlossen wurde. In den Südstaaten, wo die Sklaverei mit der expandierenden Wirtschaft unauflösbar verbunden war, wuchs die Zahl der Sklaven bis 1865 auf mehr als vier Millionen an.

1861-65 Amerikanischer Bürgerkrieg bzw. Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten, verursacht vor allem durch den Gegensatz in der Frage der Sklaverei. Der Krieg wurde ausgelöst durch die Wahl von Abraham Lincoln, der sich für die Sklavenbefreiung einsetzte, zum Präsidenten der USA. In ihm unterlagen schließlich die elf Südstaaten, die aus der Union ausgetreten waren und sich unter dem Präsidenten Davis gegen die Nordstaaten zusammengeschlossen hatten. Die Abschaffung der Sklaverei wurde im Anschluss an den Krieg in der Verfassung verankert. Die Schwarzen erhielten das aktive und passive Wahlrecht. Dennoch blieben die Afroamerikaner vor allem in den Südstaaten weiterhin unterdrückt. In vielen Bereichen (z. B. in Schulen, Universitäten, Restaurants, Kinos, Krankenhäusern, öffentlichen Verkehrsmitteln und Gebäuden) wurden sie ausgegrenzt.

1865/66 wurde die weiße Terrororganisation Ku-Klux-Klan gegründet.

1896 wurde die Segregation in einem Urteil des Obersten Gerichthofs legitimiert. Es erklärte getrennte Einrichtung für verfassungsgemäß, solange sie von gleicher Qualität seien. (Tatsächlich jedoch waren die Einrichtungen für Schwarze immer schlechter ausgestattet.)

Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich die Bürgerrechtsbewegung in den USA für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner und die Überwindung des Rassismus ein. Es wurde aber auch von Schwarzen die Ansicht vertreten, die afroamerikanische Bevölkerung müsse die bestehenden Unterschiede hinnehmen, bis eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage erreicht sei. Andere Gruppen propagierten u. a. die kollektive Auswanderung nach Afrika.

1909 Gründung der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), die bis in die Gegenwart eine zentrale Organisation der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ist.

Mitte der 1950er Jahre nahmen die Proteste nach einem erfolgreichen mehr als ein Jahr dauernden Busboykott in Montgomery (Alabama) zur Aufhebung der Rassentrennung zu. Unter der Führung des Baptistenpfarrers Martin Luther King (1929–1968) entwickelte sich eine gewaltlose Massenbewegung, die mit Mitteln des zivilen Ungehorsams und friedlichen Protests (beeinflusst von Mahatma Gandhi) ihre Ziele zu erreichen versuchte. Es kam in der Folge zur Aufhebung der institutionellen Segregationspolitik in den Südstaaten.

1957 verwehrte eine aufgebrachte Menschenmenge in Little Rock (Arkansas) neun schwarzen Schülern den Zugang zu der bis dahin ausschließlich von Weißen besuchten Central High School. Der Gouverneur von Arkansas weigerte sich, den Schülern Zugang zu der Schule zu verschaffen. Unter dem Druck einer großen Öffentlichkeit sah sich Präsident Eisenhower gezwungen, den schwarzen Schülern Schutz und Zugang zu der Schule zu verschaffen.

1961 Beginn der Freedom Rides, Busfahrten über die Grenzen von Bundesstaaten in Staaten, in denen die Rassentrennung juristisch zwar aufgehoben war, faktisch jedoch noch existierte. Die Freedom Rides führten zu vielen Gewaltaktionen weißer Rassisten, die durch die Berichterstattung der Medien eine breite Öffentlichkeit fanden.

1963 fanden in Birmingham (Alabama) wochenlange Demonstrationen statt, bei denen die Gewalt der Polizei – vor allem auch gegenüber Kindern – die Öffentlichkeit schockierte. Präsident Kennedy und große Teile der US-amerikanischen Bevölkerung unterstützten nun die Bewegung von Martin Luther King.

Im Sommer 1963 fand ein „Marsch auf Washington“ statt, an dem 250 000 Schwarze und Weiße teilnahmen. Präsident Kennedy hatte versprochen, ein Bürgerrechtsgesetz zugunsten der Schwarzen in den Kongress einzubringen. Als Höhepunkt der Veranstaltung gilt Kings berühmte Rede „I have a dream“.

1964 trat die Bürgerrechtsgesetzgebung in Kraft. Im selben Jahr wurde Martin Luther King der Friedensnobelpreis verliehen.

Am Sonntag, den 7. März 1965, der als „Bloody Sunday“ berüchtigt wurde, fand ausgehend von Selma (Alabama) eine Demonstration mit ca. 600 Teilnehmern statt. Es ging um die Beseitigung von Diskriminierung beim Wahlrecht. Damals griff Polizei die friedlichen Demonstranten brutal an. In den folgenden Tagen ermordeten extremistische Weiße mehrere Schwarze. Die Gewalt rief erneut heftige Reaktionen in der Öffentlichkeit hervor. Präsident Johnson setzte sich für das neue Wahlrechtsgesetz ein.

Ab Mitte der 1960er Jahre spaltete sich die Black Power-Bewegung unter Malcolm X ab, die radikaler und militanter auftrat. Zu dieser Gruppe gehörte auch Angela Davis. Die Black Panther Party wurde 1966 gegründet. Ihre Anhänger versuchten, Strategien des Befreiungskampfes mit revolutionären Zielsetzungen zu verbinden. Der gewaltlose Widerstand Martin Luther Kings wurde von einem Teil der Bürgerrechtsbewegung abgelehnt.

1965 Ermordung von Malcolm X.

1968 fiel Martin Luther King einem Attentat zum Opfer.

Die Bürgerrechtsbewegung in den USA war – wie auch später der Protest gegen den Vietnamkrieg – eng verbunden mit der Folksongbewegung. Im Zusammenhang mit ihr entstanden zahlreiche Lieder, die den Rassismus in den USA thematisieren. „Folksingers“ wie Pete Seeger, Joan Baez, Tom Paxton, Bob Dylan, Phil Ochs und Judy Collins engagierten sich für die Sache der Bürgerrechtler.

 

„We shall overcome”

Der Schweizer Volkskundler Eduard Strübin (1914–2000) hat einmal von der „mondialen Folklore“ gesprochen. Diese Charakterisierung trifft zu auf das Lied „We shall overcome“, das weltweit populär wurde und zahlreiche demokratische Protestbewegungen begleitete. In der Ostermarschbewegung und bei den Aktionen der 1960er Jahre gegen die Notstandsgesetze wurde das Lied auch in Deutschland zur Artikulation von Widerstand gesungen. In den verschiedenen Situationen wurde der Wortlaut oft verändert, aktualisiert.

Man vermutet u. a., dass „We shall overcome“ auf einen Gospelsong mit der Textzeile „Deep in my heart, I do believe, I’ll overcome some day“ zurückgeht. Sie soll 1946 von streikenden Arbeitern der American Tobacco Company – vor allem von afroamerikanischen Frauen – in Charleston (South Carolina) gesungen worden sein.

Es heißt, die Musikerin und Aktivistin der Bürgerrechtsbewegung Zilphia Horton (1910-1956) habe Pete Seeger eine Version des Liedes beigebracht. Der veränderte es, fügte u. a. weitere Verse hinzu („We’ll walk hand in hand, The whole wide world around“). Danach wurde das Lied von verschiedenen Sängern adaptiert und es avancierte zu einer Art Hymne der Gewerkschafts- und der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der US-Südstaaten. Gesungen wurde das Lied auch bei den Protestmärschen von Selma nach Montgomery, die als „Bloody Sunday“ in Erinnerung geblieben sind. „Seit 1963 wurde das Lied mit Joan Baez assoziiert, die es aufnahm und auf einer Anzahl Bürgerrechtsdemonstrationen sowie Jahre später 1969 auf dem Woodstock-Festival aufführte“ („We shall overcome“, in: Wikipedia).

In einer spanischen Version wurde das Lied in den 1960er Jahren auch von mexikanischen Erntehelfern in den USA gesungen. In Südafrika begleitete es die Anti-Apartheidsbewegung. In Indien wurde und wird noch immer eine Fassung in Hindi gesungen. Weitere Versionen gibt es u. a. in Bangladesch. In der linksgerichteten bundesrepublikanischen Folkbewegung und in der Friedensbewegung wurde der Song sehr populär und er tauchte in zahlreichen Liederbüchern auf.

 

„If you miss me at (bzw. from) the back of the bus“

Der Song wurde geschrieben von Charles Neblett von den „Freedom Singers“ auf die Melodie von „O Mary don’t you weep“. U. a. trat Pete Seeger mit diesem Lied hervor.

1. If you miss me at the back of the bus, you can find me nowhere, oh,

come on over to the front of the bus, I’ll be riding up there.

I’ll be riding up there, I’ll be riding up there, oh,

come on over to the front of the bus, I’ll be riding up there.

2. If you miss me on the picket line, you can find me nowhere, oh,

come on over to the city jail, I’ll be rooming over there.

I’ll be rooming over there, I’ll be rooming over there, oh,

come on over to the city jail, I’ll be rooming over there.

3. If you miss me in the Mississippi River, you can find me nowhere,

come on over to the swimming pool, I’ll be swimming right there.

I’ll be swimming right there, I’ll be swimming right there, oh,

come on over to the swimming pool, I’ll be swimming right there.

4. If you miss me in the cotton field, you can find me nowhere, oh,

come on over to the courthouse, I’ll be voting right there.

I’ll be voting right there, I’ll be voting right there, oh,

come on over to the courthouse, I’ll be voting right there.

Dieser Song existiert in vielen Varianten. Wie viele andere politische Lieder wurde er oft verändert, und es wurden Zusatzstrophen verfasst, um ihn an unterschiedliche Situationen und Ereignisse anzupassen.

Das Lied bezieht sich auf einen von Rosa Parks ausgelösten Busboykott. Rosa Parks (1913–2005), die vielen Amerikanern als „Mutter“ der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gilt, weigerte sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery (Alabama), ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast frei zu machen. In Montgomery war die Rassentrennung stark ausgeprägt; so gab es z. B. Schulen, Parkbänke oder Aufzüge mit dem Hinweis „Whites only“ oder „Coloreds only“. Mancherorts durften Afroamerikaner die Schwimmbäder nicht benutzen (s. Liedtext) oder sie wurden in Restaurants nicht bedient. Oder sie waren bei Wahlen benachteiligt – die vierte Strophe des Liedes spielt darauf an.

In Montgomery waren in den Bussen die vorderen Sitzplätze für Weiße reserviert, sie durften von Afroamerikanern nicht benutzt werden, selbst wenn sie bei Überfüllung leer blieben. Die schwarze Bevölkerung wurde in den hinteren Teil des Busses verbannt. Im mittleren Abschnitt durften zwar Schwarze sitzen, sie mussten jedoch eine komplette Reihe räumen, sobald ein weißer Passagier hier Platz nehmen wollte. Das geschah am 1. Dezember 1955: Ein weißer Fahrgast verlangte die Räumung der Sitzreihe, in der Parks saß. Sie weigerte sich, den Platz frei zu machen, woraufhin der Busfahrer die Polizei rief. Wegen Störung der öffentlichen Ruhe wurde Parks verhaftet, angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Martin Luther King, damals ein noch ziemlich unbekannter Baptistenprediger, organisierte den Montgomery Bus Boycott, der später dazu führte, die Racial Segregation in Bussen und Zügen aufzuheben (vgl. „Rosa Parks“, in: Wikipedia). Es wurde die „Montgomery Improvement Association“ gegründet und King zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Am Abend des 5. Dezember 1955 hielt er vor 7000 Zuhörern in der Holt Street Baptist Church eine Rede, die die Fortsetzung des Boykotts ankündigte. Die Forderungen lauteten: respektvolle Behandlung, gleiche Rechte für alle Fahrgäste und die Einstellung von schwarzen Busfahrern (vgl. „Montgomery Bus Boycott“, in: Wikipedia).

Parks’ mutiges Verhalten wurde zum Auslöser jahrelanger Proteste gegen Rassentrennungsgesetze und markierte den Anfang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Als Parks zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, boykottierte die schwarze Bevölkerung 381 Tage lang die Buslinien von Montgomery. Sie wurde dazu aufgerufen, Fahrgemeinschaften zu bilden, Taxis (schwarzer Taxiunternehmen) zu benutzen (zu einem besonders niedrigen Preis) oder zu Fuß zu gehen. Die Teilnahmequote lag bei fast 100 Prozent. Der Boykott setzte die Stadt Montgomery ökonomisch stark unter Druck (vgl. „Montgomery Bus Boycott“, in: Wikipedia).

Im Dezember 1956 legte der Oberste Gerichtshof fest, die Rassentrennung in den Bussen wegen Verfassungswidrigkeit einzustellen. „Der Montgomery Bus Boycott war einer der entscheidenden Siege, die der Bürgerrechtsbewegung zum Durchbruch verhalfen und Martin Luther King weltweit bekannt machte[n]“ („Montgomery Bus Boycott“, in: Wikipedia).

1966 erhielt Parks die Freiheitsmedaille des US-Präsidenten, 1999 die Goldmedaille des Kongresses, die höchste zivile Auszeichnung der USA. Nach ihrem Tod 2005 soll Rosa Parks – so beschloss es der US-Senat – als erste Afroamerikanerin mit einer Statue im Kapitol geehrt werden.

Zur Wirkung der Songs „We shall overcome“ und „If you miss me at the back of the bus“

Die Frage, ob – und evtl. wie – ein Lied politisch wirken oder gar politische Veränderungen bewirken kann, stellt sich u. a. Zusammenhang mit den beiden besprochenen Songs aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Vor allem wäre die weltweite Verbreitung des Liedes „We shall overcome“ nicht möglich, wenn es in politischen Auseinandersetzungen nur musikalisches Beiwerk gewesen wäre. Ausgehend von dem amerikanischen Civil Rights Movement avancierte „We shall overcome“ zu einem musikalischen Symbol von Widerstandsbewegungen.

„We shall overcome“ eignet sich relativ gut für Übertragungen auf verschiedene Situationen, weil seine Textaussage allgemein gehalten ist. „If you miss me in the front of the bus“ bezieht sich hingegen auf ein konkretes Ereignis und ist ohne Textänderungen kaum transferierbar.

Die politische Wirkung von Liedern umschreibt Astrid Reimers in einem Aufsatz mit dem der Psychologie und Soziologie entstammenden Begriff „Empowerment“: „Empowerment bedeutet einen Prozess, in dem eine Gruppe von Menschen hinsichtlich ihrer politischen Artikulation gestärkt wird. Empowerment soll zum Beispiel durch gemeinsame Arbeit und gemeinsame Erfahrungen eine Dynamik zur Selbstmotivation auslösen, indem auch die Erfahrung vermittelt wird, dass wir unserem gesellschaftlichen Umfeld nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern uns artikulieren, uns politisch beteiligen und etwas bewirken können.“ Das Hören und Mitsingen von Liedern haben – abhängig von der Situation, in der gesungen wird – eine solche Empowerment-Wirkung“ (Reimers 2006/07, S. 8 f.).

Antikriegslieder

„Zogen einst fünf wilde Schwäne“

Literatur

Bönisch-Brednich, Brigitte (2002). „Karl Plenzat“. In: Rolf W. Brednich et al (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 10.

 

Ist ursprünglich ein litauisches Lied aus dem 19. Jahrhundert. 1917 übersetzte Karl Plenzat es ins Deutsche. Laut Auskunft des DVA Freiburg konnte die litauische Vorlage nicht gefunden werden.

Karl Plenzat wurde 1882 geboren und starb im Februar 1945. Er war Pädagoge und Volkskundler. In den Jahren zwischen 1905 und 1926 war er an verschiedenen Schulen tätig. Parallel dazu absolvierte er nach dem Ersten Weltkrieg an der Königsberger Universität ein Studium der Germanistik, Anglistik, Philosophie und Pädagogik. Seit 1926 war er Dozent, dann Professor für Deutsch und Volkskunde. Seit 1935 hatte er einen Lehrauftrag am Institut für Heimatforschung und Volkskunde der Universität Königsberg; seit 1938 war er Professor für Volkskunde an einer Hochschule für Lehrerinnenbildung. Plenzats Interesse galt besonders dem Sammeln von mündlichen Überlieferungen: Volksliedern und Erzählungen (Sagen, Märchen, Schwänken) (vgl. Bönisch-Brednich 2002).

Das Lied „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ wurde nach dem Erscheinen von Plenzats Sammlung „Liederschrein“ 1918 in ganz Deutschland bekannt. Den Text verfasste der Autor inmitten des Ersten Weltkrieges. Dies weckt die Vermutung, dass seine Gesinnung damals eher pazifistisch als militaristisch gewesen sei. Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass Plenzat später dem Nationalsozialismus nahe stand.

Zum Inhalt: Der Krieg wird außer in der dritten Strophe („junge Burschen“, Kampf) nur verschlüsselt thematisiert. In der ersten Strophe erscheint das Bild des Schwans mit „leuchtend weißem“ Gefieder. Seit der griechischen Antike ist der Schwan ein wichtiges Symboltier. Oft galt er als Sinnbild „edler Reinheit“. Gelegentlich wird er als Gegenspieler und Feind des Adlers und auch der Schlange bezeichnet (s. Knaurs Lexikon der Symbole). „Der berühmte ‚Schwanengesang’ [...] geht auf die schon bei Aischylos [...] erwähnte prophetische Gabe des Apollo-Vogels zurück, der von seinem nahen Tod weiß und [...] Klagelaute hören lässt“ (Ebd.).

Birken am Bachesrand: ein Naturbild, das den Frühling assoziieren lässt. Die Birke mit ihren hellgrünen Blättern und dem weißen Stamm symbolisiert Lebensfreude, Frühling u.ä.; Birkenzweige spielen z. B. in Maibräuchen eine Rolle.

Die beiden Anfangsstrophen thematisieren die Natur (Schwäne, Birken), die dritte und vierte Menschen (Burschen, Mädchen). Durch den Anfangsvers jeder Strophe sind jedoch einerseits die erste und dritte, andererseits die zweite und vierte miteinander verbunden („Zogen einst...“; „Wuchsen einst...“).

Der „Handlungszusammenhang“ der Strophen ist vage. Die Strophen zeigen Anklänge an einen Dialog, in dem über ein Ereignis andeutungsweise berichtet wird: Auf die Frage: „Sing, sing, was geschah?“ erfolgt jeweils eine Antwort, die nur die Folgen eines Ereignisses, das jedoch ausgespart bleibt, nennt: „Keiner ward mehr gesehen“; „Keines in Blüten stand“; „Keiner kehrt mehr nach Haus“; „Keines den Brautkranz wand“. Die Schlusszeilen drücken jeweils Verlust, Trennung, zerstörte Jugend und Zukunft aus. Die eindringliche Wirkung ist u. a. auf die Wiederholung von Textzeilen zurückzuführen. (Die Bedeutung der Zahl „Fünf“ blieb unklar.)

Dieses Lied wurde von vielen verschiedenen Gruppierungen gesungen: einerseits von Vertriebenenverbänden – dies vor allem wegen des Bezugs zur Memel bzw. dem Memelland in Ostpreußen; andererseits fand das Lied Anklang in der eher politisch links orientierten Folkbewegung der siebziger Jahre.

„Where have all the flowers gone“

Literatur

Kleff, Michael (1999): Pete Seeger wird 80! Überleben mit kultureller Guerillataktik. In: Folker! Magazin für Folk, Lied und Weltmusik 2/99. S. 6–9.

„Sag mir, wo die Blumen sind“. In: Wikipedia (Stand: 19.11.2008).

Siniveer, Kaarel (1981): Folk Lexikon. Art. „Seeger, Pete“. Reinbek bei Hamburg. S. 238–241.

„Where have all the flowers gone?“ Pete Seeger/Joe Hickerson 1956–50. http://www.fortunecity.com/tinpan/parton/2/where.html (Stand: 21.11.2008).

 

Den Originaltext und die Melodie von „Where have all the flowers gone“ verfasste Pete Seeger 1955. Das Lied war zunächst nicht erfolgreich. Es wurde im Laufe der Zeit von sehr vielen Interpreten adaptiert, u. a. von Marlene Dietrich, die die deutsche Version erstmals aufführte, das Lied auch auf Englisch und Französisch sang und maßgeblich zu dessen Welterfolg beitrug. Der deutsche Text wurde von Max Colpet (1905–1998) verfasst. Es heißt, dass Colpet, der aus Königsberg stammte und 1933 in die USA emigrierte, dabei von dem Lied „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ angeregt worden sei.

Es wird behauptet, dass sowohl „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ als auch „Where have all the flowers gone“ von einem Lied in Michail Scholochows (1905–1984) Roman „Der stille Don“ inspiriert worden seien (vgl. „Sag mir, wo die Blumen sind“, Wikipedia). Dieses enthalte die folgenden Zeilen:

Where are the flowers,

The girls have plucked them.

Where are the girls,

They’ve all taken husbands.

Where are the men?,

They’re all in the army.

Diese Behauptung wird von Seegers Version der Entstehungsgeschichte des Liedes „Where have all the flowers gone“ unterstützt: Seeger erinnert sich daran, dass er im Oktober 1955 auf dem Weg zu einem Konzert in einem Flugzeug gesessen und in seiner Tasche ein Notizbuch mit der Niederschrift von drei Versen gefunden habe, die er sich bei der Lektüre von Michail Scholochows Roman „Der stille Don“ notiert hatte. Angeblich entstammten die Zeilen einem ukrainischen Volkslied, nach dem er lange Zeit vergeblich gesucht habe. Dieses Liedfragment verband er mit weiteren textlichen und musikalischen Bruchstücken aus seiner Erinnerung. 1956 entstand die erste Aufnahme des Liedes bei Folkways. Ein Jahr später hörte Seeger auf, dieses Lied zu singen, weil es ihm wenig erfolgreich erschien (Vgl. „Where have all the flowers gone?“).

Joe Hickerson, ein bekannter amerikanischer Folksinger, Ethnomusikologe, Archivar, Bibliothekar und Leiter des Archive of Folk Song/Culture at the Library of Congress (Washington D.C.), griff es jedoch (anscheinend Jahre) später auf und fügte zwei Verse hinzu. Nun interessierten sich mehrere Musikgruppen dafür, darunter das Kingston Trio und Peter, Paul & Mary. Erst jetzt wurde der Song international erfolgreich (Vgl. „Where have all the flowers gone?“).

Zu Form und Inhalt des Liedes: Mehrere Zeilen stimmen in allen Strophen überein. In den übrigen Versen dominiert ebenfalls das Wiederholungsprinzip. Der Text hat die Form eines Kettenliedes, bei dem sich der Anfang jeder Strophe aus dem Schluss der vorangehenden Strophe ergibt: Blumen – Mädchen; Mädchen – Männer; Männer – Krieg; Soldaten – Gräber; Gräber – Blumen. Der Schluss kehrt zum Anfang zurück, so dass das Lied unendlich weitergesungen werden könnte. Die Form symbolisiert das Leben als einen ständigen verhängnisvollen Kreislauf. Am Ende bleiben mehr Fragen – der überwiegende Teil des Textes besteht aus Fragen –, als dass Antworten gefunden werden. Auch in diesem Lied wird der Krieg nur verhalten kritisiert.

Biographische Daten zu Pete Seeger (vgl. Siniveer 1981, Art. „Seeger, Pete“; Kleff 2/99)

Wurde geboren am 3. Mai 1919 in New York. Sein Vater war der Musikwissenschaftler Charles Seeger, seine Mutter war Geigenlehrerin.

1936–38 Studium der Soziologie und des Journalismus an der Havard University.

1939/40 begleitete er Alan Lomax, einen bekannten Volksliedsammler und -forscher, auf verschiedenen Reisen für die Library of Congress in Washington. Dadurch kam er zu einem sehr großen Repertoire von Volksliedern und er hatte seine ersten Auftritte als Sänger.

1940 traf er Woody Guthrie.

1941 gründete er seine erste Band, die „Almanac Singers“, die als die erste populäre Musikgruppe der amerikanischen Arbeiterbewegung gilt.

1942 leistete er zwei Jahre lang Kriegsdienst. Dabei trat er auch für GI-Radiostationen und in Soldatenclubs auf.

Seit 1948 stand er auf der „schwarzen Liste“. Zur Zeit des Kalten Krieges wurde er wegen seiner politischen Haltung von großen Teilen der gewerkschaftlich organisierten amerikanischen Arbeiterbewegung ausgeschlossen, so dass er nicht mehr – wie vorher – bei Massenveranstaltungen auftreten konnte. Auch zu den offiziellen Medien hatte er lange Zeit keinen Zugang mehr. Manche seiner Lieder wurden damals durch Gruppen wie Peter, Paul & Mary oder das Kingston Trio verbreitet.

1950 gründete er das Folkmagazin „Sing Out“.

1955 Ladung vor das Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Aktivitäten.

1959 rief Seeger gemeinsam mit anderen das Newport Folk Festival ins Leben.

Seeger schrieb auch zahlreiche Bücher über die amerikanische Folk Music.

 

„Blowin’ in the wind“

Literatur

Benzinger, Olaf (2002): Rock-Hymnen. Das Lexikon. Kassel u. a. S. 65–68.

Faulstich, Werner (1983): Vom Rock’n’Roll bis Bob Dylan. Gelsenkirchen.

Sievritts, Manfred (1984): „Politisch Lied, ein garstig Lied?“. Bd. 2. Wiesbaden 1984.

 

Bob Dylan schrieb dieses Lied 1962. Dylans Manager erkannte wohl das Potential, das in diesem musikalisch einfachen Song steckte. „Noch bevor Dylans Version im Mai 1963 auf dem Album The Freewheelin’ Bob Dylan erschien, ließ Grossmann den Song von der Paradetruppe Peter, Paul & Mary aufnehmen, die er ebenfalls unter Vertrag hatte. Während Dylans Version in ihrer schlichten Rauheit dem Zuhörer wahre Schauer über den Rücken jagen konnte, schliffen Peter, Paul & Mary dem Song seine Kanten ab und präsentierten ihn in seichtem, eingängigem Satzgesang (dazu erweiterten sie das Lied um eine Moll-Parallele, was das Ganze noch gefälliger wirken ließ). Grossmans Rechnung ging auf, und „Blowin’ In The Wind“ stieg mit Peter, Paul & Mary in den amerikanischen Charts 1963 bis auf Platz Zwei empor“ (Benzinger 2002, S. 66).

Dylan selbst soll über sein Lied geäußert haben: „Ich kann nicht viel über diesen Song sagen, außer dass die Antwort im Wind zu finden ist. Sie steht nicht in Büchern oder Filmen oder Fernsehshows oder Diskussionsgruppen – sie ist im Wind. Es gibt Leute, die behaupten, sie wüssten die Antwort, aber ich glaube ihnen nicht. Ich glaube immer noch, sie ist im Wind. Wie ein Stück Papier fällt sie manchmal zu Boden, aber das Problem ist, dass keiner kommt und sie aufhebt, wenn es möglich ist [...]. Und schon fliegt sie wieder davon“ (Benzinger 2002, S. 66).

Manfred Sievritts schreibt über diesen Song:

„Bob Dylan trägt seinen Protest gegen Kanonen, sinnlosen Tod und die Ignoranz und Teilnahmslosigkeit der Menschen gegen das Elend anderer in einer sehr zurückhaltenden, indirekten, mit Metaphern und Vergleichen angereicherten Sprache vor. Er drückt in seinem Lied im Gegensatz zu dem engagierten Gesang von Ernst Busch scheinbar eine gewisse Gleichgültigkeit aus und ruft nicht direkt zum Handeln auf. Damit lässt er alles offen, fordert aber dadurch zum Nachdenken auf. Er wendet sich an ein breites Publikum, dem es genügt, wenn er in Andeutungen spricht. In den einheitlichen, nur von Gitarren begleiteten Strophen und dem nicht abgesetzten kurzen Refrain, der nur aus einer Textzeile besteht, drückt sich Resignation und leise Ironie aus: Ebenso, wie seit Bestehen der Erde die Gesetze der Natur in permanenter Gleichmäßigkeit noch ewig Gültigkeit haben werden, ist auch ein Ende von Krieg und Töten nicht abzusehen. Dabei ist ihm bereits die Nennung des Unzulänglichen und Unverständlichen Angriff genug. Dylan verwendet keine aggressiven Worte, nennt keine Ursachen oder Lösungsvorschläge, sondern kleidet seine Aussage in Fragen auf die niemand eine Antwort weiß, weil die Beantwortung so ungewiss ist wie die Erscheinungen der Natur. Und ähnlich unvergänglich und dauerhaft wie das Bestehen der Erdgeschichte ist das Verhalten der Menschen, ein Naturgesetz, das sich vielleicht in erdgeschichtlichen Zeiträumen in seiner Gewohnheit ändern könnte. In dieser Interpretation steckt Hoffnungslosigkeit und Pessimismus, weil man wohl durch Aktionen den Lauf der Dinge selbst nicht verändern kann. Dementsprechend undramatisch wird die Melodie vorgetragen: leise, etwas undeutlich und ohne Höhepunkte im Ausdruck. Die Mundharmonika, die zwischen den Strophen zum Einsatz kommt, erinnert an die Einsamkeit, die manche Western-Songs und Blues-Titel vermitteln. […].

Von der zurückhaltenden und unaggressiven Gestaltung dieses Liedes und ähnlicher Gesänge muss eine große Faszination ausgegangen sein, denn gerade von ihnen sind einige zu weit verbreiteten ‚Hymnen der Protestbewegung’ geworden, wie etwa We shall overcome, This Land is my Land (Woody Guthrie), Where have all the Flowers gone (Pete Seeger)“ (Sievritts 1984, S. 113 f.).

Es gab aber auch kritische Einwände gegen den Song, z. B.: Die Sozialkritik sei hier sehr vage und unverbindlich formuliert (zitiert nach Faulstich 1983, S. 173). Dazu meint Sievritts: „Vielleicht liegt das Geheimnis des Erfolges der Lieder Bob Dylans darin, dass er nicht als ‚Weltverbesserer’ mit ‚erhobenem Zeigefinger’ auftritt und keine Botschaft verkünden will“ (Sievritts 1984, S. 114).

Trotz dieses „unpolitischen“ Charakters seiner Lieder wurde Dylan zu einem politisch einflussreichen Sänger. Seine Lieder drückten den verloren gegangenen Glauben an Utopien bzw. Ideologien aus, obgleich in den sechziger Jahren in der westlichen Welt dieser Glaube einen starken Auftrieb erhielt.

„‘Blowin’ In The Wind‘ wurde zu der Hymne der Bürgerrechtsbewegung, vergleichbar mit der ‚Marseillaise‘ oder der ‚Internationalen‘“ (Benzinger 2002, S. 66). Viele andere Interpreten übernahmen diesen Song. „’Blowin’ In The Wind‘ dürfte nach ‚Yesterday’ der am meisten gecoverte Song des Pop sein. Schon 1963 gab es zirka sechzig Versionen, im Laufe der Jahre wurden es Hunderte. Um nur einige zu erwähnen: Joan Baez, Stevie Wonder, Marlene Dietrich, die Duke Ellington Bigband, Stan Getz, King Curtis, Judy Collins, die Edwin Hawkins Singers, Glen Campbell, die Hollies, Nina Simone oder Elvis Presley. Jeder von ihnen interpretiert den Song auf seine Weise: als Folksong, als Country-Titel, als Rhythm-&-Blues- oder Soulnummer, als Jazzstück, als Blues oder als Pop- und Rocksong“ (Benzinger 2002, S. 67).

Dylans erste Aufnahme des Songs entstand 1963. Doch deutete er in zahlreichen späteren Aufnahmen das Lied um.

Biographisches zu Bob Dylan:

Heißt eigentlich Robert Allen Zimmerman. Wurde geboren am 24. Mai 1941 in Duluth / Minnesota als Sohn eines jüdischen Kaufmanns.

1961 ging er nach New York und nannte sich nun „Bob Dylan“ (wahrscheinlich nach dem walisischen Dichter Dylan Thomas).

1961 besuchte er sein Idol, den Folksänger Woody Guthrie, der damals schwer krank war und im Krankenhaus lag. (Guthrie starb 1967.) Er spielte ihm einige seiner Songs vor.

1962 Aufnahme der ersten LP.

Seit 1963 hatte er Kontakt mit Joan Baez.

1963/64 lieferte Dylan den „Soundtrack zur Bürgerrechtsbewegung“. „Blowin’ in The Wind“ wurde zur Hymne und Dylan zur Ikone der Protestbewegung.

1965/66 trat Dylan beim Newport Folk Festival mit Rockband und E-Gitarre auf und schockierte damit die Szene, denn Rock galt dort als kommerzieller Schund. Das Publikum reagierte z. Tl. empört. Beifall erhielt Dylan aus der Popwelt. Überhaupt ist kennzeichnend für Dylan, dass er die Erwartungen seines Publikums nicht erfüllt und bei Auftritten häufig provoziert.

 

Gemeinsamkeiten der drei Lieder

Der Bezug der beiden ersten Lieder zu dem Roman „Der stille Don“. Ähnliche Bilder werden verwendet: Blumen – Birken; Mädchen; Soldaten, Krieg. Beide Lieder beziehen sich auf eine lang zurückliegende Vergangenheit: „Zogen einst...“, „Long time passing“. Die Vergangenheit jedoch setzt sich in der Gegenwart fort. Das Geschehen scheint einem ewigen Gesetz zu folgen. Seegers Lied greift am Ende die Anfangsstrophe auf. Dazwischen findet eine Art Handlung oder Entwicklung statt: Mädchen – Mädchen werden von den Männern „genommen“ – Männer werden Soldaten – Soldaten sterben und werden begraben. Fehlen konkreter politischer Bezüge und Lösungsvorschläge: „The answer is blowing in the wind“; „When will they ever learn?“. Die Fragen bleiben unbeantwortet.

 

Unterschiede zwischen den drei Liedern

Ein zu beachtender Unterschied zwischen dem älteren Lied „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ und den beiden jüngeren Songs besteht darin, dass ersteres – wie ein „Volkslied“ – wenig an die Person des Textdichters/Komponisten, der ja kaum bekannt ist, oder auch eines Interpreten gebunden ist. „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ wird in den unterschiedlichsten Bearbeitungen und in gänzlich verschiedenen Zusammenhängen gesungen (s.o.). Die von damaligen Jugendlichen getragene deutsche Folklorebewegung der späten sechziger und der siebziger Jahre verhalf ihm zu einer größeren Popularität innerhalb dieser musikalischen Jugendkultur, die nach Anknüpfungsmöglichkeiten an „antifaschistische“, „antimilitaristische“ u. a. sich gegen den Nationalsozialismus abgrenzende Traditionen suchte. Das Lied bot sich durch seinen pazifistischen Charakter dazu an. Wahrscheinlich war den damaligen Folkgruppen nicht bekannt, dass der Autor des Liedes der Nazi-Bewegung nahe stand und dass das Lied durch seinen inhaltlichen Bezug zum „verlorenen Osten“ auch gern von politisch rechts gerichteten Gruppierungen annektiert wurde.

Im Unterschied zu „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ sind die Lieder von Seeger und Dylan – trotz zahlreicher Cover-Versionen – stark an die Person des Autors und Interpreten gebunden. Die mediale Vermittlung spielte vor allem bei Dylans Lied eine entscheidende Rolle. Die Massenmedien propagieren nicht nur einen Text und eine Melodie, sondern auch bestimmte Personen und deren Image. Seeger und Dylan haben das Image politischer Sänger. Trotz der wenig konkreten Aussagen lassen ihre beiden Lieder bestimmte politische Zusammenhänge assoziieren: vor allem die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und die Opposition gegen den Vietnam-Krieg.

In einer 1975 erschienenen Untersuchung definiert Werner Mezger Schlager als „hochgradig personalisierte Musik, deren Erfolg oder Misserfolg zu einem nicht unwesentlichen Teil auf der Harmonie von Titel und Interpret beruhe (Werner Mezger: Schlager. Tübingen 1975. S. 26). Diese Definition trifft auch auf andere Genres medial vermittelter Musik zu. Zum Schlager schreibt Mezger:

„Kaum eine andere Musikgattung ist […] so stark an ganz bestimmte Sänger, Instrumentalsolisten, Ensembles oder Orchesterleiter gebunden wie der Schlager […]. Während bei sämtlichen Werken der E-Musik und der älteren U-Musik die Ausführenden relativ beliebig austauschbar sind, gibt es bei den aktuellen Produkten der Schlagerbranche nahezu keine Variabilität der Besetzung […]“ (Mezger 1975, S. 25).

 

Kollektive Emotionalisierung durch Medien: Elton Johns „Candle in the Wind“

Literatur

Bleicher, Joan Kristin (1998): Prinzessin Diana. Mediale Konstruktion kollektiver Rituale. In: ZMMnewsONLINE, Mai 1998 (Zentrum für Medien und Medienkultur – Universität Hamburg).

Benzinger, Olaf (2002): Candle In The Wind. In: Rock-Hymnen. Das Lexikon. Kassel u. a. S. 75–78.

„Candle in the Wind“. In: Wikipedia (Stand: 24. Dezember 2008).

„Diana Spencer“. In: Wikipedia (Stand: 10. Januar 2009).

„Elton John“. In: Wikipedia (Stand: 16, Januar 2009).

Matussek, Matthias (1997): Die gejagte Jägerin. In: Spiegel Nr. 37 vom 8.9.1997, S.216–224.

Weber, Martin (1996): Kollektive Emotionalisierung durch Medien bei konstruierter Massentrauer am Beispiel von Elton Johns „Candle in the Wind“. Referat, gehalten im Sommersemester 2006. (unveröffentlicht)

 
Biographisches zu Elton John

Sir Elton Hercules John (eigentlich Reginald Kenneth Dwight) wurde geboren am 25. März 1947 in Pinner, Middlesex (England)

Frühe Trennung der Eltern. Elton John wuchs bei seinen Großeltern auf, die Beziehung zum Vater war schlecht. Mit elf Jahren begann er ein Studium an der Londoner Royal Academy of Music. Er studierte dort sechs Jahre lang Klavier und Musiktheorie. Mitte der 1960er Jahre gründete er mit Studienkollegen zusammen die Band „Bluesology“. Seitdem nannte er sich Elton John.

1969 veröffentlichte er seine erste Komposition auf dem Album der Band „Three Dog Night“. Damals arbeitete er Arbeit an seinem ersten Soloalbum. Der Songwriter Bernie Taupin schrieb seit diesem Zeitpunkt fast alle seine Songs.

Das zweite Album „Elton John“ (mit Streichorchester eingespielt) wurde ein erster großer Erfolg. Innerhalb eines Jahres placierte er fünf Alben in den US-Charts. Kurz darauf wurden einige seiner Songs zu internationalen Hits, darunter 1973 das der 1962 verstorbenen Marilyn Monroe gewidmete Lied „Candle in the Wind“.

1976 wurde sein Duett mit Kiki Dee „Don’t go breaking my heart“ zum Diskotheken-Hit. Zwei weitere Alben mit Discomusik folgten. 1980 wandte er sich wieder Balladen zu. Bis Mitte der achtziger Jahre erreichten einige seiner Singles („I’m still standing“, „Sad songs“, „Nikita“) hohe Chartpositionen.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erlebte er ein künstlerisches Tief. Er beteiligte sich öfter an Wohltätigkeits-Veranstaltungen, so etwa an Aids-Projekten. Auch in späteren Jahren spendete er Aids-Stiftungen große Summen und engagierte sich dafür. 1989 hatte er als Solist Erfolg mit dem Album „Sleeping with the Past“. 1993 erschien eine Platte mit Duetten zusammen mit Künstlern wie George Michael, Little Richard, Chris Rea, Drag Queen Ru Paul u. a. 1994 erhielt er den Oscar für „Can you feel the love tonight“, komponiert für den Disneyfilm „Der König der Löwen“.

1997 wurde die umgetextete Version von „Candle in the Wind“ herausgebracht, in der Elton John den Tod der mit ihm befreundeten Lady Diana betrauert. Die Single „Something about the way you look tonight“, auf deren B-Seite der Titel zu finden war, wurde mit 32 Millionen verkauften Exemplaren zur erfolgreichsten Single „aller Zeiten“. Der Erlös daraus wurde dem „Diana Princess of Wales Memorial Fund“ gestiftet.

Elton John hat eine wechselvolle Biographie. 1980 outete er sich als bisexuell. 1984 heiratete er die deutsche Tontechnikerin Renate Blauel. 1988 ließ er sich von ihr scheiden. Bald darauf bekannte er sich zur Homosexualität. Am 21. Dezember 2005 – dem ersten Tag, an dem nach einer Gesetzesänderung in Großbritannien homosexuelle Paare eine Eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen durften – heiratete Elton John seinen langjährigen Freund, den Popsänger und Filmemacher David Furnish.

1998 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen. Er nennt sich seitdem Sir Elton John, Knight of the Order of the British Empire (KBE). 2002 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Royal Academy of Music in London.

 

Biographisches zu Diana Spencer (vgl. „Diana Spencer“, in: Wikipedia)

geboren 1961, gestorben 1997. Sie entstammte einer Familie des englischen Hochadels, die durch die Scheidung der Eltern wenig Geborgenheit vermittelte. 1981 Hochzeit mit dem britischen Thronfolger Charles. Die Hochzeit in der Saint Paul’s Cathedral in London war ein gigantisches Medienereignis: Die Fernsehübertragung erreichte mit weltweit mehr als 750 Millionen Zuschauern Rekordeinschaltquoten.

In den nachfolgenden Jahren wurde Diana auf Schritt und Tritt von Reportern und Paparazzi verfolgt. Schon zu Lebzeiten war sie weltweit sehr populär. Diana engagierte sich für zahlreiche karitative Projekte, so für die britische Aids-Hilfe, ebenso in der internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen.

1982 und 1984 wurden die Söhne William und Harry geboren. Die Ehe mit Prince Charles geriet sehr bald in eine Krise und zerbrach – diese Krise wurde zentrales Thema vieler Medien. Die offizielle Trennung des Paares erfolgte1992, die Scheidung 1996.

 
Der Unfalltod Dianas

In der Nacht des 31. August 1997 verunglückte Diana bei einem Autounfall in der Unterführung der Pont de l’Alma in Paris gemeinsam mit ihrem Liebhaber Dodi Al-Fayed und dem Chauffeur Henri Paul, in dessen Blut später Alkohol und Psychopharmaka nachgewiesen wurden. Der Mercedes prallte auf der Flucht vor Paparazzi mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Tunnelpfeiler. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Chauffeur durch Blitzlichter der Pressefotografen, die auf Motorrädern hinter der Limousine herjagten, geblendet worden war und die Orientierung verlor. Fayeds Leibwächter Trevor Rees-Jones überlebte als einziger. Diana starb wenige Stunden später im Krankenhaus.

Die Trauerfeier in der Westminster Abbey in London fand am 6. September 1997 statt. Elton Johns Lied „Rose Of England“, die Abwandlung seines ursprünglich auf den Tod von Marylin Monroe bezogenen Hits „Candle in the Wind“, wurde zum Höhepunkt innerhalb der Trauerfeier. Etwa drei Millionen Menschen flankierten den Trauerzug durch London, ca. 2,5 Milliarden verfolgten weltweit im Fernsehen die Feier. Diana wurde in Althorp auf den Familiensitz der Spencers begraben.

Die Umstände des Unfalls sind, auch auf Grund zahlreicher Ungereimtheiten, bis in die Gegenwart Gegenstand vieler Spekulationen und Verschwörungstheorien in der Boulevardpresse und im Internet.

Noch Jahre nach dem Tod scheint die öffentliche Neugier nicht gestillt. Im April 2004 strahlte die CBS Bilder von der sterbenden Diana aus und brach damit ein Tabu. Im Juni 2004 wurde im Londoner Hyde Park ein Diana-Gedächtnisbrunnen durch Königin Elisabeth II. eingeweiht. 2007 veranstalteten Dianas Söhne das „Concert for Diana“ im Londoner Wembley-Stadion mit ca. 60 000 Zuschauern. Es traten mehrere bekannte Musiker und Musikgruppen auf, unter ihnen Elton John. Im selben Jahr fand in Erinnerung an den Tod vor zehn Jahren ein Gedenkgottesdienst in London statt.

 

Der Song „Candle in the Wind“

wurde ursprünglich in Elton Johns 1973 erschienenem Album „Goodbye Yellow Brick Road“ veröffentlicht. Er setzte sich mit dem Leben der 1962 jung verstorbenen Marilyn Monroe auseinander, auf deren bürgerlichen Namen sich die Anfangsworte „Good-bye Norma Jean“ beziehen. Der Text verurteilt die kommerzielle Ausbeutung des Stars, dessen Leben er mit der Metapher einer vorzeitig verlöschenden Kerze beschreibt. Schon die Erstfassung von „Candle in the Wind“ gelangte in die Charts.

Am 6. September 1997 sang Elton John dieses Lied mit einem veränderten Text bei der Beerdigung von Diana Spencer, mit der er befreundet war, in der Westminster Abbey. Der Text mit der Anfangszeile „Good-bye England’s Rose“ wurde von Bernie Taupin verfasst. Dass gerade dieses Lied für diese Gelegenheit ausgewählt wurde, erscheint nicht zufällig: Beide, Marylin Monroe und Diana, waren blond, jung, galten als schön, waren in unglückliche Beziehungen zu Ehemännern und Geliebten verstrickt und waren schließlich Opfer eines als rätselhaft dargestellten Todes. „Beide Frauen verkörperten auf ihre Weise den Mythos der Blondine mit Sex Appeal, die zu schnell lebt und zu früh stirbt“ (Bleicher 1998, S. 4).

Am 13. September 1997 kam die Neufassung mit dem Titel „Candle in the Wind 1997“ als Single mit dem Untertitel „In loving memory of Diana, Princess of Wales“ heraus, „verkaufte sich am ersten Tag 658 000 Mal, in der ersten Woche 1,5 Millionen Mal, 2 und 3 Millionen Mal innerhalb der ersten acht beziehungsweise 15 Tage und blieb fünf Wochen lang die Nummer eins in den Charts“ („Candle in the Wind“, in: Wikipedia). Auch in vielen anderen Ländern behauptete sich das Lied lange Zeit in den Top Charts. Es soll weltweit ca. 33 Millionen Mal verkauft worden sein. (Die Verkaufszahlen  sind evtl. zu überprüfen.) Laut Benzinger wurde „Candle in the Wind“ in den USA zu der erfolgreichsten Platte „aller Zeiten“: In 37 Tagen sollen 32 Millionen Exemplare verkauft worden sein. Damit habe Elton John Bing Crosbys „White Christmas“ überrundet, das es auf 30 Millionen Platten brachte – allerdings im Zeitraum von 55 Jahren (Benzinger 2002, S. 77).

Es gibt mehrere Cover-Versionen des Liedes (vgl. Benzinger 2002, S. 75), ebenso zahlreiche Instrumentalfassungen, darunter für Panflöten, Saxophone, Synthesizer-Orchester, Klavier u. a.; auch das Royal Philharmonic Orchestra in London hat das Stück gespielt.

Es heißt, Elton John habe die Neufassung des Liedes nur anlässlich der Trauerfeier für Diana öffentlich gesungen und es entschieden abgelehnt, es bei späteren Gelegenheiten live vorzutragen. Wenn er das Lied danach in Konzerten sang, habe er stets die erste Version gewählt.

Elton Johns „Candle in the Wind“ gehört inzwischen zu den bevorzugten Liedern auf deutschen Beerdigungen.

 
Wenn Massen Abschied nehmen
In der Trauerfeier in der Westminster Abbey am 6. September 1997 stellte Elton Johns Lied „Rose Of England“ für viele den Höhepunkt dar. Ca. 2,5 Milliarden Menschen verfolgten weltweit im Fernsehen die Feier, die als das meist gesehene TV-Ereignis „aller Zeiten“ gilt.

Die damaligen Trauerfeierlichkeiten werden charakterisiert als „eine Mischung aus Kirchenritual und Popkonzert“ (Bleicher 1998, S. 6). Die kollektive Emotionalisierung, an der die Medien starken Anteil hatten, wäre jedoch nicht möglich gewesen, wenn sie nicht bereits während Dianas Leben vorbereitet worden wäre. Seit der Bekanntgabe der Verlobung mit Prince Charles wurde in den britischen Zeitungen täglich über Diana berichtet. Dadurch war sie in den Köpfen der Leser ständig präsent. Menschen bauten eine Beziehung zu ihr auf, ohne sie selbst jemals getroffen zu haben. „So trauerten sie um einen Familienangehörigen, der über Jahre hinweg nur medial in ihrem Alltag anwesend war“ (Bleicher 1998, S. 5).

Seit ihrer Heirat mit Prince Charles wurde Diana als eine Mischung aus Märchengestalt und Popstar präsentiert. Ihr medial konstruierter Lebensweg bot ein breites Identifikationsangebot: „Für die ältere Generation entsprach Dianas Leben dem einer Märchengestalt. Für die junge Generation fungierte sie als Popstar“ (Bleicher 1998, S. 2). Sie entsprach fast kindlichen Vorstellungen von der schönen Märchenprinzessin. Im Nachruf von USA-Today heißt es: „Sie war ein Wunder aus dem Märchen, die herrliche romantische Realität unserer kollektiven Träume“ (zit. nach Bleicher 1998, S. 3). Ihr Leben schien sich an unzähligen Vorbildern in der Trivialliteratur oder TV-Serien zu orientieren: „Sie lebte diesen Kosmos aus tragischen Lieben, aus intriganten Nebenbuhlern und strahlenden Rittern, einen Kitsch, der grausam ist, wenn man versucht, ihn zu leben, und den man doch nie aus den Augenwinkeln lässt, weil er die Herzen tatsächlich höher schlagen lässt“ (Matussek 1997, S. 220).

Die Berichterstattung über sie und ihre medial konstruierte Biographie trugen auch die Züge von Heiligenlegenden, die ein beispielhaftes Leben mit Anfechtungen und Konflikten vermitteln, wobei das Gute immer siegt und die Bösen immer die anderen sind. Diana wurde gern präsentiert als warmherzige Wohltäterin und Mutter. Dabei war sie bedroht von Menschen, die ihr Leid zufügten: Sie war betrogene Ehefrau und litt unter der Emotionslosigkeit des englischen Königshauses. Das zweite Leben nach ihrer Scheidung war von unterschiedlichen Wohltätigkeitsaktivitäten geprägt, bei denen sie sich der ausgestoßenen Bevölkerung zuwandte. „Im kollektiven Gedächtnis bleibt Diana als im Leid erfahrene Schutzherrin der Geschundenen“ (Matussek 1997, S. 216).

Zugleich wurde ihre erotische Ausstrahlung betont. Sie war „gleichzeitig Mutter Teresa und Super-Modell. Heilige und Sexobjekt“ (Bleicher 1998, S. 4). Zur Vita der Heiligen gehört ein früher Opfertod. Im Fall Diana „passte“ der frühe Unfalltod in den von den Medien konstruierten Lebenslauf. Schuld am Tod hatten nun nicht die ungläubigen Heiden, sondern skrupellose Paparazzi.

Es entstand die paradoxe Situation, dass sensationsgierige Pressefotografen das Unglück hervorgerufen hatten und nun mit allen Registern der Emotionalisierung darüber berichteten. Ein Trauernder soll damals geäußert haben: „Die Presse hat sie gemacht und sie getötet. Ich werde nie wieder eine Zeitung kaufen“ (Bleicher 1998, S. 5).

Dianas Verhältnis zu den Medien war ambivalent. Matussek bezeichnet sie in dem Spiegel-Artikel vom 8. September 1997 als „gejagte Jägerin“: Die panische Flucht vor den Medien endete in ihrem Unfalltod. Andererseits lebte sie „längst in jenem symbolischen Raum, den sie selber kreiert hatte und in dem sie souverän herrschte mit Hilfe der verteufelten Klatsch-Reporter und Fotografen“ (Matussek 1997, S. 216).

Der von den Medien ernannte Star hebt sich einerseits ab von der Masse. „Es gilt, vorhandene Unterschiede zur breiten Masse herauszustreichen, den Alleinstellungs-Anspruch eines Stars zu verdeutlichen“ (Bleicher 1998, S. 2). Andererseits darf der Star nicht auf Distanz zur breiten Bevölkerung bleiben, sondern muss sie erreichen. Dies geschieht durch die Zurschaustellung von Konfliktsituationen und Emotionen. „Erst die für die Wirkung einer Tragödie unerlässliche ‚Fallhöhe‘ vom Leben der Reichen und Schönen in den Bereich menschlicher Leiderfahrung vollendet den Zyklus medialer Legendenbildung“ (Bleicher 1998, S. 3).

Diana erreichte die menschliche Nähe zu ihren Anhängern durch Berichte über ihren Zwist im Königshaus und ihre Eheprobleme. In einem Interview von 1995 gab sie gegenüber Millionen von Zuschauern Auskunft über ihre Bulimie. Daher rankt sich um ihren Tod u. a. die Verschwörungstheorie, Diana sei ein Opfer des Königshauses, dem sie mit ihrer Offenheit in den Medien gefährlich zu werden drohte. Ihr Unfalltod „entfachte eine ungeahnt antimonarchistische Stimmung im britischen Volk“ (Matussek 1997, S. 216).

„Es wird immer ein Rätsel bleiben, warum das Herzleid einer Prinzessin besonders diejenigen zu Tränen rührt, die auf Knien durch ihr Leben rutschen müssen“, schreibt Matthias Matussek (Matussek 1997, S. 224). Warum weinen Menschen über den Tod eines Menschen, den sie bestenfalls medienvermittelt kannten, dem sie aber niemals persönlich begegnet sind? Dafür gibt es evtl. die folgenden Gründe:

-          In die fremde Person werden eigene, oftmals unterdrückte Gefühle projiziert.

-          Die Menschen weinen, weil andere weinen. Das Weinen der anderen wird uns – etwa durch Nahaufnahmen von tränenfeuchten Gesichtern – durch die Medien so präsent gemacht, dass wir schließlich selber weinen.

-          Durch Aufnahmen aus der Vogelperspektive von unendlich lang wirkenden Menschenketten wird im Betrachter das Gefühl erzeugt, dabei zu sein, zu der trauernden Menschenmenge zu gehören (Weber 2006).

Zu den von den Medien bevorzugt dargestellten Trauerritualen gehörten das Aufstellen von brennenden Kerzen und das Niederlegen von Blumen. „Nicht nur die Tore des Palastes, auch der Leichenwagen wurde mit Blumensträußen überhäuft […]. Blumen säumten auch den Weg zum Grab und das Grab selbst“ (Bleicher 1998, S. 4 f.).

Als Verstärker von Emotionen vermitteln die Medien „dem Trauernden das Gefühl, Teil einer breiten Volksemotion zu sein“ (Bleicher 1998, S. 7). Die Trauer der Fremden wird zur eigenen Trauer, Schichtbindungen werden aufgebrochen zugunsten eines klassenlosen Kollektiverlebnisses. Die Bilder werden begleitet von einer emotionalen Sprache, die auf Nähe, Identifikation und Beteiligung zielt. Neben Bildern und Worten gehören zur Emotionalisierung auch Klänge und Lieder, in diesem Fall die Hymne von Elton John.

„Das Phänomen der Massentrauer als Ergebnis medialer Legendenbildung entstand, indem die Medien ausschließlich visuell spektakuläre Formen individueller Trauer aufnahmen und somit eine Verengung der öffentlichen Aufmerksamkeit herbeiführten. Die permanente Wiederholung von wenigen, stark emotionalisierenden visuellen Schemata führte schnell zu einer Ritualisierung der Trauer und sorgte schließlich für eine ‚Massenhypnose’. Die Massentrauer überschritt in der Woche vor der Beerdigung die Grenze zur Massenhysterie“ (Bleicher 1998, S. 6). Die Menschen ahmten das ihnen medial vermittelte Trauerverhalten nach und versuchten es zu übertreffen. Und die Medien heizten die Stimmung weiter an: „Weltweit waren 35% der Zeitungsseiten dem Tode Dianas gewidmet“ (Bleicher 1998, S. 7).

„Medien wiesen nur jenen Formen der Trauer Bedeutung zu, die besonders medienwirksam waren, indem sie symbolhafte Bilder vom Niederlegen der Blumen und der endlosen Menschenschlangen vor den Kondolenzbüchern lieferten. Andere Formen der Trauer, wie der Rückzug der Königsfamilie in das private Umfeld wurden als nicht adäquat, da nicht öffentlich, kritisiert. Die englische Presse forderte in Schlagzeilen eine öffentliche Trauer des Königshauses. Dies führte […] zu öffentlichen Trauerbekundungen der königlichen Familie vor dem Buckingham Palace und zur live übertragenen Ansprache der Queen, die auch von deutschen Sendern übertragen wurde. So wurde letztlich auch die Trauer der tatsächlich unmittelbar Betroffenen medial bestimmt“ (Bleicher 1998, S. 7).

© Gisela Probst-Effah 2009