Das 20. Jahrhundert in Liedern
(Seminar Probst-Effah, Wintersemester
2008/09)
(Das
Skript
basiert auf einem Teil der im Folgenden genannten Literatur und auf
Beiträgen,
die im Rahmen des Seminars entstanden sind.)
Inhalt
Die
Nationalhymne der DDR („Auferstanden aus Ruinen“)
Zwei
„Pflichtlieder“ aus dem NS-Repertoire
Kollektive Emotionalisierung durch Medien: Elton Johns „Candle in the Wind“
Enzensberger, U. (1986): Auferstanden über
alles. Berlin.
Glaner, Birgit: Art. „Nationalhymnen“ in
Musik
in Geschichte und Gegenwart (MGG).
Günther, Ulrich (1966): „...über alles in der
Welt“? Darmstadt, Neuwied.
Hansen, H. J. (1978): Heil Dir im
Siegerkranz.
Die Hymnen der Deutschen. Heidelberg / Oldenburg.
Greve, Uwe (1982): Einigkeit und Recht und
Freiheit. Kleine Geschichte des Deutschlandliedes. Heidelberg.
Knopp, Guido / Kuhn, Ekkehard (1988): Das
Lied
der Deutschen. Schicksal einer Hymne. Berlin, Frankfurt am Main.
Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der
Deutschen. Mainz.
Nationalhymnen. Texte und Melodien. Stuttgart
1982.
Nationalhymnen. 21 neue Arrangements. Mainz etc.:
Schott, 1988.
Otto, Till / Otto, Uli (2007): „Deutschland,
Deutschland über Alles“. Die deutsche Nationalhymne – ein „fragwürdiges
Lied“. Ausführungen zur Entstehung, Rezeptionsgeschichte und Gegenwart
der deutschen Nationalhymne. Regensburg (unveröff. Hausarbeit).
Ragozat, Ulrich (1982): Die Nationalhymnen
der
Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon. Freiburg i.Br. 1982.
Rumler, Fritz (1999): Wigman, Walstatt,
Walhall. Die bizarre Welt der Nationalhymnen. Spiegel Spezial 6/1999.
S. 66.
Sievritts, Manfred (1984): Politisch Lied,
ein garstig
Lied?“. Wiesbaden.
Trümmler, Hans (1979): Deutschland,
Deutschland über alles.
Zeichner, Jürgen (2008): Einigkeit und Recht
und Freiheit. Zur Rezeptionsgeschichte von Text und Melodie des
Deutschlandliedes seit 1933. Köln: PapyRossa Verlag.
Deutschlandlied, gesungen von Heino und Chor;
erschienen bei EMI Electrola GmbH, 1978 als „unverkäufliche
Sonderauflage“.
Geschichte in
Liedern. Deutschland im 20. Jahrhundert. CD u. Begleitheft
Texte–Noten–Erläuterungen. Heidelberg. (RAAbits Geschichte.)
CD „Hymnen der Deutschen“. 1998.
Definition: „Die Nationalhymne ... ist ein in der Regel
mit Text unterlegtes Musikstück, das durch staatliches Dekret zum
nationalen
Symbol erhoben wird ... Zusammen mit der Staatsflagge und dem
Staatswappen
repräsentiert sie die nationale Souveränität eines Landes. Die
Nationalhymne
wird bei staatlichen, sportlichen und anderen öffentlichen Anlässen
gesungen
bzw. gespielt“ (Glaner, Sp. 16). Oft erklingen Nationalhymnen auch zum
Sendeschluss
der Rundfunkanstalten, in manchen Ländern auch am Ende von Theater- und
Kinovorstellungen.
Geschichte
Der Begriff „Hymne“ bedeutet ursprünglich den rituellen Opfer-, Fest- und Lobgesang zu Ehren einer Gottheit. Später gab es auch säkularisierte Hymnen (oder Oden), die Volkshelden oder weltliche Herrscher priesen. Mit dem beginnenden Nationalismus im 19. Jahrhundert „wird schließlich auch das Vaterland zum quasi-göttlichen Gegenstand der gesungenen Verehrung“ (Glaner, Sp. 16). Das erste deutschsprachige Lied, das die Ehre des Vaterlandes verherrlicht, wird bereits Walther von der Vogelweide zugesprochen („Ir sult sprechen: willekomen“, um 1200). Vorläufer der Nationalhymne sind auch religiöse Kampflieder wie Luthers reformatorisches „Ein feste Burg“ (1529). Als älteste Nationalhymne gilt „Wilhelmus von Nassouwe“ (1568), das seit 1932 offizielle Staatshymne der Niederlande ist.
Als wegweisend bei der weltweiten Verbreitung von Nationalhymnen gelten die französische „Marseillaise“ und das englische „God Save the King / Queen“. Die englische Hymne, deren Urheberschaft noch nicht genau erforscht ist und die erstmals 1745 in der Öffentlichkeit erklungen sein soll, wurde sehr populär und in der ganzen Welt von zahlreichen anderen Staaten adaptiert. Sie war u.a. Vorlage für das 1793 von Balthasar Gerhard Schumacher gedichtete „Heil Dir im Siegerkranz“ (erstmals veröffentlicht 1793).
Die französische „Marseillaise“ galt als Prototyp der Revolutionshymne. Sie soll in der Nacht vom 24. Zum 25. April 1792 entstanden sein, als die Nachricht der Kriegserklärung Frankreichs an die Monarchien Deutschland und Österreich Straßburg erreichte. Inspiriert von der patriotisch aufgeheizten revolutionären Atmosphäre, schrieb der Pionierhauptmann und Gelegenheitsmusiker Cl. J. Rouget de Lisle Melodie und Text des „Chant de guerre pour l’armée du Rhin“, das am folgenden Tag uraufgeführt wurde und sich schnell verbreitete. Das Lied begleitete Truppen aus Marseille auf ihrem Weg nach Paris und erhielt daher seinen Namen. Die „Marseillaise“ diente zahlreichen Ländern in der Phase nationaler Selbstbehauptung als Vorbild. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erhielten viele Länder ihre staatliche Unabhängigkeit – so die ehemaligen Kolonien oder die Länder des zerbrochenen „Ostblocks“ – und wollten nun ihre eigenen musikalischen Staatssymbole. Bemerkenswert ist, daß außereuropäische Nationalhymnen nicht auf der musikalischen Tradition des jeweiligen Landes basieren, sondern westeuropäische Melodietypen adaptieren. Prägend war dabei oft der Stil der durch die ehemalige Kolonialmacht importierten Militärmusik.
Beim „Lied der Deutschen“ handelt es sich um
ein Lied, das schon im 19. Jahrhundert entstanden ist. Seine
komplizierte Geschichte als Nationalhymne setzte jedoch erst im 20.
Jahrhundert ein.
Im Januar 1797 entstand die österreichische
Kaiserhymne („Gott erhalte Franz den Kaiser“). Als napoleonische
Truppen auf Wien vorrückten, schrieb Joseph Haydn
(1732-1809) die Melodie im Stil der
englischen Hymne, die er auf seiner Londonreise (1790-1795)
kennengelernt
hatte. Baron Gottfried van Swieten leitete die bereits als
Nationalhymne
konzipierte Komposition an den Wiener Hof weiter, wo Innenminister Graf
Franz
von Saurau den Theologieprofessor Lorenz Leopold Haschka mit der
Textdichtung
beauftragte. Am 12. Februar 1797 wurde die Hymne anlässlich des
Geburtstages
von Kaiser Franz II. am Wiener Hoftheater uraufgeführt. Mit dem
Zusammenbruch
der Monarchie 1918 wurde die Kaiserhymne obsolet.
Haydn erweiterte die von ihm komponierte
Hymne später
zu dem Variationensatz (Adagio) seines „Kaiserquartetts“ in C-dur (op.
76,
Nr. 3).
Der Textdichter des „Liedes der Deutschen“
war
August Heinrich Hoffmann von
Fallersleben ( 1798-1874). Das „von Fallersleben“ war kein
Adelstitel, sondern diesen Zusatznamen hatte Hoffmann sich selbst
gegeben, und zwar nach seinem Geburtsort, wo er am 2. April 1798 zur
Welt gekommen war: Fallersleben in der Nähe von Braunschweig.
Seit 1823 lebte Hoffmann in Breslau
(Schlesien). Er hatte dort seit 1830 eine Professur für Germanistik –
ein damals neues Fach, begründet von Jakob Grimm. Hoffmann hatte sich
nach einer Begegnung mit Grimm dem Studium der deutschen Literatur und
Sprache zugewandt. Er
beschäftigte sich nicht nur wissenschaftlich mit Sprache und Literatur,
sondern sammelte auch Volkslieder und schrieb selbst Verse im
volksliedhaften
Stil („Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald“, „Alle Vögel sind schon
da“,
„Morgen kommt der Weihnachtsmann“, „Winter, ade!“).
Hoffmann engagierte sich in den
Burschenschaften für eine Demokratisierung Deutschlands. In den
Burschenschaften hatten sich seit 1815 Studenten und Professoren
zusammengeschlossen, die in den Befreiungskriegen gegen Napoleon
gekämpft hatten und von den Beschlüssen des Wiener Kongresses
enttäuscht waren. 1817 Wartburgfest. Gefordert wurden nationale Einheit
und Freiheit und Gleichheit aller Bürger. Mit den Karlsbader
Beschlüssen
von 1819 wurden die Burschenschaften verboten. Trotz des Verbots gab
Hoffmann
gemeinsam mit Ernst Moritz Arndt, der aus politischen Gründen seine
Professur
verloren hatte, die „Bonner Burschenlieder“ heraus.
1840 veröffentlichte Hoffmann die
Gedichtsammlung „Unpolitische Lieder“ bei dem Hamburger Verleger
Hoffmann und Campe, der auch der Verleger Heinrich Heines und anderer
Vormärzliteraten war. Der
Titel war eine bewusste Irreführung der Zensur, denn die Gedichte
riefen
nach gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und forderten die
nationale Einheit Deutschlands.
Im August 1841 reiste Hoffmann zu einer Kur
nach Helgoland, das damals ein bekannter Badeort war. Die Nordseeinsel
war seit 1806 in britischem Besitz. Während dieses Aufenthalts schrieb
er passend
zu Haydns Melodie drei Strophen mit dem Textanfang „Deutschland,
Deutschland über alles“.
Am 28. August 1841 kam der Verleger Campe
gemeinsam mit dem Stuttgarter Buchhändler Paul Neff zu Besuch nach
Helgoland. Er brachte Hoffmann das erste fertige Exemplar des zweiten
Teils der „Unpolitischen Lieder“. Bei dieser Gelegenheit bot der dem
Verleger für vier Louisdor das „Lied der Deutschen“ an. Schon wenige
Tage später erschien es als Einzeldruck.
Mit dem „Lied der Deutschen“ und den „Unpolitischen Liedern“ galt Hoffmann als ein „aufmüpfiger“ Dichter und Staatsfeind. In vielen deutschen Staaten wurden seine Gedichte und Lieder verboten. 1842 verlor er seine Professur und wurde des Landes verwiesen. Es wird in der Literatur immer wieder betont, dass Hoffmann von Fallersleben Republikaner und Demokrat gewesen sei. „Sein Gedicht [das Deutschlandlied] war nie ein chauvinistischer Fanfarenstoß, sondern stets ein leidenschaftlicher Appell an die zersplitterten Partikularstaaten des deutschen Bundes gewesen – ein Aufruf zur inneren Einigung“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 12).
Mit seiner Amtsenthebung begannen für
Hoffmann
Jahre der Verfolgung. Er konnte sich nirgendwo niederlassen, wurde
immer
wieder ausgewiesen. Unterdessen wurde sein „Lied der Deutschen“
populär.
(Es soll über fünfzig Mal vertont worden sein; s. Knopp / Kuhn 1988, S.
32.)
1843 erschien es in einem Kommersbuch „Deutsche Lieder“; 1844 wurde es
in
Ludwig Bechsteins „Deutschem Dichterbuch“ und im „Allgemeinen deutschen
Lieder-Lexikon“ abgedruckt. Nach einem unsteten Wanderleben verbrachte
Hoffmann seit 1860 seine letzten Lebensjahre als Bibliothekar des
Herzogs von Ratibor in Corvey – das Schloß Corvey liegt an der Weser.
Dort starb er am 19. Januar 1874.
Aufführungen des Liedes: Erstmals wurde das „Deutschlandlied“ im
Oktober 1841 von der von Albert Methfessel gegründeten „Hamburger
Liedertafel von 1823“ in Anwesenheit des Textdichters gesungen. Es
erklang im August 1890 bei der Feier der Übergabe der bislang zu
Großbritannien gehörenden Insel Helgoland an Deutschland – sie war
gegen Sansibar eingetauscht worden. Als offizielle Hymne setzte es sich
aber nur langsam durch. Es gab keine Reichshymne, statt dessen
zahlreiche regional begrenzte Volks- und Landeshymnen, so etwa die bis
in die Gegenwart bekannte „Bayernhymne“ „Gott mit dir, du Land der
Bayern“. Bei der Proklamation des Deutschen Kaiserreichs am 18. Januar
1871 wurde „Heil Dir im Siegerkranz“ auf die Melodie der englischen
Nationalhymne gesungen. „Heil Dir im Siegerkranz“ blieb bis zum Ende
des Wilhelminischen Reiches 1918 inoffiziell nationales
Repräsentationslied bei patriotischen Feiern.
Um 1900 erklang das „Lied der Deutschen“
öfter
bei feierlichen Anlässen, und es gehörte zum festen Bestand der
deutschen Schulbücher.
Erster Weltkrieg und Weimarer Republik: Während des Ersten Weltkriegs wurde die
erste Strophe
des Liedes oft bei Siegesmeldungen und in Augenblicken patriotischer
Begeisterung
angestimmt. „‚Wenn es stets zu Schutz und Trutze, brüderlich
zusammenhält‘
entsprach dem deutschen Grundgefühl in jenen Tagen, ‚gegen eine Welt
von
Feinden‘ ganz allein auf sich gestellt zu sein“ (Knopp / Kuhn 1988, S.
59).
Das „Lied der Deutschen“ fungierte vor allem auch als Soldatenlied.
Während des Ersten Weltkriegs entstanden auch
zahlreiche Umdichtungen, darunter „wehrkraftzersetzende“ wie die
folgende, die im Mainzer Karneval 1916 gesungen wurde:
Deutschland, Deutschland schwer im Dalles*
Schwer im Dalles in der Welt,
wenn die Marmelad nit alles
brüderlich zusammenhält.
Eier, Butter, Wurscht und Schinke
Sin nur für die Reiche da
Nur mir arme, arme Schlucker
Gucke zu und kreische: Hurra
* Dalles (jiddisch) = Armut, Not
(Knopp / Kuhn 1988, S. 68)
Seit dem Ersten Weltkrieg betrachteten die
Entente-Mächte den Text Hoffmann von Fallerslebens als Ausdruck
imperialer Machtgier und Selbstüberheblichkeit der Deutschen. Daher
wurde in den nach 1918 besetzten Gebieten das Lied verboten.
Nach 1918 verstummte die monarchische Hymne,
und neben der linken „Internationale“ u. a. Kampfliedern der deutschen
Arbeiterbewegung setzte sich Hoffmann von Fallerslebens „Lied der
Deutschen“ durch, allerdings hauptsächlich bei den politisch rechten
Parteien und Gruppierungen, was
wiederum zur Ablehnung des Liedes bei den Linken führte. Ragozat
schreibt:
„Als die neugewählten Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung
1919
über die Friedensbedingungen der Alliierten debattierten, unterbrach
der
Vorsitzende der Zentrumsfraktion die Sitzung und stimmte ‚Deutschland,
Deutschland
über alles‘ an. Der sozialdemokratische Abgeordnete Hugo Haase rief
daraufhin:
‚Kriegstreibereien.‘“ (Ragozat 1982, S. 61).
Auch jetzt entstanden wieder viele
Umdichtungen. Bekannt wurde die folgende des Münchener Schriftstellers
Albert Matthäi (Sommer 1919):
Deutschland, Deutschland über alles
Und im Unglück nun erst recht.
Nur im Unglück kann die Liebe
Zeigen, ob sie stark und echt.
Von Geschlechte zu Geschlecht:
Deutschland, Deutschland über alles
Und im Unglück nun erst recht.
(Knopp / Kuhn 1988, S. 74)
Diese Zeilen wurden als sog. „Trutzstrophe“
populär. Sie entsprachen der allgemeinen Überzeugung, daß den Deutschen
in und nach Versailles ein historisches Unrecht widerfahren sei.
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gab
es
viele Kontroversen um nationale Symbole, z. B. die Flagge. Die
nationalistische Rechte wollte eine Fortsetzung des Schwarz-Weiß-Rot,
die Kommunisten die rote Fahne, während Zentrum, SPD und linke Liberale
Schwarz-Weiß-Rot durch Schwarz-Rot-Gold ersetzen wollten. Die Parteien
der Mitte, der „Weimarer
Koalition“, konnten sich durchsetzen: Schwarz-Rot-Gold wurde
Reichsflagge,
doch blieb Schwarz-Weiß-Rot für die Handelsflagge bestehen. (Im Dritten
Reich
war die Flagge wieder schwarz-weiß-rot, sie wurde gemeinsam mit der
Hakenkreuzfahne gehisst.) Als es um die neue Hymne ging, ließen sich
die SPD-Fraktion im Reichstag und der Reichspräsident Friedrich Ebert
davon überzeugen, dass das
Deutschlandlied geeignet sei – trotz seiner „Belastung“ durch „rechte
Interpretatoren“.
Offiziell wurde das „Lied der Deutschen“ am
11. August 1922, dem Verfassungstag der Weimarer Republik, anerkannt,
als der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert in seiner
Ansprache die dritte Strophe mit „Einigkeit und Recht und Freiheit“ als
Leitgedanken hervorhob:
„Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des
Dichters
gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht
aller
Deutschen Ausdruck; es soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer
besseren
Zukunft begleiten.. Sein Lied [...] soll nicht Mißbrauch finden im
Parteikampf
[...]; es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer
Überhebung“
(Ragozat 1982, S. 61).
Dennoch blieb das Lied bei den Linken
diskreditiert, weil die Rechte es stark für sich beanspruchte. Gegen
Ende der 1920er Jahre stand das Deutschlandlied in allen Liederbüchern
der Rechtsparteien und der NSDAP, während es im sozialistischen
„Jugendliederbuch“ fehlte. Kurt Tucholsky mokierte sich über
„Deutschland über alles“, „jenen törichten Vers eines
großmauligen Gedichts“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 81). Es sei, so
Tucholsky‚
ein „wirklich schlechtes Gedicht“, „das eine von allen guten Geistern
verlassene
Republik zu ihrer Nationalhymne erkor“ (Günther 1966, S. 126).
Das „Dritte Reich“: Am 19. Mai 1933 erklärte Adolf Hitler im
„Reichsgesetz zum Schutz nationaler Symbole“ das nationalsozialistische
„Horst-Wessel-Lied“ („Die Fahne hoch“; s. u.) zum offiziellen Zusatz
des Deutschlandliedes,
von dem nun die erste Strophe gesungen wurde. Seit 1940 mussten
Deutschland-
und Horst-Wessel-Lied gemeinsam aufgeführt werden. Diese Doppelhymne
wurde
– wie auch viele andere nationalsozialistische oder
nationalsozialistisch
belastete Lieder – am 14. Juli 1945 durch den Alliierten Kontrollrat
verboten.
Von der Etsch bis an den Belt
Stehen deutscher Männer Söhne
Gegen eine ganze Welt
(aus: Soldatenliederbuch, hg. vom Generalkommando des VII Armeekorps, 2. Aufl. München 1940; zit. nach Kurzke 1990, S. 49)
nimmt sich alles in der Welt
Ohne Maß bis an den Kreml
Bis es dann zusammenfällt.
(Knopp / Kuhn 1988, S. 91)
Schon vor der Gründung der Bundesrepublik
Deutschland am 20. September 1949 gab es viele Diskussionen und
Auseinandersetzungen um das „Lied der Deutschen“ als Staatssymbol des
neuen demokratischen Staates. Im Artikel 22 des Grundgesetzes vom 25.
Mai 1949 ist nur die Bundesflagge „Schwarz-Rot-Gold“ festgelegt; die
Frage der Nationalhymne wurde ausgespart. Für viele Parlamentarier
blieb das „Deutschland über alles“ – trotz aller gut gemeinten
Deutungen – zu missverständlich.
Es gab starke Einwände gegen das
Deutschlandlied, weil es in der NS-Zeit missbraucht worden war. Ein
ehemaliger Häftling, der Publizist Axel Eggebrecht, erinnerte sich: „Im
KZ mußten wir die heiligen Worte Recht und Freiheit nach Kommando
herausbrüllen. Wächter mit Knüppeln umstanden uns, brüderliche
Gesangslehrer. Und da sollen wir nun wieder singen, als sei nichts
gewesen?“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 108).
Das Fehlen einer Nationalhymne machte sich
nach 1945 u. a. bei internationalen Sportveranstaltungen bemerkbar.
Offiziell
vorgesehen war für solche Gelegenheiten Schiller/Beethovens „Freude,
schöner Götterfunken“. Es kam aber auch vor, dass anstelle einer Hymne
der Kölner Karnevalsschlager von 1948 „Wir sind die Eingeborenen von
Trizonesien“ gespielt wurde oder aber „In München steht ein
Hofbräuhaus“ und bei Auftritten Konrad Adenauers „Heidewitzka, Herr
Kapitän“.
In der BRD setzte sich Bundeskanzler Adenauer
für das „Lied der Deutschen“ ein, ebenso der Vorsitzende der SPD Kurt
Schumacher – im Gegensatz zu den meisten SPD-Mitgliedern. Der damalige
Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) hatte Bedenken. Im August 1950 ließ
er mitteilen, dass bis zum Vorliegen einer neuen deutschen
Nationalhymne das Lied „Ich hab
mich ergeben“ gesungen werden solle (Knopp / Kuhn 1988, S. 104). Heuss
wünschte sich eine neue Nationalhymne. In einem Schreiben vom September
1950 an Carl Orff (den Heuss als Komponist einer neuen Nationalhymne
auserkor, der lehnte aber ab) äußerte er die folgenden Bedenken
gegenüber Hoffmann von Fallerslebens Text:
„... die erste Strophe paßt nicht mehr in die
geschichtliche Landschaft, die zweite ist zu trivial und immer trivial
gewesen, die dritte allein für sich wenig. Die mannigfaltigen Versuche,
auf die Haydnsche Melodie einen neuen Text zu stülpen, halte ich für
aussichtslos. Ich glaube, die
Deutschen genug zu kennen, um zu wissen, daß dann die ‚loyalen‘
Patrioten
den sogenannten amtlichen Text, die ‚militanten‘ Patrioten [...] den
Hoffmannschen
Text singen, und wir kommen aus dem ewigen Sängerwettstreit der
stärkeren
Stimmen nicht heraus“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 105).
Heuss schlug ein Lied als neue Nationalhymne
vor, dessen Text von Rudolf Alexander Schröder (geb. 1878) gedichtet
und dessen Melodie von Hermann Reutter komponiert worden war. Schröders
„Hymne an Deutschland“ lautete:
Land des Glaubens, deutsches Land,
Land der Väter und Land der Erben,
Uns im Leben und im Sterben
Haus und Herberg, Trost und Pfand.
Sei den Toten zum Gedächtnis,
den Lebendgen zum Vermächtnis,
Freudig von der Welt bekannt,
Land des Glaubens, deutsches Land.
(Knopp / Kuhn 1988, S. 104)
Bundeskanzler Adenauer rief heftige
Reaktionen
im In- und Ausland hervor, als er am 18. April 1950 anlässlich eines
Besuchs in Berlin bei einer Kundgebung im Titania-Palast die dritte
Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ anstimmte. Er wollte eine
Entscheidung in der Hymnenfrage provozieren (Ragozat 1982, S. 62).
Adenauer forderte die Versammlung zum Mitsingen auf. Der Parteivorstand
der SPD verließ den Raum, während die drei Westberliner Kommandanten
sich von ihren Sitzen erhoben. Im Ausland gab es Kritik an Adenauers
Vorgehen.
Noch wollte Heuss das Lied von R.A. Schröder
und Hermann Reutter „Land des Glaubens“ als Bundeshymne durchsetzen.
Zum Jahreswechsel 1950/51 erklang dieses Lied nach der
Rundfunkansprache des Staatsoberhauptes über alle westdeutschen Sender.
Die Öffentlichkeit blieb reserviert. Der Dichter Gottfried Benn
schrieb: „Und nun die neue Nationalhymne. Der Text ganz ansprechend,
vielleicht etwas marklos. Der nächste Schritt wäre dann ein
Kaninchenfell als Reichsflagge“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 107). Die
„Frankfurter Rundschau“ sah sich erinnert an Gesänge der Hitlerjugend
zu Morgenfeiern und
Sonnwendfeiern, wohl auch, weil R. A. Schröder eine NS-Vergangenheit
hatte.
In seinem Brief an Adenauer vom 2. Mai 1952
gab Heuss schließlich nach: „Als mich die Frage nach einer
Nationalhymne bewegte..., glaubte ich, daß der tiefe Einschnitt in
unserer Volks- und Staatsgeschichte einer neuen Symbolgebung bedürftig
sei.[…] Ich weiß heute, daß ich mich
täuschte.[…] Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis
unterschätzt“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 110). Der Bundespräsident erklärte
sich
bereit, unter Verzicht auf eine feierliche Proklamation der Bitte der
Bundesregierung
um Wiedereinführung des ‚Deutschlandliedes‘ als Staatssymbol der
Bundesrepublik
Deutschland zu entsprechen (Ragozat 1982, S. 63; Knopp /Kuhn 1988, S.
110).
Als Stunde der „Wiedergeburt“ gilt der 6. Mai 1952. An diesem Tag
veröffentlichte
das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung eine Erklärung
(Wortlaut
siehe Ragozat 1982, S. 63). Es wurde darin betont, dass bei staatlichen
Veranstaltungen die dritte Strophe gesungen werden solle, obgleich alle
Strophen des Liedes als Nationalhymne anerkannt seien. Diese Regelung –
dass zwar alle Strophen als Nationalhymne anerkannt sind, jedoch bei
staatlichen Veranstaltungen
nur die dritte Strophe gesungen werden solle – führte immer wieder zu
Irritationen; immer wieder war es die erste Strophe, die Anstoß erregte.
In den langjährigen Diskussionen wies die
parlamentarische Opposition auf die unangenehmen Erinnerungen hin, die
das Deutschlandlied durch seine Verwendung in der NS-Zeit bei vielen
hervorrief, doch ging die SPD nach und nach dazu über, die Hymne zu
tolerieren. Im Ausland waren die Reaktionen geteilt. Im Ostblock gab es
scharfe Ablehnung, während die drei Hohen Kommissare in Bonn
übereinstimmend erklärten, es sei „deutsche Angelegenheit, die
Nationalhymne zu bestimmen“. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy
meinte. es sei nicht entscheidend, was die Völker singen, sondern wie
sie
handeln (Knopp / Kuhn 1988, S. 113 f.).
Es gab bis in die sechziger Jahre keine
getrennten Olympiamannschaften der BRD und der DDR, sondern nur eine
gesamtdeutsche Mannschaft. Daher mussten bei den Olympiaden in Rom 1960
und Tokio 1964 Kompromisse gefunden werden: Die deutschen Sportler
wurden damals mit Beethovens Hymne „An die Freude“ geehrt. Erst seit
1968 traten auf Beschluss des Olympischen Komitees die Sportler aus der
Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit eigener
Flagge und Hymne an.
Auch nachdem das Deutschlandlied seit 1952
offizielle Hymne war, gab es weiterhin zahlreiche Auseinandersetzungen.
Das zeigt z.B. seine Behandlung in den Funkhäusern der einzelnen
ARD-Anstalten. Anfang
1974 erklang die dritte Strophe nur noch am Sendeschluss im Bayerischen
und Hessischen Rundfunk und im Sender Freies Berlin. Der Westdeutsche
Rundfunk
hatte zu dieser Zeit die Ausstrahlung der Hymne eingestellt, nahm sie
bald
aber wieder im dritten Programm auf (Knopp / Kuhn 1988, S. 124). 1977
regte
Bundespräsident Walter Scheel an, im Fernsehen an vier herausgehobenen
Tagen
des Jahres das Deutschlandlied zu spielen: am 23. Mai, dem Tag der
Verabschiedung
des Grundgesetzes (Verfassungstag); am 17. Juni, dem Tag der deutschen
Einheit;
am 20. Juli, dem Gedenktag für die Widerstandskämpfer gegen das
Naziregime;
am Volkstrauertag (2 Sonntage vor dem 1. Advent). Am 8. März 1985
votierte
der Fernsehrat des ZDF einstimmig für die tägliche Ausstrahlung der
Nationalhymne
zum Programmschluss; kurz darauf folgte die ARD.
In den Schulen gehört die dritte Strophe des
Deutschlandliedes zu den für das 4. Schuljahr verbindlichen
Lerninhalten. Auch hier erregte die erste Strophe mehrmals Anstoß: So
gab es im Frühjahr 1978 in Baden-Württemberg einen Parteienstreit, als
der damalige Ministerpräsident Filbinger an alle Schulen des Landes
eine mit allen drei Strophen besungene Schallplatte,
dargeboten von dem Sänger Heino, schicken wollte. In Berlin gab es
Ärger,
als der Charlottenburger Volksbildungsstadtrat Roeseler die drei
Strophen
des Deutschlandliedes an die Lehrer mit der Anweisung schickte, den
Text
allen Kindern des Bezirks in den vierten Klassen bekannt zu machen. Es
gab
Proteste von SPD- und FDP-Stadträten, die Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft
reichte Klage ein (Knopp / Kuhn 1988, S. 126 f.). Stein des Anstoßes
war
dabei die belastete erste Strophe.
Ein Briefwechsel zwischen Bundespräsident
Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl vom August 1991
legte für das wiedervereinte Deutschland fest, dass seit dem 3. Oktober
1990 die Nationalhymne der bisherigen Bundesrepublik – reduziert auf
ihre dritte Strophe – „für
das vereinte deutsche Volk gilt“. Die erste Strophe ist nicht verboten,
jedoch bei staatlichen Anlässen verpönt.
Aber nicht erst seit 1945, sondern von Anfang
an war das „Deutschlandlied“ umstritten. Schon Friedrich Nietzsche
äußerte
dazu: „...die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist“ (Ragozat
1982, S. 61). Der Historiker Golo Mann hingegen nannte den Text
„zarteste
Lyrik“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 7). Er betonte, dass andere Hymnen viel
aggressiver seien: Die Marseillaise strotze geradezu vor Militarismus.
Da werde „zu den Waffen“ gerufen, da spritze Blut („Qu’un sang impur
abreuve nos silons“ –
„Das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen“), werde den Feinden
Frankreichs Rache angedroht. In der US-Hymne weht das Sternenbanner –
„hoch und tapfer“, „unter den Blitzen der Schlacht“.
Das Deutschlandlied „ist ein Paradebeispiel
dafür, daß es keinen Text an sich gibt, sondern nur einen Text, der von
ganz bestimmten Lesern (Sängern) mit einem ganz bestimmten
Erwartungshorizont verwendet
wird ... Jede Epoche der deutschen Geschichte sang mit denselben Worten
ein anderes Lied“ (Kurzke 1990, S. 50).
Horst-Wessel-Lied
(„Die Fahne hoch“)
Literatur
Günther, Ulrich (1966): „...über alles in der Welt?“ Studien zur Geschichte und Didaktik der deutschen Nationalhymne. Neuwied und Berlin.
Knopp, Guido / Kuhn, Ekkehard (1988): Das
Lied
der Deutschen. Schicksal einer Hymne. Berlin, Frankfurt am Main.
Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz.
Lazar, Imre (1980): Der Fall Horst Wessel. Stuttgart und Zürich.
Wulf, Joseph (1966): Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation. 2. Aufl. 1966.
Tonträger, Fernsehsendungen
„Verklärt, verhaßt, vergessen“ – Horst Wessel. Film von Ernst-Michael Brandt. mdr 1997.
Am 27. März 1933 bestimmte der damalige bayerische Kulturminister Hans Schemm, das Horst-Wessel-Lied solle in allen Schulen des Landes Bayern neben dem Deutschlandlied gesungen werden. Später wurden das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied im gesamten Deutschen Reich eine untrennbare Einheit. Seit 1940 war es Vorschrift, bei offiziellen Anlässen nach dem Deutschlandlied das Horst-Wessel-Lied zu spielen. In vielen Liederbüchern des „Dritten Reichs“ erscheinen beide Hymnen am Beginn (z.B. im SA-Liederbuch, 1939; SS-Liederbuch, 1937; Liederbuch der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, 1936) oder am Schluss (Liederbuch der deutschen Soldaten, 1939). Welche besondere Bedeutung dem Singen des Horst-Wessel-Liedes zukam, zeigt sich u.a. in einer Anweisung in dem Liederbuch „Singkamerad“ (2. Aufl. München 1934): „Die 1. Und 4. Strophe dieses neuen deutschen Weiheliedes werden mit erhobenem rechten Arm gesungen.“
Wie wichtig dem Regime beide Hymnen waren, zeigt auch eine spätere Anweisung, wie beide Lieder zu spielen seien: In den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer vom 15.2.1939 hieß es: „Der Führer hat entschieden, daß das Deutschlandlied als Weihelied im Zeitmaß ¼ = M 80 zu spielen ist, während das Horst-Wessel-Lied als revolutionäres Kampflied schneller gespielt werden soll“ (Wulf 1963, S. 128).
Horst Wessel, war ein Berliner SA-Sturmführer. Das nach ihm benannte Lied schrieb er 1927 (nach anderen Zeugnissen 1929) für seinen SA-Sturm.
SA marschiert mit ruhig festem Schritt
Kam’raden, die Rotfront und Reaktion
erschossen
Marschieren im Geist in unsern Reihen mit.
Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann
Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung
schon Millionen
Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an.
Zum Kampfe stehen wir alle schon bereit
Bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen
Die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit.
1929 erschien das Lied erstmals im Druck; seit 1930 findet es sich in Liederbüchern der NSDAP – wobei es im Laufe der Jahre einige Textänderungen gab (s. Kurzke 1990, S. 133). So wurden einige kämpferische Formulierungen später, als die NSDAP Regierungspartei war, eliminiert.
Horst Wessel wurde 1907 als Sohn eines Pfarrers in Bielefeld geboren. Er studierte Jura an der Berliner Universität und wurde Mitglied einer studentischen Verbindung. 1926, im Alter von 19 Jahren, trat er der NSDAP und der SA bei. 1930 starb er im Alter von 23 Jahren, laut NS-Diktion nach einem Straßenkampf mit Kommunisten. Tatsächlich jedoch wurde Wessel Opfer einer Schießerei aus mehr privatem als politischem Anlass. Wessel wurde dabei schwer verletzt und starb nach einigen Tagen.
Mit Wessels frühem Tod begann die Karriere des Liedes. Ihm wurde mit viel propagandistischem Aufwand der Glorienschein einer Hymne der nationalsozialistischen „Bewegung“ verliehen. Der Autor, seine Biographie und die Entstehungsgeschichte des Liedes wurden verfälscht, idealisiert, und so avancierte das Lied zu einer Art nationalsozialistischem Glaubensbekenntnis. Der damalige Gauleiter der NSDAP von Berlin, Joseph Goebbels, war es, der in Wessels Tod die Chance witterte, „einen Märtyrer zu schaffen. Er erhob den Toten zum ‚Blutzeugen der nationalsozialistischen Bewegung‘. Bei seiner Beisetzung wurde das Lied zum erstenmal öffentlich gesungen, verbreitete sich rasch im ganzen Reich und wurde Kultgesang der braunen Kolonnen“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 86).
Zur Herkunft der Melodie des Horst-Wessel-Liedes gibt es viele unterschiedliche Vermutungen und Behauptungen. Kurzke hält eine Beziehung zur Tradition sozialistischer Arbeiterlieder für wahrscheinlich. „Da relativ viele nationalsozialistische Lieder aus kommunistischen Arbeiterliedern entstanden sind, wäre das nicht ungewöhnlich“ (Kurzke 1990, S. 129). In den NS-Liederbüchern finden sich zur Herkunft der Melodie des Horst-Wessel-Liedes folgende Angaben: „Horst Wessel“, „Volksweise“ oder „nach einem alten Soldatenlied“.
Das Horst-Wessel-Lied wurde häufig parodiert. Die bekannteste Parodie ist der „Kälbermarsch“ aus Bertolt Brechts „Schweyk im zweiten Weltkrieg“ (1943). „Der Dicke“ singt in der 7. Szene die folgende Variante des Liedes:
Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen,
SA marschiert mit ruhig festem Schritt,
Kameraden, deren Blut vor unserm schon geflossen,
sie ziehn im Geist in unsern Reihen mit.
Schweyk kontert mit dem „Kälbermarsch“, den er zu der Begleitung einer Militärkapelle singt, „und zwar so“, wie es in den szenischen Anweisungen heißt, „daß er den Refrain zu der Melodie singt, die Vorstrophen aber zu den Trommeln dazwischen“ (Brecht, Schweyk):
Hinter der Trommel her
Trotten die Kälber
Das Fell für die Trommel
Liefern sie selber.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen
Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.
Sie heben die Hände hoch
Sie zeigen sie her
Sie sind schon blutgefleckt
Und sind noch leer.
Der Metzger ruft…
Sie tragen ein Kreuz voran
Auf blutroten Flaggen
Das hat für den armen Mann
Einen großen Haken
Der Metzger ruft…
Es gibt weitere Parodien des Horst-Wessel-Liedes: siehe z. B. Inge Lammel, Das Arbeiterlied, Frankfurt am Main 1973, S. 205 f.
1945 wurde das Horst-Wessel-Lied zusammen mit dem Deutschlandlied vom Alliierten Kontrollrat verboten.
Die
Nationalhymne der DDR („Auferstanden aus Ruinen“)
Amos, Heike (1997): Auferstanden aus
Ruinen...
Die Nationalhymne der DDR 1949 bis 1990. Berlin. (inhaltlich noch nicht
mit
einbezogen!)
100 Jahre Deutsches Arbeiterlied. Eine
Dokumentation. 2 LPs + Textheft.
Eterna 810015-016.
Günther, Ulrich (1966): ... über alles in der
Welt? Studien zur Geschichte und Didaktik der deutschen Nationalhymne.
Neuwied
und Berlin.
Knopp, Guido / Kuhn, Ekkehard (1988): Das
Lied
der Deutschen. Schicksal einer Hymne. Berlin, Frankfurt am Main.
Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der
Deutschen. Mainz 1990.
Leben Singen Kämpfen (1958). Liederbuch der
deutschen Jugend. Hg. vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend.
Berlin/DDR.
Ragozat, Ulrich (1982): Die Nationalhymnen
der
Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon. Freiburg i.Br. (Lf. 411)
Melodie und Text in: Leben Singen Kämpfen.
Liederbuch der deutschen Jugend. Hg. vom Zentralrat der Freien
Deutschen Jugend. Berlin/DDR 1958; ebenso in Ulrich Günther: „... über
alles in der Welt“, 1966
CD „Dem Morgenrot entgegen“. Edition BARBArossa 1995.
CD „Arsch huh, Zäng ussenander!“ Kölner
Musiker gegen Rassismus und Neonazis. Köln, EMI, 1992
Seit 1949 gab es zwei deutsche Staaten, die
ihre politischen und ideologischen Gegensätze stark betonten. Die
Unterschiede drückten sich auch in verschiedenen Staatssymbolen aus.
Die Flagge der DDR war wie die der Bundesrepublik schwarz-rot-gold,
doch wurde sie mit Hammer und Sichel im Ährenkranz versehen. Bei der
Wahl einer Nationalhymne versuchte die DDR, die Last der Tradition
abzustreifen – im Unterschied zur Bundesrepublik, in der das „Lied der Deutschen“ nach vielen Debatten
wieder als Nationalhymne eingeführt wurde. Für die DDR gab es eine neue
Nationalhymne, verfasst von Johannes R. Becher und Hanns Eisler.
Offizielle
Gültigkeit erlangte diese 1944 bzw. 1949 komponierte Nationalhymne
durch
einen Beschluss des Ministerrates der Regierung am 5. November 1949.
Hanns Eisler: geb. 1898, gest. 1962. War in
Wien Kompositionsschüler von Arnold Schönberg. Übersiedelte 1924 nach
Berlin. Nach Hitlers Machtergreifung ging er ins Exil, 1938 in die USA,
wo er 1948 aus politischen Gründen ausgewiesen wurde. Nach einem
zweijährigen Aufenthalt in Wien zog Eisler 1950 in die DDR. Für die
gemeinsam mit Johannes R. Becher verfasste Nationalhymne erhielt er
1950 den Nationalpreis der DDR.
Ragozat schreibt über Eisler: „Der Komponist
gilt als einer der prominentesten Vertreter massenwirksamer
Musikgestaltung in
der DDR“ (Ragozat 1982, S. 73). Und zur musikalischen Gestaltung der
Hymne meint Ragozat: „In Melodieoriginalität und der einfachen,
harmonischen Ausformung ist von Eislers Schülerschaft bei Schönberg
nicht viel zu spüren“ (Ragozat 1982, S. 73). Ragozat scheint Eislers
Kompositionen nicht zu kennen und
ist evtl. beeinflusst von der in der BRD während des Kalten Krieges
verbreiteten einseitigen Festlegung Eislers auf einige wenige
„Kampflieder“ und die Nationalhymne der DDR. Auch in der DDR gab es
eine Blickverengung auf Eislers kompositorisches Schaffen: Inge Lammel
z.B. lässt in „Kampfgefährte – unser Lied“ wichtige Fakten aus Eislers
Biographie unerwähnt, z. B. den Unterricht bei Arnold
Schönberg und das amerikanische Exil.
Johannes R. Becher, der Textverfasser, wurde
1891 in München geboren. Durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs
wurde er
Pazifist. 1923 trat er in die KPD ein. Er wurde Redakteur der „Roten
Fahne“.
Während des „Dritten Reichs“ wurde Becher aus Deutschland ausgebürgert.
Im
sowjetischen Exil arbeitete er von 1935 bis 1945 als Redakteur in
Moskau.
1945 kehrte er nach Deutschland zurück. In der DDR wurde er 1954
Minister
für Kultur. Er starb 1958 in Berlin.
Es heißt, „Auferstanden aus Ruinen“ sei
unmittelbar nach der Gründung der DDR auf Wunsch des damaligen
Staatspräsidenten Wilhelm Pieck verfasst worden. Hinsichtlich des
Entstehungsdatums gibt es jedoch voneinander abweichende Angaben.
Ulrich Günther nennt für den Text das Entstehungsjahr 1942, für die
Melodie 1944. Auch Knopp / Kuhn geben 1942 als Entstehungsjahr des
Textes an, während Ragozat das Entstehungsjahr 1942 für
unwahrscheinlich hält, denn es habe zu diesem Zeitpunkt noch keinen
Grund gegeben, „Auferstanden aus Ruinen“ zu singen (Ragozat 1982, S.
74). Kurzke hebt hervor, dass Becher im Moskauer Exil zahlreiche
Deutschlanddichtungen geschrieben habe. (Es
ist bekannt, dass sich viele Emigranten im Exil intensiv mit
Deutschland
und ihrer möglichen Rückkehr nach der Befreiung vom Nationalsozialismus
beschäftigten.) Als Becher im Juni 1945 als einer der ersten Exilanten
in
die verwüstete Heimat zurückkehrte, hätten sich „in seinem Gepäck ...
vielerlei
programmatische Vorarbeiten für den geistigen Wiederaufbau“
Deutschlands
gefunden (Kurzke 1990, S. 154).
Nach Knopp / Kuhn schrieb Becher in Moskau
folgendes Gedicht:
Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns Dir zum Guten dienen,
Deutschland unser Vaterland,
Deine Einheit zu erringen,
Haben wir uns fest geeint,
Alte Not gilt es zu zwingen,
Daß die Sonne, daß die Sonne
Über Deutschland scheint.
(Knopp / Kuhn 1988, S. 98)
Später nahm Becher verschiedene
Textänderungen
vor. 1949 übersandte er dem Komponisten Ottmar Gerster seinen Text mit
der
Bitte um eine Vertonung. Kurze Zeit danach traf Becher Hanns Eisler bei
einer Goethe-Feier in Warschau und erzählte ihm von Piecks Auftrag. Es
wird erzählt, Eisler habe sich – im Geburts- und Wohnhaus Frédéric
Chopins! – sofort an
den Chopin-Flügel gesetzt und aus dem Stegreif eine Melodie entworfen,
die
Becher gefallen habe (Knopp / Kuhn 1988, S. 99). Eine schöne Legende?
Die beiden Fassungen von Gerster und von
Eisler wurden im November 1949 im Berliner „Club der Kulturschaffenden“
und später vor dem Politbüro der SED dargeboten. Die Melodie von Eisler
wurde in beiden Fällen bevorzugt. Am 7. November 1949, bei einer Feier
zum 32. Jahrestag
der Oktoberrevolution, sang der Chor des Berliner Rundfunks die Hymne
erstmals öffentlich.
Text der DDR-Hymne:
Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muß uns doch gelingen,
Daß die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint.
Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
Reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind!
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
Daß nie eine Mutter mehr
Ihren Sohn beweint.
Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,
Lernt und schafft wie nie zuvor,
Und der eignen Kraft vertrauend,
Steigt ein frei Geschlecht empor.
Deutsche Jugend, bestes Streben
Unsres Volks in dir vereint,
Wirst du Deutschlands neues Leben.
Und die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint.
Der Text von Becher passte anfänglich noch in
das Konzept der DDR-Führung, er war an das gesamte Deutschland
gerichtet („einig Vaterland“). Seit 1972 jedoch hielt
die Regierung unter Staats- und Parteichef Erich Honecker das
Bekenntnis zu „Deutschland, einig Vaterland“ für nicht mehr tragbar, so
dass der Wortlaut verschwand und die Hymne nur noch instrumental
aufgeführt wurde. Verboten wurde der Text nicht, aber er wurde nicht
mehr gesungen.
Wegen Eislers Melodie gab es Plagiatvorwürfe. Es hieß, sie würde sich an einen Schlager der vierziger Jahre anlehnen: In einem Film sang Hans Albers das von Peter Kreuder komponierte Lied „Good-bye, Jonny“ (s. Günther 1966, S. 4). Kreuder soll sich wegen der Urheberrechte sogar an die UNO gewandt haben (Ragozat 1982, S. 75). Es wird berichtet, dass Kreuder bei seiner DDR-Tournee 1976 das Publikum verunsichert habe, als er seinen Evergreen spielen ließ und sich die Zuhörer andächtig verhielten und von den Plätzen erhoben (Ragozat 1982, S. 75).
Die politischen Umwälzungen seit 1989 führten
zu einer Wiederbelebung der Diskussion über eine zeitgemäße
Deutschland-Hymne. Bechers Hymnentext wurde offiziell wieder zugelassen
(Beschluss der Volkskammer der DDR am 3. Januar 1990). Die Textzeile
„Deutschland, einig Vaterland“ wurde sogar einer der häufigsten Slogans
in Sprechchören und auf Transparenten. Die „Auferstehung“ der DDR-Hymne
im Jahr 1990 war jedoch nur von kurzer
Dauer, denn am 3. Oktober 1990 wurde sie durch die Hymne der
Bundesrepublik
„abgewickelt“.
In den neunziger Jahren entstanden auch
einige Kompositionen,
in denen versucht wurde, verschiedene Hymnen miteinander zu verbinden,
was
nicht selten zu politischen Kontroversen führte. So gab aus Anlass der
Feierlichkeiten
zum Tag der deutschen Einheit 1998 in Hannover die Niedersächsische
Landesregierung
an den Berliner Komponisten Bardo Henning ein Werk in Auftrag. Dessen
Idee,
beide Hymnen, die in den letzten vierzig Jahren in beiden Teilen
Deutschlands
verschiedene Wertsysteme repräsentiert hatten, musikalisch zu vereinen
und
darüber hinaus mit dem Schlager „Good-bye, Jonny“ zu verbinden, löste
einen
Streit zwischen den Parteien und Ländern aus, auch der Kanzler äußerte
sich
ablehnend, und der Konflikt gipfelte in der Absage des bayerischen
Ministerpräsidenten
Edmund Stoiber, an den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit
teilzunehmen.
Als am 14. Juni 1994 Bundeskanzler Kohl in
Bonn das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“
eröffnete, das
die Historie beider deutscher Staaten dokumentieren sollte, spielte das
Bundesjazzorchester (BuJazzO) unter großem Beifall ein Arrangement des
Bandleaders
Peter Herbolzheimer, das aus der Europahymne, dem Deutschlandlied und
der
Hymne der DDR bestand und das bereits 1989 im Rahmen einer
Deutschland-Revue
erstmals öffentlich aufgeführt worden war.
Dithmar, Reinhard (1993): Arbeiterlieder 1844
bis 1945. Neuwied, Kriftel, Berlin.
Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der
Deutschen. Mainz.
Lammel, Inge (1975): Das Arbeiterlied.
Leipzig.
Lammel, Inge (1984): Arbeitermusikkultur in
Deutschland 1844–1945. Leipzig.
Moßmann, Walter / Schleuning, Peter (1978):
Alte und neue politische Lieder. Reinbek.
Sauer, Michael (2008): Historische Lieder.
Seelze-Velber: Klett / Kallmeyer. (Buch + CD). S. 103–111. (Lf 509)
Stern, Annemarie (o. J.): Lieder gegen den
Tritt. Politische Lieder aus fünf Jahrhunderten. Oberhausen.
CD „Dem Morgenrot entgegen“. Edition
BARBArossa 1995.
100 Jahre Deutsches Arbeiterlied. Eine
Dokumentation. 2 LPs + Textheft. Eterna 810015-016
Karlheinz Stockhausen „Hymnen“
Die „Internationale“ entstand zur Zeit der
Pariser Commune im Juni 1871 bzw. unmittelbar nach deren Sturz.
Textverfasser war Eugène Pottier (1816-1887), tätig war als Packer,
Dekorationsmaler und Stoffmusterzeichner, bekannt auch als Chansonnier,
Verfasser von Revuen, Schlagern und Singspielen für Vorstadttheater,
der sich in der Arbeiterbewegung stark engagierte.
Nachdem die Commune niedergeschlagen war, flüchtete er ins Ausland,
kehrte
aber nach der Amnestie 1880 nach Paris zurück und arbeitete dort
weiterhin
politisch. Pottier gilt als der produktivste und bekannteste
Liedermacher
der Commune. 1908 wurde auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise unter
großer
Anteilnahme der Bevölkerung sein Denkmal enthüllt.
Die Melodie der „Internationale“ schrieb
Pierre Degeyter (1848-1932) im Jahr 1888. Er war von Beruf Drechsler
und tätig als Chormeister eines Arbeitergesangvereins in Lille. Die
Vertonung soll im
Juni 1888 erstmals öffentlich erklungen sein (Lammel 1975, S. 229). Die
französischsprachige
Urfassung (Kurzke 1990, S. 109 f.) hatte sechs Strophen, deren deutsche
(wörtliche,
nicht poetische) Übersetzung lautet:
Steht auf, Verdammte der Erde!
Steht auf, Galeerensklaven des Hungers!
Die Vernunft brodelt in ihrem Krater,
Das ist der endgültige Ausbruch.
Das Vergangene wollen wir ausmerzen,
Versklavte Masse, steh auf, steh auf!
Die Welt wird sich von Grund auf ändern:
Wir sind nichts, wir wollen alles sein!
Dies ist der letzte Kampf:
Schließen wir uns zusammen, und morgen
Wird die Internationale
Die menschliche Ordnung sein.
Es gibt keine höheren Retter:
Keinen Gott, keinen Cäsar, keinen Tribun,
Werktätige, retten wir uns selber!
Verordnen wir das Allgemeinwohl!
Damit der Dieb seine Beute wieder herausgibt,
Damit der Geist aus seinen Fesseln befreit
wird,
Blasen wir selbst in unser Feuer,
Schmieden wir das Eisen, solange es glüht!
Dies ist der letzte Kampf...
Der Staat unterdrückt und das Gesetz betrügt;
Die Steuer läßt den Unglücklichen zur Ader;
Der Reiche hat keine Pflicht;
Das Recht der Armen ist ein leeres Wort.
Wir haben lange genug in der Unterdrückung
geschmachtet.
Die Gleichheit will andere Gesetze,
„Keine Rechte ohne Pflichten, sagt sie,
Ebenso: Keine Pflichten ohne Rechte!“
Dies ist der
letzte Kampf...
Scheußlich in ihrer Verklärung
Die Könige des Bergwerks und der Eisenbahn.
Haben sie etwas anderes getan,
Als die Arbeit auszuplündern?
In den Geldschränken der Bande
Ist das, was geschaffen wurde, zu Geld
geworden.
Wenn das Volk beschließt, daß ihm
zurückgegeben werden muß,
Will es nur haben, was ihm gehört.
Dies ist der letzte Kampf...
Die Könige benebeln uns mit Qualm,
Friede zwischen uns, Krieg den Tyrannen!
Wenden wir den Streik an in den Armeen.
Gewehrkolben nach oben, sprengen wir das
Glied!
Wenn sie darauf bestehen, diese Kannibalen,
Aus uns Helden zu machen,
Werden sie bald erfahren, daß unsere Kugeln
Für unsere eigenen Generäle sind!
Dies ist der letzte Kampf...
Arbeiter, Bauern, wir sind
Die große Partei der Werktätigen;
Die Erde gehört nur den Menschen,
Die Müßiggänger sollen anderswo bleiben.
Wieviel weiden sich an unserem Fleisch!
Aber wenn die Raben und die Geier
Eines Morgens verschwunden sind,
Wird die Sonne immer scheinen.
Dies ist der letzte Kampf...
(Moßmann / Schleuning 1978, S. 178 ff.;
Kurzke
1990, S. 120 f.)
Zum Titel des Liedes (s. Moßmann / Schleuning
1978, S. 180): Er bezieht sich auf die „Internationale
Arbeiterassoziation“, die 1864 in London gegründet worden war und deren
Gründungsmanifest und die
Statuten Karl Marx verfasst hatte. Mitglieder waren vor allem englische
und französische Arbeiter, aber auch Vertreter aus Deutschland,
Italien,
Polen und der Schweiz. Pottier gehörte zu den französischen Sektionen.
In
ganz Frankreich hatte die Internationale 245 000 Mitglieder.
Das Lied wurde zunächst in den Pariser
Sektionen der „Internationalen Arbeiterassoziation“ gesungen. Mitte der
neunziger
Jahre wurde es in Deutschland bekannt und es tauchte um 1907 erstmalig
in
deutschen Arbeiterliederbüchern auf – „um von den Polizeibehörden
sofort
konfisziert zu werden! Auch Gefängnisstrafen wurden für das öffentliche
Singen der Internationale verhängt“ (Lammel 1975, S 229).
Zur Melodie schreiben Mossmann und
Schleuning:
Sie „trägt wirklich alle Anzeichen des Außerordentlichen. Sie ist lang
und differenziert, aus einem Guß, ohne schwache Stellen und verlegene
Wendungen!
Es ist, als ob hinter dieser Melodie ein erfahrener, feuriger Komponist
stände, ein Verdi in seinen besten Jahren!“ Mossmann und Schleuning
sehen Einflüsse französischer und italienischer Freiheitslieder, wie
sie auch in vielen
Opern der damaligen Zeit vorkamen (Mossmann / Schleuning 1978, S. 198
f.).
Im Laufe der Zeit entstanden zahlreiche
melodische Varianten, die z. Tl. die differenzierte Melodie
vereinfachten und glätteten (s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 208 f.).
Zunächst war die „Internationale“ nur in
Nordfrankreich bekannt, verbreitete sich aber gegen Ende des
Jahrhunderts in ganz Frankreich und verdrängte bei den Sozialisten den
Gesang der „Marseillaise“. Die weltweite Karriere des Liedes begann
aber erst mit der Jahrhundertwende. In Deutschland erschienen seit 1901
verschiedene Textdrucke und Übersetzungen, 1910 der
erste Notendruck, und zwar in einer Chorfassung (mit der Übersetzung
Luckhardts) des für die Arbeiterchorbewegung wichtigen Komponisten und
Dirigenten Adolf Uthmann.
Die „Internationale“ wurde nach der
Oktoberrevolution Staatshymne der Sowjetunion. 1935 verschwand auf
Druck Moskaus die fünfte Strophe aus der französischen Fassung
(Einzelheiten dazu s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 182 und 185). „Man
fürchtete offenbar, die Aufforderung, auf die eigenen Generäle zu
schießen, könnte auf eine unerwünschte Weise konkretisiert werden“
(Kurzke 1990, S. 112). 1943 – in der Stalinära – erhielt die
Sowjetunion eine neue Hymne, die kein Revolutionslied mehr ist, sondern
ein Preislied der Heimat und des Vaterlandes mit einer choralartigen
Melodie (Verfasser der Melodie: Alexander Alexandrow). Als Parteihymne
blieb die „Internationale“ bestehen.
„Mit dem Vordringen der Internationale
in andere Länder um 1900 ergab sich das Problem der Übersetzungen.
Meist
stellen die Übersetzungen Bearbeitungen dar, schon durch die häufige
Reduzierung
der Strophenzahl“ (Moßmann / Schleuning 1978, S. 183). In Deutschland
entstanden mehrere Fassungen, die sich eine Zeitlang nebeneinander
hielten; allmählich setzte sich in der deutschen Arbeiterbewegung die
seit 1910 belegte Version von Emil Luckhardt durch:
Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Hungern zwingt!
Das Recht wie Glut im Kraterherde
Nun mit Macht zum Durchbruch dringt.
Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger,
alles zu werden, strömt zuhauf!
Völker, hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht!
Es rettet uns kein höh'res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun.
Uns aus dem Elend zu erlösen,
können wir nur selber tun!
Leeres Wort: des Armen Rechte!
Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
Unmündig nennt man uns und Knechte,
duldet die Schmach nun länger nicht!
Völker, hört...
In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute,
wir sind die stärkste der Partei'n.
Die Müßiggänger schiebt beiseite!
Diese Welt muß unser sein;
Unser Blut sei nicht mehr der Raben
Und der nächt'gen Geier Fraß!
Erst wenn wir sie vertrieben haben,
dann scheint die Sonn' ohn' Unterlaß!
Völker, hört...
„Gegenüber dem Urtext kommt es zu einer
Aufweichung der aggressiven Frontstellung im Sinne einer
Verallgemeinerung, einer Romantisierung und einer Verbürgerlichung. Die
radikalsten Partien fehlen“ (Kurzke 1990, S. 116). „Eine solche
Romantisierungstendenz zeigt auch die gleichwohl sehr effektvolle
Übersetzung des Refrains. Ein ‚letztes Gefecht‘ erinnert metaphorisch
an vorindustrielle Treffen mit Degen und Säbel.[…] Auch die im
französischen Text fehlenden ‚Signale‘ (wohl Trompeten- oder
Hornsignale) erinnern eher an Feldzüge der Feudalzeit als an moderne
Arbeitskämpfe. Außerdem schwingt immer etwas Apokalyptisches mit bei
der Vorstellung eines ‚letzten Gefechts‘, als werde danach endgültig
die Heilszeit ausbrechen […]. Das ‚Menschenrecht‘ im deutschen Text ist
eine Forderung der bürgerlichen, nicht speziell der proletarischen
Revolution“ (Kurzke 1990, S. 116 f.).
Die Fassung von Luckhardt hat viele
altertümliche sprachliche Wendungen. Es gab mehrere Versuche, die
„Internationale“ neu zu übersetzen, so etwa von Erich Weinert
(1890-1953). Als Weinert 1937 am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm,
schrieb er eine sechsstrophige Neufassung (s. Mossmann / Schleuning
1978, S. 191 f.), deren Refrain lautet:
Zum letzten Kampf! Ihr alle,
Ihr Völker im Verein!
Die Internationale
Wird alle Menschheit sein!
Mossmann / Schleuning halten diese
Übersetzung
für „hervorragend“, allerdings erfordere sie eine neue Melodie, denn
sie
passe schlecht auf die alte.
In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts
erklang die „Internationale“ bei vielen Demonstrationen der Linken, im
allgemeinen begleitet von einer Schalmeienkapelle. Mit dem Erstarken
des Faschismus bzw. Nationalsozialismus gab es Versuche, durch
Umtextierungen das ursprüngliche Lied zu verdrängen, so etwa mit der
folgenden „Hitlernationale“ aus dem Jahr 1930 (gedruckt in „Deutschland
erwache. Das kleine Nazi-Liederbuch“. 23.
Auflage, Sulzbach [1931]):
Auf Hitlerleute, schließt die Reihen,
zum Rassenkampf sind wir bereit.
Mit unserem Blut wollen wir das Banner weihen,
Zum Zeichen einer neuen Zeit.
Auf rotem Grund in weißem Felde
Weht unser schwarzes Hakenkreuz.
Schon jubeln Siegessignale
Schon bricht der Morgen hell herein,
Der nationale Sozialismus
Wird Deutschlands Zukunft sein!
etc.
(Kurzke 1990, S. 124 f.)
Die Glanzzeit der „Internationale“ in Deutschland waren die Jahre nach der Oktoberrevolution bis 1933, als die Nationalsozialisten das Lied verboten. Wer es dennoch wagte, es zu singen, wurde mit Haft bestraft.
Eine wichtige Rolle spielte die
„Internationale“ als Erkennungslied der internationalen Brigaden
während des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939). 1938 erschien das von
Ernst Busch herausgegebene Liederbuch des Spanischen Bürgerkriegs
„Canciones de las Brigadas Internacionales“.
Der Band enthielt Strophen der „Internationale“ in 14 verschiedenen
Sprachen
(s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 254 ff.).
In der BRD wurde die „Internationale“ von der
KPD und DKP tradiert. Eine Renaissance erlebte sie in der
Studentenbewegung. Zu einer Wiederbelebung kam es auch 1989. Die
Hunderttausende, die im Oktober 1989 in Leipzig demonstrierten, sangen
die „Internationale“ – nicht für,
sondern gegen den kommunistischen Staat. „Die singende Menge mißt den
kommunistischen Staat an seiner eigenen Tradition und wendet sich gegen
ihn. Der Bedränger ist nicht mehr der Kapitalist,
sondern die Nomenklatura, und als Heer der Sklaven
versteht sich das der Theorie nach längst befreite Volk. Wieder einmal
[...] zeigt sich, wie leicht sich die alten revolutionären Lieder gegen
die zur Herrschaft gekommene Revolution wenden können“ (Kurzke 1990, S.
118).
Die „Internationale“ hat auch in verschiedene
Kompositionen Eingang gefunden. So etwa bei Karl Amadeus Hartmann (s.
Heister in: Die
dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, hg. v. B. Sonntag, H.-W.
Boresch,
D. Gojowy, Köln 1999). – Karlheinz Stockhausen hat die „Internationale“
und einige Nationalhymnen in seiner Komposition „Hymnen“ (1967/68)
verarbeitet.
Andersen, Lale (1972): Der Himmel hat viele
Farben. Leben mit einem Lied. Stuttgart.
Andersen, Lale (1981): Leben mit einem Lied.
München.
Elbers, Winfried (1963): Das Soldatenlied als
publizistische Erscheinung. Diss. Münster.
Henderson, Hamish (1948):
Ballads of World War
II. Glasgow.
Hinze, Werner (1996/97): Lili Marleen. Ein
Lied zwischen Soldatenromantik und Propaganda. In: Musik von unten.
Informationsblatt Nr. 20 (1996) S. 23–37, Nr. 21 (1997) S. 3–13.
Hinze, Werner (2004): Lili Marleen. Ein Lied
zwischen Soldatenromantik und Propaganda. Hamburg. (Tonsplitter.
Archiv für Musik und Sozialgeschichte. Liedbiographien Nr. 1.)
Jackson, Carlton (1979): The
Great Lili – A Footnote to World War II. San Francisco.
Lammel, Inge (1975): Das Arbeiterlied.
Leipzig.
Leip, Hans (1964/1981): Die Hafenorgel.
Frankfurt am Main, Hamburg 1964. Neuausgabe München 1981.
Leip, Hans (1985): Das Hans Leip Buch.
Zusammengestellt von Joachim Jessen und Detlef Lerch. Frankfurt a.M.,
Berlin, Wien.
Leip, Hans (1979): Das Tanzrad. Berlin,
Frankfurt a.M., Wien.
Leip, Hans (1950): Die wahre Geschichte der
Lili Marleen. Berlin.
Leonhardt, Rudolf Walter (1979): Lieder aus
dem Krieg. München.
Magnus-Andersen, Litta (1981): Lale Andersen
–
die Lili Marleen. München: Universitas Verlag.
Mezger, Werner (1975): Schlager. Tübingen. S.
134–138.
Peters, Christian (2001): Lili Marleen. Ein
Schlager macht Geschichte. Bonn.
Schepping, Wilhelm (1979): Liedmonographie
als „Liedbiographie“.
Die Wirkungsgeschichte von „Lili Marlen“ als Paradigma. In: ad marginem
44/1979.
Schepping, Wilhelm (2007): Lili
Marleen – Eine denkwürdige Liedbiographie. In: Barbara Stambolis / Jürgen
Reulecke
(Hg.): Good-bye memories? Lieder
im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts. Essen: Klartext-Verlag.
S.
199–242.
Schepping, Wilhelm (1984): Zeitgeschichte im
Spiegel eines Liedes. Der Fall „Lili Marleen“ – Versuch einer
Summierung. In: Festschrift für Ernst Klusen. Hg. von Günther Noll u.
Marianne Bröcker. Bonn. S. 435–464.
Schultze, Norbert (1995): Mit dir, Lili
Marleen. Die Lebenserinnerungen des Komponisten Norbert Schultze.
Zürich und Mainz.
CD „American War Songs 1933–1947“ (Marlene
Dietrich mit „Lili Marleen“)
Doppel-CD „Lili Andersen – Lale Marleen“. Die
Geschichte einer Legende von Bettina Hindemith und Sabine Milewski. hr
(audio).
„100 unvergessene Kino-Hits“, darunter „Lili
Marleen“, gesungen von Lale Andersen.
Film „Lili Marleen“ nach dem Roman von Lale
Andersen. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Mit Hanna Schygulla.
1915, während des Ersten Weltkriegs, schrieb Hans Leip die erste Textfassung von „Lili Marleen“. Sie
erschien 1937 um zwei Strophen erweitert in der Gedichtsammlung „Kleine
Hafenorgel“. 1935 wurde das Lied als Chanson in einer Vertonung von
Rudolf Zink (1910–1983) in einem Schwabinger Kabarett dargeboten. Die
Sängerin war Lale Andersen (1905–1972), die damals
noch unter dem Namen Lieselotte Wilke auftrat. 1938 entstand die
Vertonung von Norbert Schultze. Der Komponist hatte
den Text in Hans Leips „Kleiner Hafenorgel“ von 1937
gefunden.
Biographische Daten zu Norbert Schultze:
geboren 1911; gestorben 2002. Kindheit und
Jugend in Braunschweig; seit 1929 Studium an der Kölner Musikhochschule
1931 Umzug nach München, wo er vier Jahre
lang
unter dem Pseudonym Frank Norbert in dem
Studentenkabarett die „Vier Nachrichter“ gemeinsam mit Kurd E. Heyne,
Bobby Todd und Helmut Käutner auftrat. In der Münchener Zeit lernte
Schultze 1932 Lale Andersen kennen.
1936 komponierte Schultze die Oper „Schwarzer
Peter“, die in der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt wurde und mit
der er erfolgreich war. Später schrieb er noch weitere Opern.
Während des Krieges erhielt er die
Gelegenheit, Filmmusiken zu komponieren. Der Regisseur Hans Bertram
stellte im Auftrag des Luftfahrtministeriums den Propagandafilm
„Feuertaufe“ her, zu dem Schultze Musik schrieb, u. a. das Lied „Bomben
auf Engelland“ (Text: Wilhelm Stöppler), das ihm den Spitznamen
„Bomben-Schultze“ einbrachte:
Wir fühlen in Horsten und Höhen
Des Adlers verwegenes Glück.
Wir stürmen zum Tor
Der Sonne empor.
Wir lassen die Erde zurück.
Kamerad! – Kamerad!
Alle Mädels müssen warten!
Kamerad! – Kamerad!
Der Befehl ist da: Wir starten!
Die Losung ist bekannt:
Bomben – Bomben –
Bomben auf Engelland!
(Schultze 1995, S. 69)
Schultze schrieb weitere Lieder für die
Nazi-Propaganda.
1944 Mitarbeit Schultzes an dem UFA-Film
„Kolberg“ mit dem Regisseur Veit Harlan.
1945 erhielt Schultze drei Jahre
Berufsverbot.
1948 erfolgte seine formale „Entnazifizierung“.
1951 wanderte er mit seiner Familie nach
Brasilien aus, kehrte aber schon nach einem Jahr nach Deutschland
zurück. Produzierte nun wieder zahlreiche Filmmusiken, Lieder und
Chansons.
war anfänglich nicht besonders erfolgreich.
Beim Rundfunk wurde das Lied abgelehnt, ebenso vom Verleger Sikorski.
Schultze bot Liselotte Wilke, die sich inzwischen Lale Andersen nannte,
seine Vertonungen aus der „Kleinen Hafenorgel“ an. Sie sang bald darauf
die „Lili Marleen“ im Rundfunk. Bei der Plattenfirma ELECTROLA wurde
das Lied schließlich akzeptiert: „Da die Wehrmacht anscheinend ‚stark
im Kommen sei‘, habe das Kasernenlied vielleicht eine Chance, wenn man
es ‚Lied eines jungen Wachtpostens‘ nennt“ (Schultze 1995, S. 64). Die
Aufnahme sollte mit einem preußischen Zapfenstreich beginnen, im
Hintergrund ein Soldatenchor, „dezenter Marschrhythmus“ (Schultze 1995,
S. 64). (Das Arrangement stammte nicht von Schultze.) 1940 erschien
„Lili Marleen“ im Druck mit einem „hölzernen Klaviersatz“, wie Schultze
schreibt, der „auch noch den Marschrhythmus von der ELECTROLA-Platte“
übernommen
habe (vgl. die CD „Musik vom Deutschlandsender. Originalaufnahmen aus
der
Zeit von 1939 bis 1945“).
Seit dem Sommer 1941 gab es plötzlich und
gänzlich unerwartet eine enorme Nachfrage nach „Lili Marleen“ bzw. dem
„Lied eines jungen Wachtpostens“. Der Grund war, dass der
Soldatensender Belgrad (Welle 437,3) dieses Lied seit einiger Zeit
sendete. Eine Gruppe junger Soldaten (im Zivilberuf Funktechniker vom
Berliner Rundfunk) hatte im April 1941
den Auftrag erhalten, in Jugoslawien einen Soldatensender zu
installieren.
Im kriegszerstörten Belgrad errichteten sie einen Sendebetrieb. Einer
von
ihnen hatte aus Wien einen Stapel Schallplatten mitgebracht, darunter
eine
Aufnahme der „Lili Marleen“. Das „Lied eines jungen Wachtpostens“ mit
dem
Zapfenstreichsignal in der Aufnahme mit Lale Andersen erschien den
Programmgestaltern
als Sendeschluss besonders geeignet. Als es zeitweilig abgesetzt wurde,
gab es Proteste der Zuhörer. Da der Soldatensender Belgrad seine
Feldpostnummer
bekanntgab, kam jeden Tag mehr Post an, die erkennen ließ, dass die
Sendung
in vielen Ländern, sogar bei Rommels Truppen in Afrika, gehört wurde.
„Das
Lied trifft im dritten Kriegsjahr die armen Frontschweine mitten ins
Herz!“
(Schultze 1995, S. 78) Es wurde zum „Symbol für Heimweh, Trennung und
Sehnsucht
[...], vor allem für Hoffnung auf Wiedersehen. Die Zeit – der Krieg,
der
immer furchtbarer wird, die Umstände haben das bewirkt“ (Schultze 1995,
S. 78).
Aufgrund des großen Echos wurde beim
Soldatensender Belgrad eine allabendliche Sendung mit dem Titel „Der
junge Belgrader Wachtposten“ eingerichtet. Darin
wurden Briefe von zuhause an die Front und von der Front in die Heimat
verlesen. Die Sendung endete kurz vor zehn Uhr mit Lale Andersens „Lili
Marleen“. „Tatsächlich, Briefe bezeugen es,
schwiegen während der Zeit die Waffen, und der Feind, erstmals in einem
Kriege,
hörte mit. ‚Überall in der Wüste‘, notierte ein britischer
Kriegsberichterstatter, ‚pfiffen englische Soldaten das Lied‘“ (DER
SPIEGEL, Nr. 4/1981, S. 173). „In einer Zeit, wo man zuhause von denen
da draußen oft nur die Feldpostnummer kennt, mehr nicht, ist diese
Verbindung für viele Menschen oft die schnellste und sicherste, um
persönliche Grüße und familiäre Nachrichten zu übermitteln“ (Schultze
1995, S. 80).
„Lili Marleen“ avancierte innerhalb von
kurzer
Zeit zum populärsten Schlager des Zweiten Weltkriegs. Das Lied
übersprang
politische Grenzen und feindliche Fronten, es wurde in viele Sprachen
übersetzt.
Die internationale Bekanntheit von „Lili Marleen“ wurde auch durch das
Massenmedium Radio ermöglicht, das erstmals „mit in den Krieg gezogen“
war (DER SPIEGEL, Nr. 4/1981, S. 172).
„Lili Marleen“ wurde sowohl von Nazis als
auch
von deren Gegnern gesungen: Von den Nazis wurde das Lied zeitweilig als
Propagandamittel gebraucht, doch Goebbels brandmarkte es als
„defätistisch“ und „wehrkraftzersetzend“, konnte aber nicht verhindern,
dass es weiterhin ausgestrahlt und gesungen wurde. Zugleich faszinierte
„Lili Marleen“ die Gegner der Nationalsozialisten. Die englische
Fassung „Underneath the lantern“ sang Marlene Dietrich, die 1937 den
Entschluss gefasst hatte, nicht mehr nach Hitler-Deutschland
zurückzukehren.
Mezger weist auf die merkwürdige Tatsache
hin,
daß „Lili Marleen“ „stets“ von Frauen gesungen wurde (was nicht ganz
zutrifft, es gab auch männliche Sänger), „obwohl der Inhalt des Liedes,
in dem ein
Soldat ein Mädchen besingt, eigentlich männliche Interpreten verlangt
hätte“.
Dazu schrieb Siegfried Schmidt-Joos: Im Zweiten Weltkrieg mussten
Männer
und Frauen voneinander getrennt leben, damals „schufen singende Frauen
für
die Männer so etwas wie eine Ersatzvorstellung: Ihre Fotos schmückten
die
Spindtüren und Bunkerwände der Soldaten. Ihre Stimmen waren im Ohr der
Männer,
wenn sie an daheim dachten“ (Schmidt-Joos: Geschäfte mit Schlagern, S.
41).
„Wann immer, nach 1945, auf der Welt ein
Krieg ausbrach,
in Indochina, Korea, Israel, Vietnam, stieg die Tantiemen-Kurve des
Liedes
steil nach oben; Lili marschiert mit“ (DER SPIEGEL, Nr. 4/1981, S.
171).
Der 1959 gegründete Bundes-Soldatensender Radio Andernach sendet für
Bundeswehr-Angehörige
im Ausland. So gab es z.B. beim Einsatz in Bosnien Live-Sendungen mit
viel
Musik, um die Soldaten bei Laune zu halten, auch Gruß- und
Wunschsendungen,
in denen Kontakt zwischen Heimat und Front hergestellt wurde. Abend für
Abend
erklang dabei zum Programmschluss um 21 Uhr „Lili Marleen“, gesungen
von
Lale Andersen, „als hätte das Lied keine Geschichte“ (Kölner
Stadt-Anzeiger,
10.11.1997).
Neben vielen fremdsprachigen Versionen gibt
es
eine Vielzahl von Parodien von „Lili Marleen“. 1944 z.B. sang in
Frankfurt
nachts ein Unbekannter: „Unten an der Laterne / hängt ein schwarzer
Mann,
/ Warte nur balde / hängen mehrere dran. / Wenn wir alle hängen sehn, /
wird
es uns wieder besser gehn / wie einst Lili Marlen“
(Schepping 1979). Zahlreiche Parodien finden sich bei Rudolf
Walter Leonhardt, Lieder aus dem Krieg, München 1979, S. 162 ff.
Im deutschsprachigen Programm der BBC sang
Lucie Mannheim (vgl. CD-Cassette „Entartete Musik“. Tondokumente zu
der Ausstellung „Entartete Musik“, Düsseldorf 1988. CD 4 „Widerstand“):
Ich muß heut‘ an dich schreiben,
mir ist das Herz so schwer,
ich muß zu Hause bleiben
und lieb’ dich doch so sehr.
Du sagst, du tust nur deine Pflicht,
doch trösten kann mich das ja nicht,
ich wart’ an der Laterne.
Deine Lili Marleen.
Was ich still hier leide,
weiß nur der Mond und ich,
einst schien er auf uns beide,
nun scheint er nur auf mich.
Mein Herz tut mir so bitter weh,
wenn ich an der Laterne steh’
mit meinem eignen Schatten.
Deine Lili Marleen.
Vielleicht fällst du in Rußland,
vielleicht in Afrika,
doch irgendwo, da fällst du,
so will’s dein Führer ja.
Und wenn wir doch uns wiedersehn,
so möge die Laterne stehn
in einem andern Deutschland.
Deine Lili Marleen.
Der Führer ist ein Schinder,
das sehn wir hier genau,
zu Waisen macht er Kinder,
zur Witwe jede Frau.
Und wer an allem schuld ist, den
will ich an der Laterne sehn.
Hängt ihn an die Laterne!
Deine Lili Marleen.
„Lili Marleen“ regte auch zu zahlreichen
Filmen an. 1956 drehte Paul Verhoeven mit Marianne Hold und Adrian
Hoven „Wie einst, Lili Marleen“. 1960 wurde unter der Regie von Paul
May der Film „Soldatensender Calais“ gedreht. Darin ist „Lili Marleen“
ein Lied des Widerstandes – wie Lucie Mannheims Version, die 1942 und
1943 von der BBC London ausgestrahlt wurde. „Lili Marleen“ tauchte
wenig später nochmals in Stanley Kramers „Das Urteil von Nürnberg“ auf,
einem Film aus dem Jahr 1961 mit Spencer Tracy, Maximilian Schell und
Marlene Dietrich. Marlene Dietrich hatte dieses Lied während des
Krieges in der Uniform eines U.S. Captain für die Invasionstruppen
gesungen und später für die Kriegsveteranen. Es gibt auch einen
Dokumentarfilm über „Lili Marleen“, den einer der Söhne von Schultze
1970 für das Fernsehen drehte. Das Lied erlebte damals einen besonderen
Boom in Japan. Rainer Werner Faßbinders Film „Lili Marleen“ mit Hanna
Schygulla wurde nach Lale Andersens Autobiographie gedreht.
Zwei
„Pflichtlieder“ aus dem NS-Repertoire
Burkhardt, Werner:
Beilage zu der LP-Kassette „Musik der Stunde Null“. Eine Dokumentation.
Schallplatten-Edition des Zeitmagazins.
Gamm, Hans-Jochen
(1962): Der braune Kult. Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion.
Hamburg.
Heister,
Hanns-Werner
/ Klein, Hans-Günter (Hg.) (1984): Musik und Musikpolitik im
faschistischen Deutschland. Frankfurt am Main.
von Hellfeld,
Matthias (1987): Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von
Anpassung
und Widerstand 1930-1939. Köln. (Edition Archiv der deutschen
Jugendbewegung, Bd. 3.)
Hodek, Johannes
(1984): „Sie wissen, wenn man Heroin nimmt...“ Von Sangeslust und
Gewalt in Naziliedern. In: Musik und Musikpolitik im faschistischen
Deutschland. Hg. von Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein.
Frankfurt am Main. S. 19–35.
Klönne, Arno (1960):
Gegen den Strom. Hannover und Frankfurt am Main.
Klönne, Arno (1980):
Jugendbewegung und Faschismus. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen
Jugendbewegung 12/1980.
Kratzat Gerd (1988):
Zündende Lieder. Einsatz und Wirkung nationalsozialistischer
Propagandalieder. In: Zündende Lieder – Verbrannte Musik. Folgen des
Nationalsozialismus für Hamburger Musiker und Musikerinnen. Hg. von der
Projektgruppe Musik und Nationalsozialismus. Hamburg. S. 86–100.
Mann, Erika (1986):
Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich.
München.
Markmiller, Fritz
(1986/87): Beobachtungen zum Fest- und Brauchwesen während der NS-Zeit.
Teil II. In: Der Storchenturm. Geschichtsblätter für die Landkreise um
Dingolfing, Landau und Vilsbiburg, 21./22. Jg., H. 42/43.
Probst-Effah, Gisela
(1996): Lieder im NS-Kult. In: Musikalische Volkskultur als soziale
Chance. Laienmusik und Singtradition als sozialintegratives Feld. Hg.
von Günther Noll und
Helga Stein. Essen. (Musikalische Volkskunde. Materialien und Analysen.
Schriftenreihe des Instituts für Musikalische Volkskunde der
Universität
zu Köln, Band 13.)
Schepping, Wilhelm
(1977): Das Lied als Corpus delicti in der NS-Zeit. In: Beiträge zur
Musikgeschichte der Stadt Düsseldorf. Hg. von Julius Alf. Köln. (=
Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, H. 118.)
Schepping, Wilhelm
(1997): Kommentar zu dem Lied „Unsre Fahne flattert uns voran“. In:
Geschichte in Liedern. Deutschland im 20. Jahrhundert. CD-Begleitheft
Texte–Noten–Erläuterungen. Heidelberg. (RAAbits Geschichte.)
Staff, Ilse (Hg.)
(1978): Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main.
Stern, Annemarie (o.
J.): Lieder gegen den Tritt. Oberhausen.
Vondung, Klaus
(1971): Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische
Religion des Nationalsozialismus. Göttingen.
Wimmer, Fridolin
(1994): Das historisch-politische Lied im Geschichtsunterricht:
exemplifiziert am Einsatz von Liedern des Nationalsozialismus und
ergänzt durch eine empirische Untersuchung über die Wirkung dieser
Lieder. Frankfurt am Main u. a.
Geschichte in
Liedern. Deutschland im 20. Jahrhundert. CD u. Begleitheft
Texte–Noten–Erläuterungen. Heidelberg. (RAAbits Geschichte.)
Am 17. Juni 1933
wurde Baldur von Schirach zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“
ernannt. Seine erste Amtshandlung war das Verbot der bündischen Jugend.
Die Auflösung bestimmter Gruppen war ein erster Schritt der
nationalsozialistischen Machthaber zu
dem Ziel, die gesamte deutsche Jugend in einem Staatsjugendverband
zusammenzuzwingen. Wie die NSDAP nunmehr die einzige Partei sein
sollte, so sollte die HJ die einzige Jugendorganisation sein.
Die Gleichschaltung wurde mithilfe der
„Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.
Februar 1933“ erzwungen, die u.a.
die Einschränkung der persönlichen Freiheit sowie des Rechtes auf freie
Meinungsäußerung,
des Vereins- und Versammlungsrechts, des Brief- und Postgeheimnisses
legalisierte und Haussuchungen und Beschlagnahmungen erlaubte. Bei
Zuwiderhandlungen
wurden hohe Gefängnis- bzw. Geldstrafen, manchmal auch die Todesstrafe
verhängt.
Die „Verordnung zum Schutz von Volk und
Staat“ richtete
sich zunächst gegen die Kommunisten („Auf Grund des Artikels 48, Abs. 2
der
Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender
Gewaltakte
folgendes verordnet...“), sie wurde per Erlass am 3. März 1933 auch auf
Anarchisten
und Sozialdemokraten angewandt (diejenigen, „die mit den Kommunisten
zusammenarbeiten
und deren verbrecherische Ziele, wenn auch nur mittelbar, unterstützen
oder
fördern“; vgl. Staff 1978, S. 56 f.). In einem weiteren Erlass Görings
an
die Polizeibehörden wurde ihre Übertragung auf „alle Personen als
zulässig
bezeichnet [...], die Verhaltensformen zeigten, ‚die
geeignet
sind, Unzufriedenheit über die von der nationalen Regierung getroffenen
Maßnahmen
zu erzeugen und eine Fortsetzung der marxistischen Hetze‘ darstellten“
(Staff
1978, S. 57). Diese Bedingungen erfüllte bereits, wer es unternahm,
„den
organisatorischen Zusammenhang einer früheren bündischen Vereinigung zu
bilden,
insbesondere wer auf andere Personen durch Weitergabe von bündischem
Schrifttum,
Liederbüchern und dergleichen einwirkt, oder wer bündische Bestrebungen
in
anderer Weise unterstützt“ (Klönne 1960, S. 48).
Am 23. Juni 1933
verbot Schirach fast alle nichtkonfessionellen Jugendbünde. Am Ende des
Jahres
1933 dehnte er das Verbot auf die evangelische Jugend aus. Mit dem
Reichsbischof Müller, dem Vorkämpfer der mit Hitler sympathisierenden
„Deutschen Christen“, schloss er am 19. Dezember 1933 ein Abkommen, das
die Eingliederung der
gesamten evangelischen Jugend (damals ca. 100 000 Mitglieder) in
die HJ
verfügte.
Der Status der
katholischen Jugend unterschied sich von dem der evangelischen. Zwar
gab es auch für
die katholische Jugend bereits im Juni 1933 die Gefahr, liquidiert zu
werden. Dann aber wurde plötzlich die ganze Aktion von Berlin aus
gestoppt. Der
Grund waren die noch schwebenden Konkordatsverhandlungen zwischen dem
Heiligen
Stuhl in Rom und dem Hitlerregime. Als am 20. Juli 1933 das
Reichskonkordat
unterzeichnet war, begann für die katholische Jugend eine
vorübergehende
Atempause. In späteren Jahren verschlechterte sich die Lage der
katholischen
Jugendverbände. Das „Reichsjugendgesetz“ verfügte am 1. Dezember 1936
die
Zwangsmitgliedschaft aller Jugendlichen in der HJ.
Die Hitlerjugend
adaptierte bewährte Formen des Gemeinschaftslebens der bündischen
Jugend (z. B. gemeinsames Wandern, Singen, Lagerfeuer), ein Teil des
bündischen Liedrepertoires wurde übernommen.
Ein Kernlied der Hitlerjugend war „Unsre Fahne flattert uns voran“, dessen Textverfasser der Reichsjugendführer Baldur von Schirach war. In der Vertonung von Hans Otto Borgmann war dieses Lied durch den Ufa-Tonfilm „Hitlerjunge Quex“ und viele Liederbücher seit 1933 verbreitet. Es gehörte zum Pflichtlied-Repertoire der Hitlerjugend.
Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren.
Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren.
Deutschland, du wirst leuchtend stehn,
mögen wir auch untergehn.
Vorwärts! Vorwärts
...
Ist das Ziel auch noch so hoch,
Jugend zwingt es doch!
Unsre Fahne flattert uns voran.
In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann.
Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not
Mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.
Unsre Fahne flattert uns voran.
Unsre Fahne ist die neue Zeit.
Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!
Ja, die Fahne ist mehr als der Tod!
Jugend! Jugend! Wir sind der Zukunft Soldaten.
Jugend! Jugend! Träger der kommenden Taten.
Ja, durch unsre Fäuste fällt,
wer sich uns entgegenstellt.
Jugend! Jugend
...
Führer, wir gehören dir,
wir, Kam’raden dir!
Unsre Fahne flattert uns voran
...
Bei allen Feiern des Deutschen Jungvolks (DJ), der Hitlerjugend (HJ) und des Bundes Deutscher Mädel (BDM) wurde dieses Lied gesungen. Es propagiert das Ideal einer Jugend, die „keine Gefahren kennt“ und die Hitler folgendermaßen charakterisierte: „flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“. Kampf und Sterben für die Fahne (die „mehr als der Tod“ sei), den „Führer“ (dem man blind – „durch Nacht und Not“ – folgt) und das Vaterland werden als psychologische Einstimmung auf den geplanten Krieg glorifiziert. Der Krieg, der längst mit modernen Vernichtungswaffen geführt wurde, wird reduziert auf einen Kampf „Mann gegen Mann“, bei dem wie bei einer jugendlichen Rauferei nur der Körper eingesetzt wird: „Ja, durch unsre Fäuste fällt, wer sich uns entgegenstellt“.
Hans-Jochen Gamm schreibt zu der psychischen Wirkung dieses Liedes: „Es mutete seltsam an, aus dem Munde zehnjähriger Kinder zu hören, daß ‚die Fahne mehr als der Tod‘ sei. Der Nationalsozialismus unterstellte auch das Kind ohne Einschränkung den Parolen, die meistens einen blutigen Hintergrund hatten. Die Heranwachsenden ihrerseits konnten daran kaum Anstoß nehmen, da ihnen Vergleichsmöglichkeiten fehlten. So entstand der Widerspruch zwischen den kindlichen Gesichtern und den oft mörderischen Liedern, die man ihnen eingeprägt hatte. Unzählige junge Menschen wurden dadurch verdorben, daß man ihnen keine sittlichen Modelle als Maßstäbe anbot. So fanden sie sich auch bereit, insbesondere, wenn sie im SS-Geist erzogen wurden, die Blutaufträge der Vorgesetzten blind auszuführen und nicht zu fragen, ob es recht sei. Besonders in Rußland wurden Erschießungen der Zivilbevölkerung von sogenannten ‚Einsatzgruppen‘ vollzogen. Hitlers Erziehungsziel war ja, das ‚Raubtier‘ wieder wachzurufen und die jahrhundertelange ‚Domestikation‘ rückgängig zu machen“ (Gamm 1962, S. 49).
Von dem Lied „Unsre Fahne flattert uns voran“ kursierten während des Dritten Reiches auch inoffizielle Fassungen, die beweisen, dass nicht alle Jugendlichen der Propaganda kritiklos ausgeliefert waren, z. B.:
Brüder, Brüder, laßt
uns die Flammen bewahren,
Brüder, Brüder,
wehret den stumpfen Barbaren,
Nirgend laßt den
Baldur ran,
daß er nichts
zertrampeln kann.
Laßt ihn trügen.
werben mit lockenden Klängen.
Laßt ihn lügen,
hetzen, drohen und bedrängen.
Steht er heut auch
noch so hoch,
Einmal kippt er doch.
Refrain:
Unser Baldur
flattert
uns voran,
Unser Baldur ist ein
dicker Mann
Wir marschieren
trotz
Schirach, durch Nacht und Verbot,
Und wir schern uns
den Teufel um Neid und Verbot.
Unser Baldur
flattert
uns voran,
Unser Baldur meint
die neue Zeit
Doch wir halten uns
wachsam und trutzig bereit,
Unser Bund gilt uns
mehr als der Tod.
Oder auch:
Rückwärts, rückwärts
quaken die trägen Fanfaren,
Baldur Liebling sei
dir darüber im klaren,
Wenn ein neuer Geist
sich rührt,
wirst du schleunigst
abserviert.
Wotan selber kann
dich dann nicht halten
...
Eine weitere Parodie
findet sich bei Annemarie Stern (Stern o. J., S. 309).
Einige dieser
Parodien finden sich in Akten der Geheimen Staatspolizei, die auch
belegen, dass
diejenigen, die solche umtextierten Fassungen sangen, viel riskierten.
Einer
der Sänger einer solchen Parodie war ein 20-jähriger Angehöriger der
katholischen
Jugend. Er wurde im Mai 1934 denunziert, verhaftet und angeklagt, „das
Lied
der HJ in gehässiger Form zum Hetzlied der katholischen Jugend
umgedichtet
zu haben“ (Akte Nr. 37 918, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf). Das Verhör
brachte
weitere Mitwisser bzw. Mittäter ins Spiel; zwei Angehörige der
katholischen
Sturmschar wurden verhaftet. Da die Mittäter mit 13 Jahren
strafunmündig
waren, wurde für sie ein Strafverfahren nicht eröffnet. Die Härte der
Justiz
traf den bereits volljährigen Erstverhafteten, und zwar durch eine
damals
gängige Taktik: Er wurde der „Unzucht zwischen Männern“ angeklagt. „Das
wirksamste
und vor allem juristisch abgesichertste Mittel, illegale Gruppen mit
Strafe
belegen zu können, war die Anwendung des Paragraphen 175, der im
Dritten
Reich erheblich verschärft wurde. Damit hatten die Nationalsozialisten
eine
[...] Handhabe gegen politisch mißliebige Personen oder Gruppen, denen
–
meist propagandistisch wirkungsvoll unterstützt – homosexuelle
Handlungen
vorgeworfen wurden. Davon besonders betroffen waren katholische
Priester
und [...] auch mißliebige Soldaten oder SA-Funktionäre“ (Hellfeld 1987,
S.
208).
Siehst du im Osten das Morgenrot
(Melodie und Text:
Arno Pardun)
Siehst du im Osten
das Morgenrot,
ein Zeichen zur
Freiheit, zur Sonne?
Wir halten zusammen,
ob lebend, ob tot,
mag kommen, was
immer
da wolle!
Warum jetzt noch
zweifeln? Hört auf mit dem Hadern!
Noch fließt uns
deutsches Blut in den Adern.
Volk, ans Gewehr!
Volk, ans Gewehr!
Viele
Jahre zogen dahin,
geknechtet das Volk und betrogen.
Verräter und Juden hatten Gewinn,
sie forderten Opfer Legionen.
Im Volke geboren erstand uns ein Führer,
gab Glaube und Hoffnung an Deutschland uns wieder.
Volk, ans Gewehr!
Deutscher, wach auf, und reihe dich ein,
wir schreiten der Sonne entgegen,
frei soll die Arbeit und frei wolln wir sein
und mutig und trotzig-verwegen.
Wir ballen die Fäuste und werden es wagen,
es gibt kein Zurück mehr und keiner darf zagen!
Volk, ans Gewehr!
Wir Jungen und Alten, Mann für Mann,
umklammern das Hakenkreuzbanner.
Ob Bauer, ob Bürger, ob Arbeitsmann,
sie schwingen das Schwert und den Hammer,
sie kämpfen für Hitler, für Arbeit und Brot.
Deutschland, erwache! ende die Not!
Volk, ans Gewehr!
(aus: Morgen
marschieren wir. Liederbuch der deutschen Soldaten, im Auftrag des
Oberkommandos der
Wehrmacht hg. von Hans Baumann, 2. Aufl. Potsdam 1939, S. 181 f.)
Dieses
Lied mit dem agitatorischen Refrain „Volk ans Gewehr“, das zu den
bekanntesten und am häufigsten gesungenen Massenliedern des „Dritten
Reiches“ gehörte, schrieb der Berliner Hobby-Musiker und Kaufmann Arno
Pardun 1931 und widmete es Joseph Goebbels (Hodek 1984, 31). Da es
inhaltlich zum aktuellen Kriegsgeschehen in Osteuropa des Jahres 1942
einen gewissen Bezug aufweist, war es während des Krieges für die
Propaganda besonders nützlich. Andererseits ist die
Szenerie des Liedes von jeglichem Realismus weit entfernt. Der „Osten“
erscheint hier nicht als ein konkreter geographischer Ort, sondern –
wie auch das „Morgenrot“ und die „Sonne“ – als Metapher für eine
bereits sichtbare siegreiche, freiheitliche
Zukunft; als irrealer, übergeschichtlicher Schauplatz heroischer,
schicksalhafter
Auseinandersetzungen existierte er in der Sprache der
nationalsozialistischen Ideologen schon lange vor Kriegsbeginn. Der
Kampf, der dem sicheren, unzweifelhaften Sieg vorausgeht, ist im Lied –
im Gegensatz zum realen Kriegsgeschehen –
schon fast überwunden, die aktuelle Not wird in die Vergangenheit, die
Zeit
vor dem „Dritten Reich“, projiziert und einem fiktiven „Feind“ – dem
„Verräter“ und „Juden“ – angelastet. Der Ausgang des Kampfes, so
suggeriert es der
Text, ist durch die Rassenzugehörigkeit vorentschieden, und die – auch
musikalisch durch weite Intervallsprünge besonders nachdrücklich und
großspurig geäußerte – Überzeugung von der natürlichen Überlegenheit
der eigenen Rasse übertönt alle Zweifel, Ängste und Hemmungen und lässt
Fragen nach Ursache, Sinn und Ziel des Krieges verstummen („Warum jetzt
noch zweifeln, hört auf mit dem Hadern, noch fließt uns deutsches Blut
in den Adern“). Als Grundprinzip
des Lebens erscheint der Kampf auf eine übergeschichtliche Ebene
entrückt.
Den Charakter der Zeitlosigkeit erhält er auch durch die Verwendung von
Bildern und Begriffen aus einer idealisierten Vergangenheit:
Hans-Jochen
Gamm hat darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus, obgleich er
sich
„als ausgesprochen realistisch und als allen Mystizismen abhold“
betrachtet
habe, niemals die gegenwärtigen Kriegsinstrumente wie das
Panzerfahrzeug
besungen habe, sondern z. B. das für die Eroberungszüge des 20.
Jahrhunderts
völlig ungeeignete Pferd (Gamm 1962, S. 21). So wird im Lied „Siehst du
im
Osten das Morgenrot“ die „Schlacht“ – trotz des Aufrufs „Volk ans
Gewehr“
im Refrain – nicht mit modernen Waffen, sondern mit dem altertümlichen
„Schwert“
geführt. (Zur besonderen Wirkung des Liedes „Volk, ans Gewehr!“ vgl.
auch
Hodek 1984, 31 ff.)
Viele
nationalsozialistische Lieder fungierten als gesungene
Propagandaparolen; sie veränderten die Wahrnehmung und schufen eine
„zweite Realität“ (Vondung 1971, 193): „Das von Hunderttausenden immer
wieder gesungene und darum einverleibte Lied verwandelt die
Wirklichkeit im Sinne der ausgesagten Idee“ (Gamm 1962, S. 15).
Verstärkt wurde die agitatorische Wirkung durch Massengesang und
gemeinsames Marschieren.
„Das einheitliche
und
meist einstimmige Singen eines Liedes kann ein Gefühl von
uneingeschränkter
Macht, von Unbesiegbarkeit hervorrufen. Der Einzelne fühlt sich
geborgen,
sicher, aufgehoben; dieses orgiastische ‚Aufgehen in der Masse‘, von
dem
man sich emotional nur schwer distanzieren kann, enthält die
Bereitschaft
zur Aufgabe des eigenen freien Willens. Die Anfälligkeit für
ideologische
Aussagen ist in diesen erhebenden Momenten besonders groß. Das
subjektive
Gefühl beim Singen wird fälschlicherweise als Wahrhaftigkeit der Musik
und
der Textaussage gedeutet. Und der Eindruck der Wahrhaftigkeit wird für
den
Einzelnen durch die Beobachtung gestützt, daß alle anderen überzeugt zu
singen
scheinen“ (Kratzat 1988, 95).
Viele Foto- und
Filmdokumente bezeugen, dass insbesondere die nationalsozialistischen
Großveranstaltungen ihr Ziel nicht verfehlten: Sie zeigen jubelnde
Volksmassen. Ausländische
Beobachter haben mitgeteilt, dass die Bevölkerung bei den Nürnberger
Parteitagen
„wie von einem Rausch befallen und die alte Stadt in einen
unvergeßlichen
Zauber gehüllt“ gewesen sei (Gamm 1962, S. 109). Selbst in kritischen
wissenschaftlichen Darstellungen des NS-Kultes wird – fast
widerstrebend – dem Nationalsozialismus die Fähigkeit zugestanden,
große Teile der Bevölkerung emotional zu packen und zu faszinieren. Der
„beinahe südländisch anmutende Enthusiasmus“ der
Menschen sei, meint Hans-Jochen Gamm, nicht gestellt, sondern „ehrlich“
gewesen
(Gamm 1962, S. 126).
Die
„Gleichschaltung“
der Individuen in der „Masse“ während des „Dritten Reiches“ weckte
Empfindungen der Fremdheit und Ohnmacht in denen, die den öffentlich
propagierten Idealen misstrauten oder sie ablehnten. Geborgenheit in
der Menschenmasse erlebte nur, wer sich der Gemeinschaft der
„Gläubigen“ zugehörig fühlte – am intensivsten wohl die Jugendlichen,
die kaum Alternativen kannten und die durch die „völlige
Abgeschlossenheit [...] der Naziwelt“ (Mann 1986, S. 39) den Zwang des
Systems, in dem ihr Leben verplant wurde, nicht wahrzunehmen
vermochten. Die Disziplinierung und Unterordnung des einzelnen in
gleichgeschalteten Marschkolonnen riss
Berichterstatter der Nürnberger Reichsparteitage zu schwärmerischen
Bildern
hin, in denen sich die Entsubjektivierung und Instrumentalisierung der
Menschen
unmissverständlich ausdrückt:
„Man erkennt von
hier
oben nicht mehr den einzelnen Mann, den Fackelträger, man sieht nur
noch
das Ganze, sieht den Gau, der im Gleichschritt vorbeizieht, sieht nur
das
eine Feuer, das sie alle tragen“ (zit. nach Gamm 1962, 113).
„Die
Jungvolk-Kapelle
rückt vor, Musik klingt auf, die Fahnen dieser Jugend marschieren ein“
(zit.
Nach Gamm 1962., S. 114).
Es gilt durch
massenpsychologische Untersuchungen als erwiesen, dass das Gefühl
kollektiver Stärke sich mit
feindseligen Affekten gegenüber Außenstehenden verbindet. Die
Integration
in das Wahngebilde der „Volksgemeinschaft“ war nur möglich durch die
rigorose
Ausschaltung aller störenden „Elemente“. Die scheinbar klassenlose, auf
unveränderlichen,
nämlich biologischen Wesensmerkmalen beruhende Gemeinschaft brandmarkte
als
„artfremd“, was von den staatlich verordneten Normen abwich. Sie ging
erbarmungslos
gegen diejenigen vor, die nach der herrschenden Auffassung aus
rassischen
Gründen nicht anpassungsfähig waren, sowie gegen sog. „Miesmacher“,
„Nörgler“
und „Stänkerer“, die die Anpassung freiwillig verweigerten. – Die
„Times“
vom 23.8.1933 berichtete:
„In Neu-Ruppin [...]
wurde ein Mädchen, weil es sich nicht erhoben hatte, als das
Horst-Wessel-Lied
gespielt wurde, unter der Bewachung von Sturmtruppen durch die Stadt
geführt.
Sie trug am Rücken und auf der Brust je ein Plakat mit der Inschrift:
'Ich
schamlose Kreatur habe es gewagt, sitzen zu bleiben, als das
Horst-Wessel-Lied
gesungen wurde, und habe so die Opfer der Nationalen Revolution
mißachtet.'
[...] Die Zeit des Schauspiels war vorher in der Ortszeitung angegeben
worden,
so daß große Menschenmengen sich versammeln konnten“ (zit. nach Heister
1984, 311).
Wie Markmiller
mitteilt, bildeten Diffamierungen und Diskriminierung manchmal
Bestandteile von Bräuchen. Hierbei offenbarte sich in krasser Weise die
Negativseite der sozial integrativen Wirkungen von Volkskultur. So
„benutzte die Partei die Feier der Sommersonnenwende 1934 gezielt dazu,
im Feuer des Holzstoßes die "Volksschädlinge" aus dem "Volkskörper" auszubrennen, wie wenn es sich dabei um
einen Schlangenbiß mit der Gefahr einer Blutvergiftung gehandelt hätte“
(Markmiller 1986/87, S. 253).
Die Dingolfinger
Lokalzeitung berichtete am 25. Juni 1934:
„Gauredner Pg.
Kuhr-Bayreuth ergriff nach seiner Ansprache nochmals das Wort, um
abzurechnen mit den
Juden, Stänkerern, Nörglern und Miesmachern. [...] Der Jude soll
ausgelöscht
werden für immer aus Deutschlands Geschichte, das Miesmacher- und
Stänkerertum
sollen die Flammen wegzehren. Symbolisch wurden nun die Feinde des
dritten
Reiches ins Feuer geworfen“ (Markmiller 1986/87, S. 253).
Wir wissen, was
später geschah: Die propagandistische Gewalt schlug um in tatsächlichen
Terror.
So kündigte das nationalsozialistische Regime im Rahmen von Festen und
Feiern in symbolischen Handlungen sein „politisches Programm“, die
geplante Massenvernichtung in den Konzentrationslagern, an.
Buchenwald (1988): ein Konzentrationslager.
Bericht der ehemaligen Häftlinge Emil Carlebach u. a.. 2. Aufl. Berlin
1988.
Eisler, Hanns (1973): Bericht über die
Entstehung eines Arbeiterliedes. In: Musik und Politik. Schriften
1924–1948. Hg. v.
Günter Meyer. München. S. 274–280.
Fackler, Guido (2000): „Des Lagers Stimme“.
Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern
1933 bis 1936. Bremen.
Kogon, Eugen (1947/1974): Der SS-Staat. Das
System der deutschen Konzentrationslager. Berlin 1947. Neuaufl.
Stuttgart, Hamburg, München 1974.
Das Lagerliederbuch (1980). Lieder, gesungen,
gesammelt und geschrieben im Konzentrationslager Sachsenhausen bei
Berlin 1942. Dortmund 1980.
Lammel, Inge (1975): Das Arbeiterlied.
Leipzig.
Lammel, Inge (1978): Kampfgefährte – unser
Lied. Berlin (DDR).
Lammel, Inge, und Günter Hofmeyer (Hg.) (1962): Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern. Leipzig 1962. (Das Lied – im Kampf geboren, H. 7.)
Langhoff, Wolfgang (1978): Die Moorsoldaten.
13 Monate KZ. Zürich. (1. Aufl. 1935).
Das Lied der Moorsoldaten (2002): 1933 bis
2000. Bearbeitungen, Nutzungen, Nachwirkungen. Hg. vom Dokumentations-
und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager (Papenburg). Papenburg (2
CDs + Textkommentar).
Mall, Volker (1979): Lied im Unterricht: „Die
Moorsoldaten“. In: Musik und Bildung 11 (1979). S. 686–690.
Der Moorsoldat (1978), hg. v. Komitee der
Moorsoldaten, H. 1 u. 2.
Musik in Konzentrationslagern (1991).
Dokumentation der Veranstaltungsreihe Freiburg i. Br., Oktober –
Dezember 1991.
Naujoks, Harry (1987): Mein Leben im KZ
Sachsenhausen 1936–1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten.
Köln.
Probst-Effah, Gisela (1995): Lieder gegen
„das
Dunkel in den Köpfen“. Untersuchungen zur Folkbewegung in der
Bundesrepublik
Deutschland. Essen.
Probst-Effah, Gisela (1995): Das
Moorsoldatenlied. In: Jahrbuch für Volksliedforschung, im Auftrag des
Deutschen Volksliedarchivs hg. von Otto Holzapfel. Jg. 40 (1995). S.
75–83.
Probst-Effah, Gisela (2006): Das
„Moorsoldatenlied“ im Spannungsfeld deutsch-deutscher Ideologien. In:
Musik als Kunst, Wissenschaft, Lehre. Festschrift für Wilhelm Schepping
zum 75. Geburtstag. Hg. v. Günther Noll, Gisela Probst-Effah, Reinhard
Schneider. Münster. S. 384–399.
Probst-Effah, Gisela (2007): Das
Moorsoldatenlied. Zur Geschichte eines Liedes von säkularer Bedeutung. In: Good-bye memories. Lieder im Generationengedächtnis des 20.
Jahrhunderts. Hg. von Barbara Stambolis u. Jürgen Reulecke. Essen. S.
155–173.
Schaul, Dora (Hg.) (1975): Résistance.
Erinnerungen deutscher Antifaschisten. Frankfurt am Main.
Sofsky, Wolfgang (1993): Die Ordnung des
Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt am Main.
Suhr, Elke, und Werner Boldt (1985): Lager im
Emsland 1933–1945. Geschichte und Gedenken. Oldenburg.
Die Moorsoldaten (Originalfassung)
Wohin auch das Auge blicket,
Moor und Heide nur ringsum.
Vogelsang uns nicht erquicket,
Eichen stehen kahl und krumm.
Wir sind die Moorsoldaten
und ziehen mit dem Spaten
ins Moor!
Hier in dieser öden Heide
ist das Lager aufgebaut,
wo wir fern von jeder Freude
hinter Stacheldraht verstaut.
Wir sind die Moorsoldaten...
Morgens ziehen die Kolonnen
in das Moor zur Arbeit hin.
Graben bei dem Brand der Sonne,
doch zur Heimat steht der Sinn.
Wir sind die Moorsoldaten...
Heimwärts, heimwärts jeder sehnet,
zu den Eltern, Weib und Kind.
Manche Brust
ein Seufzer dehnet,
weil wir hier gefangen sind.
Wir sind die Moorsoldaten...
Auf und nieder gehn die Posten,
keiner, keiner kann hindurch.
Flucht wird nur das Leben kosten,
vierfach ist
umzäunt die Burg.
Wir sind die Moorsoldaten...
Doch für uns
gibt es kein Klagen,
ewig kann's nicht Winter sein.
Einmal werden froh wir sagen:
Heimat, du bist wieder mein.
Dann ziehn die Moorsoldaten
nicht mehr mit dem Spaten
ins Moor!
(Lammel/Hofmeyer 1962, S. 14 f.)
Das Moorsoldatenlied – auch „Moorlied“ oder
nach seinem Entstehungsort „Börgermoorlied“ genannt – ist eines der
frühesten
Lieder aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und das
bekannteste
unter mehreren „Moorliedern“ (vgl. Lammel/Hofmeyer 1962, S. 11 ff.). Es
entstand 1933 im KZ Börgermoor bei Papenburg, einem von fünfzehn
Gefangenenlagern
im Emsland, in denen seit dem Beginn der Nazi-Diktatur überwiegend
politische Oppositionelle aus dem Rhein- und Ruhrgebiet – in der
Mehrzahl Kommunisten – inhaftiert waren.
Es war die Aufgabe der Häftlinge, riesige
Moorflächen mit Schaufeln und Hacken, ohne die Hilfe von Maschinen zu
kultivieren: Arbeit in den Konzentrationslagern zielte nicht auf Gewinn
und Nutzen, sondern
bezweckte die Schinderei und Vernichtung von Menschen (vgl. Sofsky
1993,
S. 193 ff.).
Das Moorsoldatenlied wurde im Sommer 1933
anlässlich einer Kulturveranstaltung im Lager, des „Zirkus
Konzentrazani“, verfasst, die die Häftlinge als Antwort auf ein
nächtliches Pogrom der SS inszenierten. Sie beabsichtigten mit ihren
Darbietungen u.a., den SS-Leuten, „den Unterschied zwischen ihrer
eigenen primitiven und der Lebensauffassung ihrer politischen Gegner
vor Augen zu führen“ (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 16).
Der Bergmann und Arbeiterdichter Johann Esser
aus Rheinhausen verfasste sechs Strophen, die der Schauspieler und
Regisseur
Wolfgang Langhoff in ihre heute bekannte Form brachte. Rudi Goguel, ein
kaufmännischer Angestellter mit musikalischer Ausbildung – später war
er als Journalist
und Historiker tätig (Fackler 2000, S. 246) – erfand zu dem Text eine
Melodie und schrieb dazu einen vierstimmigen Satz für Männerchor.
Abends wurde im Waschraum von Block 8 heimlich geprobt, während einige
„Schmiere“ standen und vor herannahenden SS-Leuten warnten.
Am Sonntagnachmittag des 27. August 1933
wurde
das Moorsoldatenlied uraufgeführt. Rudi Goguel und Wolfgang Langhoff
haben
dieses Ereignis eindrucksvoll beschrieben: „Die sechzehn Sänger,
vorwiegend
Mitglieder des Solinger Arbeitergesangvereins, marschierten in ihren
grünen
Polizeiuniformen (unsere damalige Häftlingskleidung) mit geschultertem
Spaten
in die Arena, ich selbst an der Spitze in blauem Trainingsanzug mit
einem
abgebrochenen Spatenstiel als Taktstock. Wir sangen, und bereits bei
der
zweiten Strophe begannen die fast 1000 Gefangenen den Refrain
mitzusummen.
Von Strophe zu Strophe steigerte sich der Refrain, und bei der letzten
Strophe
sangen auch die SS-Leute, die mit ihrem Kommandanten erschienen waren,
einträchtig
mit uns mit [...] Bei den Worten ‚Dann ziehn die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten ins Moor‘ stießen die sechzehn
Sänger
die Spaten in den Sand und marschierten aus der Arena, die Spaten
zurücklassend,
die nun, in der Moorerde steckend, als Grabkreuze wirkten“
(Lammel/Hofmeyer
1962, S. 17).
Nicht nur die Häftlinge, sondern auch die
SS-Leute waren von der Darbietung überwältigt: „Ich sah den
Kommandanten. Er saß
da, den Kopf nach unten und scharrte mit dem Fuß im Sand. Die S.S.
still
und unbeweglich. – Ich sah die Kameraden. Viele weinten“ (Langhoff
1978,
S. 192). Nach der Aufführung des Moorsoldatenliedes soll es zu
politischen
Gesprächen zwischen Häftlingen und SS-Leuten gekommen sein (Langhoff
1978,
S. 195), aber auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen unter der
SS,
die auf das Lied teils begeistert, teils ablehnend reagierte
(Lammel/Hofmeyer
1962, S. 17). Zwei Tage nach der Veranstaltung durfte es nicht mehr
gesungen
werden, aber sogar SS-Leute sollen sich dem Verbot widersetzt haben
(Langhoff
1978, S. 194).
Das Moorsoldatenlied wurde inner- und
außerhalb der nationalsozialistischen Lager und Gefängnisse vor allem
durch entlassene oder in andere Lager und Gefängnisse überführte
Häftlinge, deren Sympathisanten oder auch durch SS-Leute schnell
bekannt. Vermutlich über das Lager Esterwegen gelangte es in das KZ
Sachsenhausen und von dort aus später nach Buchenwald. Aus
Sachsenhausen sind mehrere Liederbücher überliefert, die das „Moorlied“
enthalten. Wolfgang Langhoff emigrierte nach seiner Entlassung aus dem
Konzentrationslager im Jahr 1934 in die Schweiz. 1935 erschien im
Züricher Spiegel-Verlag sein Bericht „Die Moorsoldaten“, der die
Erlebnisse in deutschen Gefängnissen
und Konzentrationslagern schildert. Das Buch, das schon kurz nach der
Veröffentlichung in sieben weitere Sprachen übersetzt wurde, enthält
auch das Moorsoldatenlied und dessen Entstehungsgeschichte.
Das Lied ist in verschiedenen Varianten
überliefert, seine Urfassung nicht bekannt. Textliche und melodische
Abweichungen kamen vermutlich durch Übertragungs- und Erinnerungsfehler
bei dem teils schriftlichen, teils mündlichen Tradierungsprozess
zustande.
Im Ausland wurde das „Moorsoldatenlied“ vor
allem durch Exilanten verbreitet. 1935 lernte der Komponist Hanns
Eisler es während eines Aufenthaltes in London durch einen ehemaligen
Häftling, der ein Polizeispitzel gewesen sein soll (Lammel/Hofmeyer
1962, S. 18), kennen. Er schrieb die
ihm mitgeteilte Melodie für den Sänger Ernst Busch auf, der wiederum
das
Lied mit nach Spanien nahm, wo es während des Bürgerkrieges (1936–1939)
in das Repertoire der Internationalen Brigaden gelangte, so dass
Menschen
vieler Nationalitäten es kennenlernten. Es wurde damals in viele
Sprachen
übersetzt.
Rudi Goguel hat den konkreten musikalischen
Bezug der Originalmelodie zur Situation im KZ Börgermoor betont: „Die
drei gleichbleibenden Töne, mit denen das Lied beginnt, sollten die Öde
des Moores und die schwere Situation charakterisieren, unter der die
Moorsoldaten leben mußten“ (Lammel/Hofmeyer 1962, S. 17). Die
Tonrepetition am Beginn der ersten und dritten Zeile wurde von den
Häftlingen als prägnanter musikalischer Ausdruck ihrer Misere
empfunden. In Eislers Fassung des Liedes sind diese charakteristischen
Tonwiederholungen durch einen Quartschritt ersetzt (vgl.
Lammel/Hofmeyer 1962, S. 18). In
der veränderten Melodie glaubte Eisler u.a. Reminiszenzen an „ein Lied
aus
dem Dreißigjährigen Krieg“ („Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind
weht“)
zu entdecken, und im Wechsel des Refrains nach Dur vermutete er
Anklänge
an „den russischen revolutionären Trauermarsch“ (Eisler 1973, S. 276).
„Horch,
Kind, horch“ wurde jedoch viel später verfasst: Die Melodie zu dem Text
von
Ricarda Huch entstand in der Jugendbewegung. Eislers – irrtümlich oder
beabsichtigt
– fehlerhafte Interpretation (vgl. Mall 1979) steigerte die
geschichtliche
Bedeutsamkeit des Moorsoldatenliedes und trug erheblich zu seiner
ideologisch
verklärten Mythisierung bei. Sein Ursprungsort und Entstehungsanlass
verblassten
zu einer Etappe in dem epochenübergreifenden Geschichtsprozess der
internationalen Arbeiterbewegung.
Der „getarnte revolutionäre“ Gehalt des
Moorsoldatenliedes, den Eisler in seiner Deutung des Liedes hervorhob,
lag vor allem in der
Schlussstrophe, die die Häftlinge, wie man ihm erzählt habe, „mit
besonderer
Wuchtigkeit“ sangen (Eisler 1973, S. 277). Die Wirkung dieser Strophe
beschrieb
ein ehemaliger Buchenwaldhäftling kurz nach der Befreiung: „Das waren
keine
Töne mehr. Das war Hoffnung, das wurde Gewißheit! Das Lied trug uns, es
hat uns fest und zuversichtlich gemacht, damals in den Februartagen
1938
im KZ Buchenwald“ (Musik in Konzentrationslagern. Freiburg im Breisgau
Oktober
– Dezember 1991. S. 67). Die Häftlinge steigerten den verborgenen
oppositionellen
Sinn der Schlusszeilen in ihrer Phantasie in offenen Widerstand. Der
ehemalige
Moorsoldat Heinz Junge erinnert sich, dass im Lager Börgermoor bei der
Textstelle
„Dann ziehn die Moorsoldaten nicht mehr mit dem
Spaten“
auf die Holzfußböden in den Baracken mit dem Fuß fest aufgestampft
worden
sei. Die „Moorsoldaten“ hätten die Spaten, die sie bei der Arbeit im
Moor
benötigten, geschultert – wie Gewehre – getragen (Interview vom
6.7.1990).
Eugen Kogon teilt eine Textvariante des Schlussrefrains, die im KZ
Buchenwald
heimlich kursierte, mit: „Dann zieh'n die Moorsoldaten / Gewehre statt
der
Spaten [...]“ (Kogon 1974, S. 106). Dem Zukunftsoptimismus in der
Schlussstrophe
des Moorsoldatenliedes lag die Überzeugung zugrunde, dass die dunkle
Gegenwart
eine überwindbare Phase der Geschichte sei, die die Beteiligten nicht
„als
‚Opfer‘ des SS-Terrors, nicht als Leidende, sondern als Kämpfer“
herausfordere
(Buchenwald 1988, S. 111). Diese Gewissheit wirkte ermutigend und
rettete
davor, in Gefühle der Isolation, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht zu
versinken.
Es ist dokumentiert, dass das
„Moorsoldatenlied“ in den Konzentrationslagern einen festen rituellen
Bestandteil bildete:
Als Häftlinge des KZ Sachsenhausen im Frühjahr 1937 glaubten, Carl von
Ossietzky sei gestorben, veranstalteten sie eine Gedenkfeier, die sie
mit dem Moorsoldatenlied einleiteten (Naujoks 1987, S. 51;
Lammel/Hofmeyer 1962, S. 49). Heinz Junge erinnert sich, dass das Lied
im KZ Börgermoor regelmäßig am Ende von „bunten Abenden“ „zur Hebung
der Kampfmoral“ gesungen worden sei (Interview Junge vom 6.7.1990). Es
erklang auch als feierlicher Abschluss von Veranstaltungen im KZ
Sachsenhausen (Naujoks 1987, S. 49; Lammel/Hofmeyer 1962, S. 48).
Man sang das Moorsoldatenlied als demonstrativen Gegensatz zu den
Pflichtgesängen stehend; es sollte für außergewöhnliche Anlässe
aufbewahrt bleiben: „weil es uns besonders wertvoll war“
(Lammel/Hofmeyer 1962, S. 17).
Um neu eingetroffene Häftlinge zu ermutigen,
gab es in den frühen Emslandlagern ein Begrüßungszeremoniell: „Leitete
die SS die beabsichtigte Einschüchterung der Gefangenen mit einem
‚Prügelempfang‘ ein, so setzten die Gefangenen ein eigenes Willkommen
dagegen: Wenn die
Neuankömmlinge abends müde und zerschunden in ihre Betten gekrochen
waren,
wurden sie mit dem – leise gesummten – Moorsoldatenlied oder einem
vertrauten
Arbeiterlied begrüßt. Sodann machte sie ein illegaler ‚Lagersender‘ –
eine
anonyme Stimme aus dem Dunkeln – mit überlebensnotwendigen
Gepflogenheiten
des Lageralltags bekannt“ (Suhr/Boldt 1985, S. 41).
Der Neuankömmling im Konzentrationslager
erlebte die Aufnahmeprozedur als „einen Prozeß tiefster persönlicher
Erniedrigung und Entwürdigung [...] Nackt wurde er durch den Abgrund
gejagt, der die
‚Welt draußen‘ und diese ‚Welt drinnen‘ unüberwindbar trennte“ (Kogon
1947,
S. 337). „Wüste Beschimpfungen, Schläge mit Peitschen, Knüppeln und
Gewehrkolben,
Quälereien wie Kniebeugen, Liegestütze, Hinwerfen in Schmutzpfützen
sollten
vom ersten Augenblick an den Gefangenen erniedrigen, seinen Willen
brechen,
ihn zum Arbeitsvieh machen“ (Buchenwald 1988, S. 14). In dieser Welt
des
Terrors gab es jedoch einige, die den unerfahrenen, desorientierten
Neuankömmlingen freundlich begegneten und ihnen Hilfe anboten.
Aus den Erinnerungen des ehemaligen Häftlings
Heinz Junge (Interview vom 6. Juli 1990):
Heinz Junge, Mitglied der KPD, wurde im Mai
1933 erstmals festgenommen worden, im August wurde er verhaftet. Er kam
ins Gefängnis und danach ins KZ Börgermoor, danach – 1934/35 – nochmals
eineinhalb Jahre ins Gefängnis. 1936 emigrierte er nach Holland. Dort
wurde er 1939 auf einer Insel interniert. Als die Nationalsozialisten
in Holland einmarschierten, wurde Junge an die Deutschen ausgeliefert.
1940 kam er ins Konzentrationslager Sachsenhausen, 1945 nach Mauthausen
und das KZ Ebensee in Österreich. 1945 wurde er von den Amerikanern
befreit. – In einem Gespräch erinnerte sich
Heinz Junge an die Ankunft im KZ Börgermoor vor 57 Jahren und an die
Wirkung
des Moorsoldatenliedes, das er damals zum ersten Mal hörte:
„Ich wurde am 19. September 1933 vom
Dortmunder Polizeigefängnis aus gemeinsam mit ca. achtzig weiteren
Häftlingen auf Transport geschickt. Wir wurden in Viehwaggons
befördert, Polizeibeamte bewachten
uns. – In Papenburg mussten wir aussteigen, nun übernahmen SS-Leute die
Bewachung. Im Dunkel tauchten sie auf mit ihren Totenkopfmützen und den
schweren Uniformen. Jede Diskussion, die es noch vorher im Wagen
gegeben
hatte, erstarb... Dem einen oder anderen unter uns wurde es beklommen
ums
Herz. – Die SS prügelte uns aus den Waggons heraus. Wir wurden in große
Loren verladen und ins KZ Börgermoor gebracht. Das Moor wirkte in der
Dunkelheit
unheimlich und öde. Es gab dort weder Bäume noch Sträucher. Wenn man
heute
durchgeht, sieht man blühende Gärten; wir haben damals das Gebiet urbar
gemacht. – Als wir im Lager ankamen, war der Eingang erleuchtet.
SS-Leute
standen am Weg. Wir mussten uns aufstellen, abzählen, es gab die ersten
Schläge. – Wir wurden in die Baracken geschickt. Mir wies man die
Baracke
4 zu. Als ich dort ankam, brannte Licht [...] Der Barackenälteste gab
mir
Essen und brachte mich danach in den Schlafsaal. Dort brannte nur eine
Notleuchte.
Es herrschte Ruhe, nur hier und da hörte ich ein wenig Geflüster. Mein
Begleiter
zeigte mir mein Bett und meine Uniformjacke und wies mich in die neue
Umgebung
ein. Als er weggegangen war, ertönte von irgendwoher eine Stimme:
‚Kameraden!
Ich begrüße hiermit die Neuen, die heute gekommen sind. Wir nehmen sie
sofort
und ohne Bedenken in unsere Kameradschaft auf. Wir erwarten, dass sich
alle
dieser Kameradschaft würdig erweisen. Wir machen darauf aufmerksam,
dass
sich keiner durch Verrat bei der SS Vorteile verschaffen darf [...]‘
Wir
bekamen noch einige weitere Informationen. Dann sagte die Stimme: ‚Ihr
werdet
jetzt unser Moorlied hören.‘ Nun sang an einer anderen Stelle des
Raumes
jemand das Moorlied zur Klampfe. Wir erfuhren später, wer der Sänger
war,
aber damals in der Nacht konnten wir ihn nicht erkennen. Man muss sich
unsere
Stimmung vorstellen: Wir waren todmüde, in Not, in Furcht vor dem
Kommenden.
Und dann singt einer das Moorlied!“
Nach 1945 gehörte das „Moorsoldatenlied“ in
der SBZ bzw. DDR zum offiziell geförderten und gepflegten
Liedrepertoire. Es
gab dort ein großes – wenn auch eigennütziges – Interesse an der
Bewahrung
und Pflege von Liedern, in denen sich Widerstand gegen die Obrigkeit
artikulierte. Insbesondere in der Bearbeitung Eislers diente das
„Moorsoldatenlied“ „ideologisch umgedeutet, dem realsozialistischen
Staat zur Bekräftigung seines antifaschistischen Gründungsmythos“
(Fackler 2000, S. 263).
Der Besitzanspruch der DDR gegenüber
demokratischen kulturellen Traditionen erscheint nicht gänzlich
unbegründet: Viele der
vom NS-Regime Verfolgten fanden nach einem langen Leidensweg ihre
politische
Heimat in der DDR. Nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ sorgten
Verlage
durch die Veröffentlichung von Büchern und Schallplatten für die
baldige
Verbreitung des demokratischen Kulturerbes. Seit 1954 sammelte und
publizierte
das Arbeiterliedarchiv der Akademie der Künste politische Lieder, und
zahlreiche
Singegruppen und Chöre betrachteten die Pflege solcher Lieder als ihre
zentrale
Aufgabe.
Ein Teil der politischen Lieder wurde in der
DDR unter den Begriff „Arbeiterlied“ subsumiert. Das „revolutionäre
Arbeiterlied“ definierte Inge Lammel als die „Erscheinungsform einer
bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsetappe“ und ein
„Kampfinstrument der Arbeiter gegen das kapitalistische
Herrschaftssystem“ (Lammel 1975, S. 13). Als konstitutiv für das
Arbeiterlied galt seine „oppositionelle Stellung zur herrschenden,
kapitalistischen Gesellschaftsordnung" (Lammel 1975, S. 14). Zu fragen
ist, wie seine Rolle innerhalb des sozialistischen Systems, eines
Systems, dem die Überwindung des Kapitalismus und der damit verbundenen
Unterdrückung theoretisch vorausgeht, interpretiert wurde. Dazu Lammel:
„Die Lieder der Arbeiter sind seitdem nicht mehr Kampfmittel einer
unterdrückten Klasse gegen eine Klasse von Ausbeutern; sie stehen nicht
mehr in Opposition zur herrschenden Staatsmacht; in ihnen kommen
vielmehr
die gemeinsamen Interessen von Partei, Regierung und
werktätigem Volk beim Aufbau des Sozialismus zum Ausdruck“ (Lammel
1978, S. 141).
Demnach manifestierten sich in den Liedern
nicht gegenwärtige Konflikte, sondern die Kämpfe der Vergangenheit,
nicht Gegensätze im eigenen Land, sondern nur im Machtbereich des
politischen Gegners. Wo
die ehemaligen gesellschaftlichen Antagonismen für aufgehoben erklärt
wurden, konnten sich Protest und Widerstand „von unten“ nicht mehr
artikulieren,
weil es das „Unten“ nicht mehr gab bzw. seine Existenz in den
offiziellen
Verlautbarungen geleugnet wurde. Selbstverständlich zeigte sich, dass
die
öffentlich proklamierte Übereinstimmung von Volkskultur und staatlicher
Kultur
Propaganda war und der Realität nicht entsprach.
Viele Lieder aus demokratischer Tradition
wurden als historische Monumente ohne einen politischen Gegenwartsbezug
behandelt. Oft wurden sie in großer Besetzung und pompöser Aufmachung
dargeboten, dadurch feierlich überhöht und in eine irreale Ferne
gerückt. Ihrer politischen
Brisanz wurden sie auf diese Weise beraubt.
Die Situation des Kalten Krieges zwischen Ost
und West bestimmte lange Zeit das Verhältnis zu Teilen der
musikalischen Tradition. In vielen Kreisen der Bundesrepublik stieß auf
Misstrauen und Ablehnung,
was in der DDR von Staat und Regierung gefördert wurde. So begegnete
auch
das „Moorsoldatenlied“ in der BRD starken Ressentiments, als ein
angeblich
„antifaschistisches Pflichtlied der DDR“ war es verpönt und außer in
den
Kreisen der ehemaligen KZ-Häftlinge kaum bekannt. In Schulbüchern war
es
noch bis zum Ende der siebziger Jahre nur selten zu finden. Populär
wurde
das Lied in der BRD erst durch die Folk- und Liedermacherszene seit dem
Ende
der sechziger Jahre. Als es in deren Repertoire gelangte, kannten viele
nicht
einmal seine Herkunft aus den deutschen Konzentrationslagern. In den
siebziger
Jahren gehörte das Lied zum Standardrepertoire der Folksänger.
Adamek, Karl (1981): Lieder der
Arbeiterbewegung. Frankfurt am Main.
Bonson, Manfred (1981):. USA: Lieder der
Bürgerrechtsbewegung. In: Folk, Folklore, Volkslied. Zur Situation in-
und ausländischer Volksmusik in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. von
Monika Tibbe u. Manfred Bonson. Stuttgart. S. 95-112.
„Bürgerrechtsbewegung“. In: Wikipedia (Stand:
9. Dezember 2008).
Kleff, Michael (1999): Pete Seeger. Eine
Legende wird 80 Jahre. In: „Folker!“ Nr. 2/99. S. 6 ff.
„Montgomery Bus Boycott“. In: Wikipedia (Stand: 29. Dezember 2008).
Moosbrugger, Daniel (2004): Die amerikanische
Bürgerrechtsbewegung. „Schwarze Revolution“ in den 1950er und 60er
Jahren. Stuttgart.
Reimers, Astrid (2006/07): Zwei bekannte
Kölner Karnevalslieder, In: ad marginem 78/79 (2006/07), S. 3–9.
„Rosa Parks“. In: Wikipedia
(Stand: 5. Januar 2009).
„We shall overcome“. In: Wikipedia (Stand: 8. Dezember 2008).
Zwischen 1619-1865 wurden
ca. 15 Millionen Afrikaner nach Nordamerika zwangsverfrachtet, um als
Sklaven zu arbeiten.
Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung (1776) gab es in den Vereinigten Staaten mehr als
460 000 Sklaven. Die nördlichen Bundesstaaten, in deren
Wirtschaftsleben die Sklaven nie
eine große Rolle gespielt hatten, begannen bald, die Sklaverei
abzuschaffen
– ein Prozess, der sich allerdings als langwierig erwies und in einigen
Fällen
erst 1865 abgeschlossen wurde. In den Südstaaten, wo
die
Sklaverei mit der expandierenden Wirtschaft unauflösbar verbunden war,
wuchs
die Zahl der Sklaven bis 1865 auf mehr als vier Millionen an.
1861-65 Amerikanischer Bürgerkrieg bzw.
Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten, verursacht vor allem
durch den Gegensatz in der Frage der Sklaverei. Der Krieg wurde
ausgelöst durch die Wahl von
Abraham Lincoln, der sich für die Sklavenbefreiung einsetzte, zum
Präsidenten
der USA. In ihm unterlagen schließlich die elf Südstaaten, die aus der
Union
ausgetreten waren und sich unter dem Präsidenten Davis gegen die
Nordstaaten
zusammengeschlossen hatten. Die Abschaffung der Sklaverei wurde im
Anschluss
an den Krieg in der Verfassung verankert. Die Schwarzen erhielten das
aktive
und passive Wahlrecht. Dennoch blieben die Afroamerikaner vor allem in
den
Südstaaten weiterhin unterdrückt. In vielen Bereichen (z. B. in
Schulen,
Universitäten, Restaurants, Kinos, Krankenhäusern, öffentlichen
Verkehrsmitteln
und Gebäuden) wurden sie ausgegrenzt.
1865/66 wurde die weiße Terrororganisation
Ku-Klux-Klan gegründet.
1896
wurde die Segregation in einem Urteil des Obersten Gerichthofs
legitimiert.
Es erklärte getrennte Einrichtung für verfassungsgemäß, solange sie von
gleicher Qualität seien. (Tatsächlich jedoch waren die Einrichtungen
für Schwarze
immer schlechter ausgestattet.)
Seit dem Anfang des 20.
Jahrhunderts setzte sich die Bürgerrechtsbewegung in den USA für
die Gleichberechtigung der Afroamerikaner und die Überwindung des
Rassismus ein. Es wurde aber
auch von Schwarzen die Ansicht vertreten, die afroamerikanische
Bevölkerung
müsse die bestehenden Unterschiede hinnehmen, bis eine Verbesserung
ihrer
wirtschaftlichen Lage erreicht sei. Andere Gruppen propagierten u. a.
die
kollektive Auswanderung nach Afrika.
1909
Gründung der NAACP (National Association for the Advancement of Colored
People),
die bis in die Gegenwart eine zentrale Organisation der amerikanischen
Bürgerrechtsbewegung ist.
Mitte der 1950er Jahre nahmen die Proteste nach einem erfolgreichen
mehr als ein Jahr dauernden Busboykott in Montgomery (Alabama) zur
Aufhebung
der Rassentrennung zu. Unter der Führung des Baptistenpfarrers Martin
Luther
King (1929–1968) entwickelte sich eine gewaltlose Massenbewegung, die
mit
Mitteln des zivilen Ungehorsams und friedlichen Protests (beeinflusst
von
Mahatma Gandhi) ihre Ziele zu erreichen versuchte. Es kam in der Folge
zur
Aufhebung der institutionellen Segregationspolitik in den Südstaaten.
1957
verwehrte eine aufgebrachte Menschenmenge in Little Rock (Arkansas)
neun
schwarzen Schülern den Zugang zu der bis dahin ausschließlich von
Weißen
besuchten Central High School. Der Gouverneur von Arkansas weigerte
sich,
den Schülern Zugang zu der Schule zu verschaffen. Unter dem Druck einer
großen
Öffentlichkeit sah sich Präsident Eisenhower gezwungen, den schwarzen
Schülern
Schutz und Zugang zu der Schule zu verschaffen.
1961
Beginn der Freedom Rides, Busfahrten über die Grenzen von Bundesstaaten
in
Staaten, in denen die Rassentrennung juristisch zwar aufgehoben war,
faktisch
jedoch noch existierte. Die Freedom Rides führten zu vielen
Gewaltaktionen
weißer Rassisten, die durch die Berichterstattung der Medien eine
breite
Öffentlichkeit fanden.
1963
fanden in Birmingham (Alabama) wochenlange Demonstrationen statt, bei
denen
die Gewalt der Polizei – vor allem auch gegenüber Kindern – die
Öffentlichkeit schockierte. Präsident Kennedy und große Teile der
US-amerikanischen Bevölkerung unterstützten nun die Bewegung von Martin
Luther King.
Im Sommer 1963 fand ein
„Marsch auf Washington“ statt, an dem 250 000 Schwarze und Weiße
teilnahmen. Präsident Kennedy hatte versprochen, ein Bürgerrechtsgesetz
zugunsten der Schwarzen in den Kongress einzubringen. Als Höhepunkt der
Veranstaltung gilt Kings
berühmte Rede „I have a dream“.
1964
trat die Bürgerrechtsgesetzgebung in Kraft. Im selben Jahr wurde Martin
Luther King der Friedensnobelpreis verliehen.
Am Sonntag, den 7. März 1965,
der als „Bloody Sunday“ berüchtigt wurde, fand ausgehend von Selma
(Alabama)
eine Demonstration mit ca. 600 Teilnehmern statt. Es ging um die
Beseitigung
von Diskriminierung beim Wahlrecht. Damals griff Polizei die
friedlichen
Demonstranten brutal an. In den folgenden Tagen ermordeten
extremistische
Weiße mehrere Schwarze. Die Gewalt rief erneut heftige Reaktionen in
der
Öffentlichkeit hervor. Präsident Johnson setzte sich für das neue
Wahlrechtsgesetz
ein.
Ab Mitte der 1960er Jahre spaltete sich die Black Power-Bewegung unter
Malcolm X ab, die radikaler und militanter auftrat. Zu dieser Gruppe
gehörte auch Angela Davis. Die Black Panther Party wurde 1966
gegründet. Ihre Anhänger versuchten, Strategien des Befreiungskampfes
mit revolutionären Zielsetzungen zu verbinden. Der gewaltlose
Widerstand Martin Luther Kings wurde von einem Teil der
Bürgerrechtsbewegung abgelehnt.
1965
Ermordung von Malcolm X.
1968
fiel Martin Luther King einem Attentat zum Opfer.
Die Bürgerrechtsbewegung in den USA war – wie
auch später der Protest gegen den Vietnamkrieg – eng verbunden mit der
Folksongbewegung. Im Zusammenhang mit ihr entstanden zahlreiche Lieder,
die den Rassismus
in den USA thematisieren. „Folksingers“ wie Pete Seeger, Joan Baez, Tom
Paxton, Bob Dylan, Phil Ochs und Judy Collins engagierten sich für die
Sache
der Bürgerrechtler.
Der Schweizer Volkskundler
Eduard Strübin (1914–2000) hat einmal von der „mondialen Folklore“
gesprochen.
Diese Charakterisierung trifft zu auf das Lied „We shall overcome“, das
weltweit populär wurde und zahlreiche demokratische Protestbewegungen
begleitete. In der Ostermarschbewegung und bei den Aktionen der 1960er
Jahre gegen die Notstandsgesetze wurde das Lied auch in Deutschland zur
Artikulation von Widerstand gesungen. In den verschiedenen Situationen
wurde der Wortlaut oft
verändert, aktualisiert.
Man vermutet u.
a., dass „We shall overcome“ auf einen Gospelsong mit der Textzeile
„Deep in my heart, I do
believe, I’ll overcome some day“ zurückgeht. Sie soll 1946 von streikenden
Arbeitern der American Tobacco Company – vor allem von
afroamerikanischen Frauen – in Charleston (South Carolina) gesungen
worden sein.
Es heißt, die Musikerin und
Aktivistin der Bürgerrechtsbewegung Zilphia Horton (1910-1956) habe
Pete Seeger eine Version des Liedes beigebracht. Der veränderte es,
fügte u. a. weitere Verse hinzu („We’ll walk hand in hand, The whole
wide world around“). Danach wurde das Lied von verschiedenen Sängern
adaptiert und es avancierte zu einer Art Hymne der Gewerkschafts- und
der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der US-Südstaaten. Gesungen
wurde das Lied auch bei den Protestmärschen
von Selma nach Montgomery, die als „Bloody Sunday“ in Erinnerung
geblieben
sind. „Seit 1963 wurde das Lied mit Joan Baez assoziiert, die es
aufnahm
und auf einer Anzahl Bürgerrechtsdemonstrationen sowie Jahre später
1969
auf dem Woodstock-Festival aufführte“ („We shall overcome“, in:
Wikipedia).
In einer spanischen Version
wurde das Lied in den 1960er Jahren auch von mexikanischen Erntehelfern
in den
USA gesungen. In Südafrika begleitete es die Anti-Apartheidsbewegung.
In
Indien wurde und wird noch immer eine Fassung in Hindi gesungen.
Weitere
Versionen gibt es u. a. in Bangladesch. In der linksgerichteten
bundesrepublikanischen Folkbewegung und in der Friedensbewegung wurde
der Song sehr populär und er tauchte in zahlreichen Liederbüchern auf.
Der Song wurde geschrieben von Charles
Neblett
von den „Freedom Singers“ auf die Melodie von „O Mary don’t you weep“.
U.
a. trat Pete Seeger mit diesem Lied hervor.
1. If
you miss me at the back of the bus, you can find me nowhere, oh,
come
on
over to the front of the bus, I’ll be riding up there.
I’ll
be
riding up there, I’ll be riding up there, oh,
come on
over
to the front of the bus, I’ll be riding up there.
2. If
you miss me on the picket line, you can find me nowhere, oh,
come
on
over to the city jail, I’ll be rooming over there.
I’ll
be
rooming over there, I’ll be rooming over there, oh,
come on
over
to the city jail, I’ll be rooming over there.
3. If
you miss me in the Mississippi River, you can find me nowhere,
come
on
over to the swimming pool, I’ll be swimming right there.
I’ll
be
swimming right there, I’ll be swimming right there, oh,
come on
over
to the swimming pool, I’ll be swimming right there.
4. If
you miss me in the cotton field, you can find me nowhere, oh,
come
on
over to the courthouse, I’ll be voting right there.
I’ll
be
voting right there, I’ll be voting right there, oh,
come on
over
to the courthouse, I’ll be voting right there.
Dieser Song existiert in vielen Varianten.
Wie
viele andere politische Lieder wurde er oft verändert, und es wurden
Zusatzstrophen verfasst, um ihn an unterschiedliche Situationen und
Ereignisse anzupassen.
Das Lied bezieht sich auf einen von Rosa
Parks ausgelösten
Busboykott. Rosa Parks (1913–2005), die vielen Amerikanern als „Mutter“
der
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gilt, weigerte sich am 1. Dezember
1955
in Montgomery (Alabama), ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen
Fahrgast
frei zu machen. In Montgomery war die Rassentrennung stark ausgeprägt;
so
gab es z. B. Schulen, Parkbänke oder Aufzüge mit dem Hinweis „Whites
only“ oder „Coloreds only“. Mancherorts durften Afroamerikaner die
Schwimmbäder nicht benutzen (s. Liedtext) oder sie wurden in
Restaurants nicht bedient. Oder sie waren bei Wahlen benachteiligt –
die vierte Strophe des Liedes
spielt darauf an.
In Montgomery waren in den Bussen die
vorderen Sitzplätze
für Weiße reserviert, sie durften von Afroamerikanern nicht benutzt
werden,
selbst wenn sie bei Überfüllung leer blieben. Die schwarze Bevölkerung
wurde
in den hinteren Teil des Busses verbannt. Im mittleren Abschnitt
durften zwar
Schwarze sitzen, sie mussten jedoch eine komplette Reihe räumen, sobald
ein
weißer Passagier hier Platz nehmen wollte. Das geschah am 1. Dezember
1955: Ein weißer Fahrgast verlangte die Räumung der Sitzreihe, in der
Parks saß.
Sie weigerte sich, den Platz frei zu machen, woraufhin der Busfahrer
die
Polizei rief. Wegen Störung der öffentlichen Ruhe wurde Parks
verhaftet, angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Martin Luther
King, damals
ein noch ziemlich unbekannter Baptistenprediger, organisierte den
Montgomery
Bus Boycott, der später dazu führte, die Racial Segregation in Bussen
und
Zügen aufzuheben (vgl. „Rosa Parks“, in: Wikipedia). Es wurde die
„Montgomery
Improvement Association“ gegründet und King zu ihrem Vorsitzenden
gewählt.
Am Abend des 5. Dezember 1955 hielt er vor 7000 Zuhörern in der Holt
Street
Baptist Church eine Rede, die die Fortsetzung des Boykotts ankündigte.
Die
Forderungen lauteten: respektvolle Behandlung, gleiche Rechte für alle
Fahrgäste
und die Einstellung von schwarzen Busfahrern (vgl. „Montgomery Bus Boycott“, in:
Wikipedia).
Parks’ mutiges Verhalten wurde zum Auslöser
jahrelanger Proteste gegen Rassentrennungsgesetze und markierte den
Anfang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Als Parks zu
einer Geldstrafe verurteilt wurde, boykottierte die schwarze
Bevölkerung 381 Tage lang die Buslinien
von Montgomery. Sie wurde dazu aufgerufen, Fahrgemeinschaften zu
bilden,
Taxis (schwarzer Taxiunternehmen) zu benutzen (zu einem besonders
niedrigen
Preis) oder zu Fuß zu gehen. Die Teilnahmequote lag bei fast 100
Prozent.
Der Boykott setzte die Stadt Montgomery ökonomisch stark unter Druck
(vgl.
„Montgomery Bus
Boycott“,
in: Wikipedia).
Im Dezember 1956 legte der Oberste
Gerichtshof
fest, die Rassentrennung in den Bussen wegen Verfassungswidrigkeit
einzustellen. „Der Montgomery Bus Boycott war einer der entscheidenden
Siege, die der
Bürgerrechtsbewegung zum Durchbruch verhalfen und Martin Luther King
weltweit
bekannt machte[n]“ („Montgomery Bus Boycott“, in: Wikipedia).
1966 erhielt Parks die Freiheitsmedaille des
US-Präsidenten, 1999 die Goldmedaille des Kongresses, die höchste
zivile Auszeichnung der USA. Nach ihrem Tod 2005 soll Rosa Parks – so
beschloss es der US-Senat
– als erste Afroamerikanerin mit einer Statue im Kapitol geehrt werden.
Zur
Wirkung der Songs „We shall overcome“ und „If you miss me at the back
of the bus“
Die Frage, ob – und evtl. wie – ein Lied politisch wirken oder gar politische Veränderungen bewirken kann, stellt sich u. a. Zusammenhang mit den beiden besprochenen Songs aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Vor allem wäre die weltweite Verbreitung des Liedes „We shall overcome“ nicht möglich, wenn es in politischen Auseinandersetzungen nur musikalisches Beiwerk gewesen wäre. Ausgehend von dem amerikanischen Civil Rights Movement avancierte „We shall overcome“ zu einem musikalischen Symbol von Widerstandsbewegungen.
„We shall overcome“ eignet sich relativ gut
für Übertragungen auf verschiedene Situationen, weil seine Textaussage
allgemein gehalten ist. „If you miss me in the front of the bus“
bezieht sich hingegen auf ein konkretes Ereignis und ist ohne
Textänderungen kaum transferierbar.
Die politische Wirkung von Liedern umschreibt
Astrid Reimers in einem Aufsatz mit dem der Psychologie und Soziologie
entstammenden Begriff „Empowerment“: „Empowerment
bedeutet einen Prozess, in dem eine Gruppe von Menschen hinsichtlich
ihrer politischen Artikulation gestärkt wird. Empowerment soll zum
Beispiel durch gemeinsame Arbeit und
gemeinsame Erfahrungen eine Dynamik zur Selbstmotivation auslösen,
indem
auch die Erfahrung vermittelt wird, dass wir unserem gesellschaftlichen
Umfeld
nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern uns artikulieren, uns
politisch
beteiligen und etwas bewirken können.“ Das Hören und Mitsingen von
Liedern
haben – abhängig von der Situation, in der gesungen wird – eine solche
Empowerment-Wirkung“ (Reimers 2006/07, S. 8 f.).
Bönisch-Brednich, Brigitte (2002). „Karl
Plenzat“. In: Rolf W. Brednich et al (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch
zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 10.
Ist ursprünglich ein litauisches Lied aus dem
19. Jahrhundert. 1917 übersetzte Karl Plenzat es ins Deutsche. Laut
Auskunft des DVA Freiburg konnte die litauische Vorlage nicht gefunden
werden.
Karl Plenzat wurde 1882
geboren und starb im Februar 1945. Er war Pädagoge und Volkskundler. In
den Jahren zwischen 1905 und 1926 war er an verschiedenen Schulen
tätig. Parallel dazu absolvierte er nach dem Ersten Weltkrieg an der
Königsberger Universität ein Studium der Germanistik, Anglistik,
Philosophie und Pädagogik. Seit
1926 war er Dozent, dann Professor für Deutsch und Volkskunde. Seit
1935
hatte er einen Lehrauftrag am Institut für Heimatforschung und
Volkskunde
der Universität Königsberg; seit 1938 war er Professor für Volkskunde
an
einer Hochschule für Lehrerinnenbildung. Plenzats Interesse galt
besonders
dem Sammeln von mündlichen Überlieferungen: Volksliedern und
Erzählungen
(Sagen, Märchen, Schwänken) (vgl. Bönisch-Brednich 2002).
Das Lied „Zogen einst
fünf
wilde Schwäne“ wurde nach dem Erscheinen von Plenzats Sammlung
„Liederschrein“
1918 in ganz Deutschland bekannt. Den Text verfasste der Autor inmitten
des
Ersten Weltkrieges. Dies weckt die Vermutung, dass seine Gesinnung
damals
eher pazifistisch als militaristisch gewesen sei. Andererseits gibt es
Hinweise darauf, dass Plenzat später dem Nationalsozialismus nahe stand.
Zum Inhalt: Der Krieg wird außer in der
dritten Strophe („junge Burschen“, Kampf) nur verschlüsselt
thematisiert. In der ersten Strophe erscheint das Bild des Schwans mit
„leuchtend weißem“ Gefieder. Seit der griechischen Antike ist der
Schwan ein wichtiges Symboltier. Oft galt er als Sinnbild „edler
Reinheit“. Gelegentlich wird er als Gegenspieler und Feind des Adlers
und auch der Schlange bezeichnet (s. Knaurs Lexikon
der Symbole). „Der berühmte ‚Schwanengesang’ [...] geht auf die schon
bei
Aischylos [...] erwähnte prophetische Gabe des Apollo-Vogels zurück,
der
von seinem nahen Tod weiß und [...] Klagelaute hören lässt“ (Ebd.).
Birken am Bachesrand: ein Naturbild, das den
Frühling assoziieren lässt. Die Birke mit ihren hellgrünen Blättern und
dem weißen Stamm symbolisiert Lebensfreude, Frühling u.ä.; Birkenzweige
spielen z.
B. in Maibräuchen eine Rolle.
Die beiden Anfangsstrophen thematisieren die
Natur (Schwäne, Birken), die dritte und vierte Menschen (Burschen,
Mädchen). Durch den Anfangsvers jeder Strophe sind jedoch einerseits
die erste und dritte, andererseits die zweite und vierte miteinander
verbunden („Zogen einst...“; „Wuchsen einst...“).
Der „Handlungszusammenhang“ der Strophen ist
vage. Die Strophen zeigen Anklänge an einen Dialog, in dem über ein
Ereignis andeutungsweise berichtet wird: Auf die Frage: „Sing, sing,
was geschah?“ erfolgt jeweils eine Antwort, die nur die Folgen eines
Ereignisses, das jedoch ausgespart bleibt, nennt: „Keiner ward mehr
gesehen“; „Keines in Blüten stand“; „Keiner kehrt mehr nach Haus“;
„Keines den Brautkranz wand“. Die Schlusszeilen drücken jeweils
Verlust, Trennung, zerstörte Jugend und Zukunft aus. Die eindringliche
Wirkung ist u. a. auf die Wiederholung von Textzeilen zurückzuführen.
(Die Bedeutung der Zahl „Fünf“ blieb unklar.)
Dieses Lied wurde von vielen verschiedenen
Gruppierungen gesungen: einerseits von Vertriebenenverbänden – dies vor
allem wegen des Bezugs zur Memel bzw. dem Memelland in Ostpreußen;
andererseits fand das
Lied Anklang in der eher politisch links orientierten Folkbewegung der
siebziger Jahre.
Literatur
Kleff, Michael (1999): Pete Seeger wird 80!
Überleben mit kultureller Guerillataktik. In: Folker! Magazin für Folk,
Lied und Weltmusik 2/99. S. 6–9.
„Sag mir, wo die Blumen sind“. In: Wikipedia
(Stand: 19.11.2008).
Siniveer, Kaarel (1981): Folk Lexikon. Art.
„Seeger, Pete“. Reinbek bei Hamburg. S. 238–241.
Es wird behauptet, dass sowohl „Zogen einst
fünf wilde Schwäne“ als auch „Where have all the flowers gone“ von
einem Lied in Michail Scholochows (1905–1984) Roman „Der stille Don“
inspiriert worden seien (vgl. „Sag mir, wo die Blumen sind“,
Wikipedia). Dieses enthalte die folgenden Zeilen:
Where are the flowers,
The girls have plucked them.
Where are the girls,
They’ve all taken husbands.
Where are the men?,
They’re all in the army.
Diese Behauptung wird von Seegers Version der
Entstehungsgeschichte des Liedes „Where have all the flowers gone“
unterstützt: Seeger erinnert sich daran, dass er im Oktober 1955 auf
dem Weg zu einem Konzert in einem Flugzeug gesessen und in seiner
Tasche ein Notizbuch mit der Niederschrift von drei Versen gefunden
habe, die er sich bei der Lektüre von Michail Scholochows Roman „Der
stille Don“ notiert hatte. Angeblich entstammten die Zeilen einem
ukrainischen Volkslied, nach dem er lange Zeit vergeblich gesucht habe.
Dieses Liedfragment verband er mit weiteren textlichen und
musikalischen
Bruchstücken aus seiner Erinnerung. 1956 entstand die erste Aufnahme
des
Liedes bei Folkways. Ein Jahr später hörte Seeger auf, dieses Lied zu
singen,
weil es ihm wenig erfolgreich erschien (Vgl. „Where have all the flowers
gone?“).
Joe Hickerson, ein bekannter amerikanischer
Folksinger, Ethnomusikologe, Archivar, Bibliothekar und Leiter des
Archive of Folk Song/Culture at the Library of Congress (Washington
D.C.), griff es jedoch (anscheinend Jahre) später auf und fügte zwei
Verse hinzu. Nun interessierten sich mehrere Musikgruppen dafür,
darunter das Kingston Trio und Peter, Paul & Mary. Erst jetzt wurde
der Song international erfolgreich (Vgl. „Where have all the flowers
gone?“).
Zu Form und Inhalt des Liedes: Mehrere Zeilen
stimmen in allen Strophen überein. In den übrigen Versen dominiert
ebenfalls das
Wiederholungsprinzip. Der Text hat die Form eines Kettenliedes, bei dem
sich
der Anfang jeder Strophe aus dem Schluss der vorangehenden Strophe
ergibt: Blumen – Mädchen; Mädchen – Männer; Männer – Krieg; Soldaten –
Gräber; Gräber
– Blumen. Der Schluss kehrt zum Anfang zurück, so dass das Lied
unendlich weitergesungen werden könnte. Die Form symbolisiert das Leben
als einen
ständigen verhängnisvollen Kreislauf. Am Ende bleiben mehr Fragen – der
überwiegende
Teil des Textes besteht aus Fragen –, als dass Antworten gefunden
werden.
Auch in diesem Lied wird der Krieg nur verhalten kritisiert.
Biographische Daten zu Pete Seeger (vgl. Siniveer 1981, Art. „Seeger, Pete“;
Kleff 2/99)
Wurde geboren am 3. Mai 1919 in New York. Sein Vater war der Musikwissenschaftler
Charles Seeger, seine Mutter war Geigenlehrerin.
1936–38 Studium der Soziologie und des
Journalismus an der Havard University.
1939/40 begleitete er Alan Lomax, einen
bekannten Volksliedsammler und -forscher, auf verschiedenen Reisen für
die Library of Congress in Washington. Dadurch kam er zu einem sehr
großen Repertoire von Volksliedern und er hatte seine ersten Auftritte
als Sänger.
1940 traf er Woody Guthrie.
1941 gründete er seine erste Band, die
„Almanac Singers“, die als die erste populäre Musikgruppe der
amerikanischen Arbeiterbewegung gilt.
1942 leistete er zwei Jahre lang
Kriegsdienst.
Dabei trat er auch für GI-Radiostationen und in Soldatenclubs auf.
Seit 1948 stand er auf der „schwarzen Liste“.
Zur Zeit des Kalten Krieges wurde er wegen seiner politischen Haltung
von großen Teilen der gewerkschaftlich organisierten amerikanischen
Arbeiterbewegung ausgeschlossen, so dass er nicht mehr – wie vorher –
bei Massenveranstaltungen auftreten konnte. Auch zu den offiziellen
Medien hatte er lange Zeit keinen Zugang mehr. Manche seiner Lieder
wurden damals durch Gruppen wie Peter, Paul & Mary oder das
Kingston Trio verbreitet.
1950 gründete er das Folkmagazin „Sing Out“.
1955 Ladung vor das Komitee zur Untersuchung
unamerikanischer Aktivitäten.
1959 rief Seeger gemeinsam mit anderen das
Newport Folk Festival ins Leben.
Seeger schrieb auch zahlreiche Bücher über
die amerikanische
Folk Music.
Literatur
Benzinger, Olaf (2002): Rock-Hymnen. Das
Lexikon. Kassel u. a. S. 65–68.
Faulstich, Werner (1983): Vom Rock’n’Roll bis
Bob Dylan. Gelsenkirchen.
Sievritts, Manfred (1984): „Politisch Lied,
ein garstig Lied?“. Bd. 2. Wiesbaden 1984.
Bob Dylan schrieb dieses Lied 1962. Dylans
Manager erkannte wohl das Potential, das in diesem musikalisch
einfachen Song steckte. „Noch bevor Dylans Version im Mai 1963 auf dem
Album The Freewheelin’ Bob Dylan erschien, ließ Grossmann den
Song von der Paradetruppe Peter, Paul & Mary aufnehmen, die er
ebenfalls unter Vertrag hatte. Während
Dylans Version in ihrer schlichten Rauheit dem Zuhörer wahre Schauer
über
den Rücken jagen konnte, schliffen Peter, Paul & Mary dem Song
seine
Kanten ab und präsentierten ihn in seichtem, eingängigem Satzgesang
(dazu
erweiterten sie das Lied um eine Moll-Parallele, was das Ganze noch
gefälliger
wirken ließ). Grossmans Rechnung ging auf, und „Blowin’ In The Wind“
stieg
mit Peter, Paul & Mary in den amerikanischen Charts 1963 bis auf
Platz
Zwei empor“ (Benzinger 2002, S. 66).
Dylan selbst soll über sein Lied geäußert
haben: „Ich kann nicht viel über diesen Song sagen, außer dass die
Antwort im Wind zu finden ist. Sie steht nicht in Büchern oder Filmen
oder Fernsehshows
oder Diskussionsgruppen – sie ist im Wind. Es gibt Leute, die
behaupten,
sie wüssten die Antwort, aber ich glaube ihnen nicht. Ich glaube immer
noch, sie ist im Wind. Wie ein Stück Papier fällt sie manchmal zu
Boden, aber das Problem ist, dass keiner kommt und sie aufhebt, wenn es
möglich ist [...]. Und schon fliegt sie wieder davon“ (Benzinger 2002,
S. 66).
Manfred Sievritts schreibt über diesen Song:
„Bob Dylan trägt seinen Protest gegen Kanonen, sinnlosen Tod und die Ignoranz und Teilnahmslosigkeit der Menschen gegen das Elend anderer in einer sehr zurückhaltenden, indirekten, mit Metaphern und Vergleichen angereicherten Sprache vor. Er drückt in seinem Lied im Gegensatz zu dem engagierten Gesang von Ernst Busch scheinbar eine gewisse Gleichgültigkeit aus und ruft nicht direkt zum Handeln auf. Damit lässt er alles offen, fordert aber dadurch zum Nachdenken auf. Er wendet sich an ein breites Publikum, dem es genügt, wenn er in Andeutungen spricht. In den einheitlichen, nur von Gitarren begleiteten Strophen und dem nicht abgesetzten kurzen Refrain, der nur aus einer Textzeile besteht, drückt sich Resignation und leise Ironie aus: Ebenso, wie seit Bestehen der Erde die Gesetze der Natur in permanenter Gleichmäßigkeit noch ewig Gültigkeit haben werden, ist auch ein Ende von Krieg und Töten nicht abzusehen. Dabei ist ihm bereits die Nennung des Unzulänglichen und Unverständlichen Angriff genug. Dylan verwendet keine aggressiven Worte, nennt keine Ursachen oder Lösungsvorschläge, sondern kleidet seine Aussage in Fragen auf die niemand eine Antwort weiß, weil die Beantwortung so ungewiss ist wie die Erscheinungen der Natur. Und ähnlich unvergänglich und dauerhaft wie das Bestehen der Erdgeschichte ist das Verhalten der Menschen, ein Naturgesetz, das sich vielleicht in erdgeschichtlichen Zeiträumen in seiner Gewohnheit ändern könnte. In dieser Interpretation steckt Hoffnungslosigkeit und Pessimismus, weil man wohl durch Aktionen den Lauf der Dinge selbst nicht verändern kann. Dementsprechend undramatisch wird die Melodie vorgetragen: leise, etwas undeutlich und ohne Höhepunkte im Ausdruck. Die Mundharmonika, die zwischen den Strophen zum Einsatz kommt, erinnert an die Einsamkeit, die manche Western-Songs und Blues-Titel vermitteln. […].
Von der zurückhaltenden und unaggressiven
Gestaltung dieses Liedes und ähnlicher Gesänge muss eine große
Faszination ausgegangen sein, denn gerade von ihnen sind einige zu weit
verbreiteten ‚Hymnen der Protestbewegung’ geworden, wie etwa We
shall overcome, This Land is my Land (Woody Guthrie), Where
have all the Flowers gone (Pete Seeger)“ (Sievritts 1984, S. 113
f.).
Es gab aber auch kritische Einwände gegen den
Song, z. B.: Die Sozialkritik sei hier sehr vage und unverbindlich
formuliert (zitiert
nach Faulstich 1983, S. 173). Dazu meint Sievritts: „Vielleicht liegt
das
Geheimnis des Erfolges der Lieder Bob Dylans darin, dass er nicht als
‚Weltverbesserer’
mit ‚erhobenem Zeigefinger’ auftritt und keine Botschaft verkünden
will“
(Sievritts 1984, S. 114).
Trotz dieses „unpolitischen“ Charakters
seiner Lieder
wurde Dylan zu einem politisch einflussreichen Sänger. Seine Lieder
drückten
den verloren gegangenen Glauben an Utopien bzw. Ideologien aus,
obgleich
in den sechziger Jahren in der westlichen Welt dieser Glaube einen
starken
Auftrieb erhielt.
„‘Blowin’ In The Wind‘ wurde zu der
Hymne der Bürgerrechtsbewegung, vergleichbar mit der ‚Marseillaise‘
oder der ‚Internationalen‘“ (Benzinger 2002, S. 66). Viele andere
Interpreten übernahmen diesen Song. „’Blowin’ In The Wind‘ dürfte nach
‚Yesterday’ der am meisten gecoverte
Song des Pop sein. Schon 1963 gab es zirka sechzig Versionen, im Laufe
der
Jahre wurden es Hunderte. Um nur einige zu erwähnen: Joan Baez, Stevie
Wonder,
Marlene Dietrich, die Duke Ellington Bigband, Stan Getz, King Curtis,
Judy
Collins, die Edwin Hawkins Singers, Glen Campbell, die Hollies, Nina
Simone
oder Elvis Presley. Jeder von ihnen interpretiert den Song auf seine
Weise:
als Folksong, als Country-Titel, als Rhythm-&-Blues- oder
Soulnummer,
als Jazzstück, als Blues oder als Pop- und Rocksong“ (Benzinger 2002,
S.
67).
Dylans erste Aufnahme des Songs entstand
1963.
Doch deutete er in zahlreichen späteren Aufnahmen das Lied um.
Biographisches zu Bob Dylan:
Heißt eigentlich Robert Allen Zimmerman.
Wurde geboren
am 24. Mai 1941 in Duluth / Minnesota als Sohn eines jüdischen
Kaufmanns.
1961 ging er nach New York und nannte sich
nun
„Bob Dylan“ (wahrscheinlich nach dem walisischen Dichter Dylan Thomas).
1961 besuchte er sein Idol, den Folksänger
Woody Guthrie, der damals schwer krank war und im Krankenhaus lag.
(Guthrie starb 1967.) Er spielte ihm einige seiner Songs vor.
1962 Aufnahme der ersten LP.
Seit 1963 hatte er Kontakt mit Joan Baez.
1963/64 lieferte Dylan den „Soundtrack zur
Bürgerrechtsbewegung“. „Blowin’ in The Wind“ wurde zur Hymne und Dylan
zur Ikone der Protestbewegung.
1965/66 trat Dylan beim Newport Folk Festival
mit Rockband und E-Gitarre auf und schockierte damit die Szene, denn
Rock galt dort als kommerzieller Schund. Das Publikum reagierte z. Tl.
empört. Beifall erhielt Dylan aus der Popwelt. Überhaupt ist
kennzeichnend für Dylan, dass er die Erwartungen seines Publikums nicht
erfüllt und bei Auftritten häufig provoziert.
Gemeinsamkeiten der drei Lieder
Der Bezug der beiden ersten Lieder zu dem
Roman „Der stille Don“. Ähnliche Bilder werden verwendet: Blumen –
Birken; Mädchen; Soldaten, Krieg. Beide Lieder beziehen sich auf eine
lang zurückliegende Vergangenheit: „Zogen einst...“, „Long time
passing“. Die Vergangenheit jedoch setzt sich in der Gegenwart fort.
Das Geschehen scheint einem ewigen Gesetz zu folgen. Seegers Lied
greift am Ende die Anfangsstrophe auf. Dazwischen findet eine Art
Handlung oder Entwicklung statt: Mädchen – Mädchen werden von den
Männern „genommen“ – Männer werden Soldaten – Soldaten sterben und
werden begraben. Fehlen konkreter politischer Bezüge und
Lösungsvorschläge: „The answer is blowing in the wind“; „When will they
ever learn?“. Die Fragen bleiben unbeantwortet.
Unterschiede zwischen den drei Liedern
Ein zu beachtender Unterschied zwischen dem
älteren Lied „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ und den beiden jüngeren
Songs besteht darin, dass ersteres – wie ein „Volkslied“ – wenig an die
Person des Textdichters/Komponisten, der ja kaum bekannt ist, oder auch
eines Interpreten gebunden ist. „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ wird
in den unterschiedlichsten Bearbeitungen
und in gänzlich verschiedenen Zusammenhängen gesungen (s.o.). Die von
damaligen Jugendlichen getragene deutsche Folklorebewegung der späten
sechziger und der siebziger Jahre verhalf ihm zu einer größeren
Popularität innerhalb
dieser musikalischen Jugendkultur, die nach Anknüpfungsmöglichkeiten an
„antifaschistische“, „antimilitaristische“ u. a. sich gegen den
Nationalsozialismus
abgrenzende Traditionen suchte. Das Lied bot sich durch seinen
pazifistischen
Charakter dazu an. Wahrscheinlich war den damaligen Folkgruppen nicht
bekannt,
dass der Autor des Liedes der Nazi-Bewegung nahe stand und dass das
Lied
durch seinen inhaltlichen Bezug zum „verlorenen Osten“ auch gern von
politisch
rechts gerichteten Gruppierungen annektiert wurde.
Im Unterschied zu „Zogen einst fünf wilde
Schwäne“ sind die Lieder von Seeger und Dylan – trotz zahlreicher
Cover-Versionen – stark an die Person des Autors und Interpreten
gebunden. Die mediale Vermittlung spielte vor allem bei Dylans Lied
eine entscheidende Rolle. Die Massenmedien propagieren nicht nur einen
Text und eine Melodie, sondern auch bestimmte Personen und deren Image.
Seeger und Dylan haben das Image politischer Sänger. Trotz der wenig
konkreten Aussagen lassen ihre beiden Lieder bestimmte politische
Zusammenhänge assoziieren: vor allem die amerikanische
Bürgerrechtsbewegung und die Opposition gegen den Vietnam-Krieg.
In einer 1975 erschienenen Untersuchung
definiert Werner Mezger Schlager als „hochgradig personalisierte
Musik, deren Erfolg oder Misserfolg zu einem nicht unwesentlichen
Teil auf der
Harmonie von Titel und Interpret beruhe (Werner Mezger: Schlager.
Tübingen
1975. S. 26). Diese Definition trifft auch auf andere Genres medial
vermittelter
Musik zu. Zum Schlager schreibt Mezger:
„Kaum eine andere Musikgattung ist […] so
stark an ganz bestimmte Sänger, Instrumentalsolisten, Ensembles oder
Orchesterleiter gebunden wie der Schlager […]. Während bei sämtlichen
Werken der E-Musik und der älteren U-Musik die Ausführenden relativ
beliebig austauschbar sind, gibt es bei den aktuellen Produkten der
Schlagerbranche nahezu keine Variabilität der Besetzung […]“ (Mezger
1975, S. 25).
Kollektive
Emotionalisierung durch Medien: Elton Johns „Candle in the Wind“
Bleicher, Joan Kristin (1998): Prinzessin
Diana. Mediale Konstruktion kollektiver Rituale. In: ZMMnewsONLINE, Mai
1998 (Zentrum für Medien und Medienkultur – Universität Hamburg).
Benzinger, Olaf (2002): Candle
In The Wind. In: Rock-Hymnen.
Das Lexikon. Kassel u. a. S. 75–78.
„Candle in the Wind“. In: Wikipedia (Stand: 24. Dezember 2008).
„Diana Spencer“. In: Wikipedia
(Stand: 10. Januar 2009).
„Elton John“. In: Wikipedia
(Stand: 16, Januar
2009).
Matussek, Matthias (1997): Die gejagte
Jägerin. In: Spiegel Nr. 37 vom 8.9.1997, S.216–224.
Weber, Martin (1996): Kollektive
Emotionalisierung durch Medien bei konstruierter Massentrauer am
Beispiel von Elton Johns „Candle in the Wind“. Referat, gehalten im
Sommersemester 2006. (unveröffentlicht)
Sir Elton Hercules John (eigentlich Reginald
Kenneth Dwight) wurde geboren am 25. März 1947 in Pinner, Middlesex
(England)
Frühe Trennung der Eltern. Elton John wuchs
bei seinen Großeltern auf, die Beziehung zum Vater war schlecht. Mit
elf Jahren begann er ein Studium an der Londoner Royal Academy of
Music. Er studierte dort sechs Jahre lang Klavier und Musiktheorie.
Mitte der 1960er Jahre gründete er mit Studienkollegen zusammen die
Band „Bluesology“. Seitdem nannte er
sich Elton John.
1969 veröffentlichte er seine erste
Komposition auf dem Album der Band „Three Dog Night“. Damals arbeitete
er Arbeit an
seinem ersten Soloalbum. Der Songwriter Bernie Taupin schrieb seit
diesem
Zeitpunkt fast alle seine Songs.
Das zweite Album „Elton John“ (mit
Streichorchester eingespielt) wurde ein erster großer Erfolg. Innerhalb
eines Jahres placierte er fünf Alben in den US-Charts. Kurz darauf
wurden einige seiner Songs zu internationalen Hits, darunter 1973 das
der 1962 verstorbenen Marilyn Monroe gewidmete Lied „Candle in the
Wind“.
1976 wurde sein Duett mit Kiki Dee „Don’t go
breaking my heart“ zum Diskotheken-Hit. Zwei weitere Alben mit
Discomusik folgten. 1980 wandte er sich wieder Balladen zu. Bis Mitte
der achtziger Jahre erreichten einige seiner Singles („I’m still
standing“, „Sad songs“, „Nikita“) hohe Chartpositionen.
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre
erlebte er ein künstlerisches Tief. Er beteiligte sich öfter an
Wohltätigkeits-Veranstaltungen, so etwa an Aids-Projekten. Auch in
späteren Jahren spendete er Aids-Stiftungen große Summen und engagierte
sich dafür. 1989 hatte er als Solist Erfolg
mit dem Album „Sleeping with the Past“. 1993 erschien eine Platte mit
Duetten zusammen mit Künstlern wie George Michael, Little Richard,
Chris Rea, Drag Queen Ru Paul u. a. 1994 erhielt er den Oscar für „Can
you feel the love
tonight“, komponiert für den Disneyfilm „Der König der Löwen“.
1997 wurde die umgetextete Version von
„Candle
in the Wind“ herausgebracht, in der Elton John den Tod der mit ihm
befreundeten Lady Diana betrauert. Die Single „Something about the way
you look tonight“, auf deren B-Seite der Titel zu finden war, wurde mit
32 Millionen verkauften Exemplaren zur erfolgreichsten Single „aller
Zeiten“. Der Erlös daraus wurde dem „Diana Princess of Wales Memorial
Fund“ gestiftet.
Elton John hat eine wechselvolle Biographie.
1980 outete er sich als bisexuell. 1984 heiratete er die deutsche
Tontechnikerin Renate Blauel. 1988 ließ er sich von ihr scheiden. Bald
darauf bekannte er
sich zur Homosexualität. Am 21. Dezember 2005 – dem ersten Tag, an dem
nach
einer Gesetzesänderung in Großbritannien homosexuelle Paare eine
Eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen durften – heiratete Elton
John seinen langjährigen Freund, den Popsänger und Filmemacher David
Furnish.
1998 wurde er von Königin Elisabeth II. zum
Ritter geschlagen. Er nennt sich seitdem Sir Elton John, Knight of the
Order of the British Empire (KBE). 2002 erhielt er die Ehrendoktorwürde
der Royal
Academy of Music in London.
Biographisches zu Diana Spencer (vgl. „Diana Spencer“, in: Wikipedia)
geboren 1961, gestorben 1997. Sie entstammte
einer Familie des englischen Hochadels, die durch die Scheidung der
Eltern wenig Geborgenheit vermittelte. 1981 Hochzeit mit dem britischen
Thronfolger Charles. Die Hochzeit in der Saint Paul’s Cathedral in
London war ein gigantisches Medienereignis: Die Fernsehübertragung
erreichte mit weltweit mehr als 750 Millionen Zuschauern
Rekordeinschaltquoten.
In den nachfolgenden Jahren wurde Diana auf
Schritt und Tritt von Reportern und Paparazzi verfolgt. Schon zu
Lebzeiten war sie weltweit sehr populär. Diana engagierte sich für
zahlreiche karitative Projekte, so für die britische Aids-Hilfe, ebenso
in der internationalen Kampagne
für das Verbot von Landminen.
1982 und 1984 wurden die Söhne William und
Harry geboren. Die Ehe mit Prince Charles geriet sehr bald in eine
Krise und zerbrach – diese Krise wurde zentrales Thema vieler Medien.
Die offizielle Trennung des Paares erfolgte1992, die Scheidung 1996.
In der Nacht des 31. August 1997 verunglückte
Diana bei einem Autounfall in der Unterführung der Pont de l’Alma in
Paris gemeinsam mit ihrem Liebhaber Dodi Al-Fayed und dem Chauffeur
Henri Paul, in dessen Blut später Alkohol und Psychopharmaka
nachgewiesen wurden. Der Mercedes
prallte auf der Flucht vor Paparazzi mit hoher Geschwindigkeit gegen
einen
Tunnelpfeiler. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Chauffeur durch
Blitzlichter
der Pressefotografen, die auf Motorrädern hinter der Limousine
herjagten,
geblendet worden war und die Orientierung verlor. Fayeds Leibwächter
Trevor
Rees-Jones überlebte als einziger. Diana starb wenige Stunden später im
Krankenhaus.
Die Trauerfeier in der Westminster Abbey in
London fand am 6. September 1997 statt. Elton Johns Lied „Rose Of
England“, die Abwandlung seines ursprünglich auf den Tod von Marylin
Monroe bezogenen Hits „Candle in the Wind“, wurde zum Höhepunkt
innerhalb der Trauerfeier. Etwa drei Millionen Menschen flankierten den
Trauerzug durch London, ca. 2,5 Milliarden verfolgten weltweit im
Fernsehen die Feier. Diana wurde in Althorp auf den Familiensitz der
Spencers begraben.
Die Umstände des Unfalls sind, auch auf Grund
zahlreicher Ungereimtheiten, bis in die Gegenwart Gegenstand vieler
Spekulationen und Verschwörungstheorien in der Boulevardpresse und im
Internet.
Noch Jahre nach dem Tod scheint die
öffentliche Neugier nicht gestillt. Im April 2004 strahlte die CBS
Bilder von der sterbenden Diana aus und brach damit ein Tabu. Im Juni
2004 wurde im Londoner Hyde
Park ein Diana-Gedächtnisbrunnen durch Königin Elisabeth II.
eingeweiht.
2007 veranstalteten Dianas Söhne das „Concert for Diana“ im Londoner
Wembley-Stadion mit ca. 60 000 Zuschauern. Es traten mehrere
bekannte Musiker und Musikgruppen auf, unter ihnen Elton John. Im
selben Jahr fand in Erinnerung an den Tod vor zehn Jahren ein
Gedenkgottesdienst in London statt.
wurde ursprünglich in Elton Johns 1973
erschienenem Album „Goodbye Yellow Brick Road“ veröffentlicht. Er
setzte sich mit dem Leben der 1962 jung verstorbenen Marilyn Monroe
auseinander, auf deren bürgerlichen Namen sich die Anfangsworte
„Good-bye Norma Jean“ beziehen. Der Text verurteilt die kommerzielle
Ausbeutung des Stars, dessen Leben er mit der Metapher einer vorzeitig
verlöschenden Kerze beschreibt. Schon die Erstfassung von „Candle
in the Wind“ gelangte in die Charts.
Am 6. September 1997 sang Elton John dieses
Lied mit einem veränderten Text bei der Beerdigung von Diana Spencer,
mit der
er befreundet war, in der Westminster Abbey. Der Text mit der
Anfangszeile „Good-bye England’s Rose“ wurde von Bernie Taupin
verfasst. Dass gerade
dieses Lied für diese Gelegenheit ausgewählt wurde, erscheint nicht
zufällig:
Beide, Marylin Monroe und Diana, waren blond, jung, galten als schön,
waren
in unglückliche Beziehungen zu Ehemännern und Geliebten verstrickt und
waren schließlich Opfer eines als rätselhaft dargestellten Todes.
„Beide Frauen verkörperten auf ihre Weise den Mythos der Blondine mit
Sex Appeal, die zu schnell lebt und zu früh stirbt“ (Bleicher 1998, S.
4).
Am 13. September 1997 kam die Neufassung mit
dem Titel „Candle in the Wind 1997“ als Single mit dem Untertitel „In
loving memory of Diana, Princess of Wales“ heraus, „verkaufte sich am
ersten Tag 658 000 Mal, in der ersten Woche 1,5 Millionen Mal, 2
und 3 Millionen Mal innerhalb der ersten acht beziehungsweise 15 Tage
und blieb fünf Wochen
lang die Nummer eins in den Charts“ („Candle in the Wind“, in:
Wikipedia).
Auch in vielen anderen Ländern behauptete sich das Lied lange Zeit in
den
Top Charts. Es soll weltweit ca. 33 Millionen Mal verkauft worden sein.
(Die
Verkaufszahlen sind evtl. zu überprüfen.)
Laut Benzinger wurde „Candle in the Wind“ in den USA zu der
erfolgreichsten Platte „aller Zeiten“: In 37 Tagen sollen 32 Millionen
Exemplare verkauft worden sein.
Damit habe Elton John Bing Crosbys „White Christmas“ überrundet, das es
auf
30 Millionen Platten brachte – allerdings im Zeitraum von 55 Jahren
(Benzinger 2002, S. 77).
Es gibt mehrere Cover-Versionen des Liedes
(vgl. Benzinger 2002, S. 75), ebenso zahlreiche Instrumentalfassungen,
darunter für Panflöten, Saxophone, Synthesizer-Orchester, Klavier u.
a.; auch das
Royal Philharmonic Orchestra in London hat das Stück gespielt.
Es heißt, Elton John habe die Neufassung des
Liedes nur anlässlich der Trauerfeier für Diana öffentlich gesungen und
es entschieden abgelehnt, es bei späteren Gelegenheiten live
vorzutragen. Wenn er das Lied danach in Konzerten sang, habe er stets
die erste Version gewählt.
Elton Johns „Candle in the Wind“ gehört
inzwischen zu den bevorzugten Liedern auf deutschen Beerdigungen.
Die damaligen Trauerfeierlichkeiten werden
charakterisiert als „eine Mischung aus Kirchenritual und Popkonzert“
(Bleicher 1998, S.
6). Die kollektive Emotionalisierung, an der die Medien starken Anteil
hatten, wäre jedoch nicht möglich gewesen, wenn sie nicht bereits
während Dianas
Leben vorbereitet worden wäre. Seit der Bekanntgabe der Verlobung mit
Prince
Charles wurde in den britischen Zeitungen täglich über Diana berichtet.
Dadurch
war sie in den Köpfen der Leser ständig präsent. Menschen bauten eine
Beziehung zu ihr auf, ohne sie selbst jemals getroffen zu haben. „So
trauerten sie
um einen Familienangehörigen, der über Jahre hinweg nur medial in ihrem
Alltag anwesend war“ (Bleicher 1998, S. 5).
Seit ihrer Heirat mit Prince Charles wurde
Diana als eine Mischung aus Märchengestalt und Popstar präsentiert. Ihr
medial konstruierter Lebensweg bot ein breites Identifikationsangebot:
„Für die ältere
Generation entsprach Dianas Leben dem einer Märchengestalt. Für die
junge
Generation fungierte sie als Popstar“ (Bleicher 1998, S. 2). Sie
entsprach fast kindlichen Vorstellungen von der schönen
Märchenprinzessin. Im Nachruf von USA-Today heißt es: „Sie war ein
Wunder aus dem Märchen, die herrliche romantische Realität unserer
kollektiven Träume“ (zit. nach Bleicher 1998, S. 3). Ihr Leben schien
sich an unzähligen Vorbildern in der Trivialliteratur oder TV-Serien zu
orientieren: „Sie lebte diesen Kosmos aus tragischen Lieben, aus
intriganten Nebenbuhlern und strahlenden Rittern, einen Kitsch, der
grausam ist, wenn man versucht, ihn zu leben, und den man doch nie aus
den Augenwinkeln lässt, weil er die Herzen tatsächlich höher schlagen
lässt“ (Matussek 1997, S. 220).
Die Berichterstattung über sie und ihre
medial konstruierte
Biographie trugen auch die Züge von Heiligenlegenden, die ein
beispielhaftes
Leben mit Anfechtungen und Konflikten vermitteln, wobei das Gute immer
siegt
und die Bösen immer die anderen sind. Diana wurde gern präsentiert als
warmherzige
Wohltäterin und Mutter. Dabei war sie bedroht von Menschen, die ihr
Leid
zufügten: Sie war betrogene Ehefrau und litt unter der
Emotionslosigkeit des englischen Königshauses. Das zweite Leben nach
ihrer Scheidung war von unterschiedlichen Wohltätigkeitsaktivitäten
geprägt, bei denen sie sich
der ausgestoßenen Bevölkerung zuwandte. „Im kollektiven Gedächtnis
bleibt
Diana als im Leid erfahrene Schutzherrin der Geschundenen“ (Matussek
1997,
S. 216).
Zugleich wurde ihre erotische Ausstrahlung
betont. Sie war „gleichzeitig Mutter Teresa und Super-Modell. Heilige
und Sexobjekt“ (Bleicher 1998, S. 4). Zur Vita der Heiligen gehört ein
früher Opfertod. Im Fall Diana „passte“ der frühe Unfalltod in den von
den Medien konstruierten Lebenslauf. Schuld am Tod hatten nun nicht die
ungläubigen Heiden, sondern skrupellose Paparazzi.
Es entstand die paradoxe Situation, dass
sensationsgierige Pressefotografen das Unglück hervorgerufen hatten und
nun mit allen Registern der Emotionalisierung darüber berichteten. Ein
Trauernder soll damals geäußert haben: „Die Presse hat sie gemacht und
sie getötet. Ich werde nie wieder
eine Zeitung kaufen“ (Bleicher 1998, S. 5).
Dianas Verhältnis zu den Medien war ambivalent. Matussek bezeichnet sie in dem Spiegel-Artikel vom 8. September 1997 als „gejagte Jägerin“: Die panische Flucht vor den Medien endete in ihrem Unfalltod. Andererseits lebte sie „längst in jenem symbolischen Raum, den sie selber kreiert hatte und in dem sie souverän herrschte mit Hilfe der verteufelten Klatsch-Reporter und Fotografen“ (Matussek 1997, S. 216).
Der von den Medien ernannte Star hebt sich
einerseits ab von der Masse. „Es gilt, vorhandene Unterschiede zur
breiten Masse herauszustreichen, den Alleinstellungs-Anspruch eines
Stars zu verdeutlichen“ (Bleicher 1998, S. 2). Andererseits darf der
Star nicht auf Distanz zur breiten Bevölkerung bleiben, sondern muss
sie erreichen. Dies geschieht durch die Zurschaustellung von
Konfliktsituationen und Emotionen. „Erst die für die Wirkung einer
Tragödie unerlässliche ‚Fallhöhe‘ vom Leben der Reichen und Schönen in
den Bereich menschlicher Leiderfahrung vollendet den Zyklus medialer
Legendenbildung“ (Bleicher 1998, S. 3).
Diana erreichte die menschliche Nähe zu ihren
Anhängern durch Berichte über ihren Zwist im Königshaus und ihre
Eheprobleme. In einem Interview von 1995 gab sie gegenüber Millionen
von Zuschauern Auskunft über ihre Bulimie. Daher rankt sich um ihren
Tod u. a. die Verschwörungstheorie, Diana sei ein Opfer des
Königshauses, dem sie mit ihrer Offenheit in den
Medien gefährlich zu werden drohte. Ihr Unfalltod „entfachte eine
ungeahnt
antimonarchistische Stimmung im britischen Volk“ (Matussek 1997, S.
216).
„Es wird immer ein Rätsel bleiben, warum das
Herzleid einer Prinzessin besonders diejenigen zu Tränen rührt, die auf
Knien durch ihr Leben rutschen müssen“, schreibt Matthias Matussek
(Matussek 1997, S. 224). Warum weinen Menschen über den Tod eines
Menschen, den sie bestenfalls medienvermittelt kannten, dem sie aber
niemals persönlich begegnet sind? Dafür gibt es evtl. die folgenden
Gründe:
-
In
die fremde Person werden eigene, oftmals unterdrückte Gefühle
projiziert.
-
Die
Menschen weinen, weil andere weinen. Das Weinen der anderen wird uns –
etwa durch
Nahaufnahmen von tränenfeuchten Gesichtern – durch die Medien so
präsent
gemacht, dass wir schließlich selber weinen.
-
Durch
Aufnahmen
aus der Vogelperspektive von unendlich lang wirkenden Menschenketten
wird
im Betrachter das Gefühl erzeugt, dabei zu sein, zu der trauernden
Menschenmenge zu gehören (Weber 2006).
Zu den von den Medien bevorzugt dargestellten
Trauerritualen gehörten das Aufstellen von brennenden Kerzen und das
Niederlegen von Blumen. „Nicht nur die Tore des Palastes, auch der
Leichenwagen wurde mit Blumensträußen überhäuft […]. Blumen säumten
auch den Weg zum Grab und das Grab selbst“
(Bleicher 1998, S. 4 f.).
Als Verstärker von Emotionen vermitteln die
Medien „dem Trauernden das Gefühl, Teil einer breiten Volksemotion zu
sein“ (Bleicher 1998, S. 7). Die Trauer der Fremden wird zur eigenen
Trauer, Schichtbindungen werden aufgebrochen zugunsten eines
klassenlosen Kollektiverlebnisses. Die Bilder werden begleitet von
einer emotionalen Sprache, die auf Nähe, Identifikation und Beteiligung
zielt. Neben Bildern und Worten gehören zur Emotionalisierung auch
Klänge und Lieder, in diesem Fall die Hymne von Elton John.
„Das Phänomen der Massentrauer als Ergebnis
medialer Legendenbildung entstand, indem die Medien ausschließlich
visuell spektakuläre Formen individueller Trauer aufnahmen und somit
eine Verengung der öffentlichen Aufmerksamkeit herbeiführten. Die
permanente Wiederholung
von wenigen, stark emotionalisierenden visuellen Schemata führte
schnell
zu einer Ritualisierung der Trauer und sorgte schließlich für eine
‚Massenhypnose’.
Die Massentrauer überschritt in der Woche vor der Beerdigung die Grenze
zur
Massenhysterie“ (Bleicher 1998, S. 6). Die Menschen ahmten das ihnen
medial
vermittelte Trauerverhalten nach und versuchten es zu übertreffen. Und
die
Medien heizten die Stimmung weiter an: „Weltweit waren 35% der
Zeitungsseiten dem Tode Dianas gewidmet“ (Bleicher 1998, S. 7).
„Medien wiesen nur jenen Formen der Trauer
Bedeutung zu, die besonders medienwirksam waren, indem sie symbolhafte
Bilder vom Niederlegen
der Blumen und der endlosen Menschenschlangen vor den Kondolenzbüchern
lieferten.
Andere Formen der Trauer, wie der Rückzug der Königsfamilie in das
private
Umfeld wurden als nicht adäquat, da nicht öffentlich, kritisiert. Die
englische
Presse forderte in Schlagzeilen eine öffentliche Trauer des
Königshauses.
Dies führte […] zu öffentlichen Trauerbekundungen der königlichen
Familie
vor dem Buckingham Palace und zur live übertragenen Ansprache der
Queen,
die auch von deutschen Sendern übertragen wurde. So wurde letztlich
auch
die Trauer der tatsächlich unmittelbar Betroffenen medial bestimmt“
(Bleicher 1998, S. 7).