Lieder und Schlager
zur Zeit der Weimarer Republik
Seminar Probst-Effah,
Wintersemester 2004/05
(Das Skript basiert auf einem Teil
der im folgenden genannten Literatur und auf Referaten, die im Rahmen des
Seminars gehalten wurden.)
Inhalt:
Daten zu Geschichte und Politik
der Weimarer Republik
Überblick über musikalische Entwicklungen
und Tendenzen der 1920er Jahre
Von der Kinomusik zur Filmmusik
Artikel „Weimarer Republik“, „Dawesplan“,
„Versailler Vertrag“, „Novemberrevolution“, „Locarno“. In: Microsoft ENCARTA 97
Enzyklopädie, 1993–1996
Bemmann,
Helga (Hg.): Die Lieder der Claire Waldoff. Berlin 1983
Brecht-Liederbuch, hg. und kommentiert
von Fritz Hennenberg. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch 1985
Bullerjahn,
Claudia: Von der Kinomusik zur Filmmusik. Stummfilm-Originalkompositionen
der zwanziger Jahre. In: Keil, Werner (Hg.): Musik der zwanziger Jahre. Hildesheim,
Zürich, New York 1996. S. 281–316
„Chanson“. In: Musik in Geschichte
und Gegenwart. Sachteil, Bd. 2. Sp. 611 ff.
„Charleston“. In: MGG, Sachteil, Bd. 9, Sp. 292–294
Danuser,
Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Kapitel II: 1920–1932, Laaber 1984.
S. 114–194 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hg. von Carl Dahlhaus,
Band 7)
Deutsche Chansons. Brettl-Lieder.
Leipzig 1911
Eichstedt,
Astrid / Polster, Bernd: Wie die Wilden. Tänze auf der Höhe ihrer Zeit. Berlin
1985
„Es liegt in der Luft was Idiotisches...“ Populäre Musik
zur Zeit der Weimarer Republik. Referate der ASPM-Jahrestagung vom 27. bis
29. Januar 1995 in Freudenberg. Baden-Baden 1995 (Beiträge zur Popularmusikforschung
15/16, hg. von Helmut Rösing)
Fechner,
Eberhard: Die Comedian Harmonists. Weinheim und Berlin 1988
Friedrich
Hollaender Chansons. Berlin 1967
Grosch,
Nils: Die Musik der neuen Sachlichkeit. Stuttgart 1999
Günther, Helmut: Die Tänze und Riten
der Afroamerikaner. Köln 1982
Hallo 1930.
Die Kult-Megabox. CD-Box + Buch. Bergisch Gladbach 1998
Hartkopf, Stephanie: Blandine Ebinger. Ein Beitrag zum Kabarettchanson der 20er Jahre. Unveröff. Staatsexamensarbeit Köln 2001
Hollaender, Friedrich: Chansons.
Berlin 1967
„Jazz“. In: MGG
John, Eckhard: Musikbolschewismus.
Die Politisierung der
Musik in Deutschland 1918 bis 1938. Stuttgart, Weimar 1994
„Kabarett“. In: Musik in Geschichte
und Gegenwart. Sachteil, Bd. 4. Kassel u. a. 1996. Sp. 1601 ff.
„Kästner“.
In: Harenberg Lexikon der Weltliteratur. Autoren – Werke – Begriffe. Band
3. S. 1586 f.
„Kästner“. In: Hauptwerke der deutschen
Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. Band 2: Vom Vormärz bis
zur Gegenwartsliteratur. München 1994. S. 429 ff.
Keil, Werner
(Hg.): Musik der zwanziger Jahre. Hildesheim, Zürich, New York 1996 (Hildesheimer
musikwissenschaftliche Arbeiten, Band 3)
Keupp, Dorothea:
Musik der 20er Jahre. In: Weimarer Republik. Hg. v. Kunstamt Kreuzberg und
Institut für Theaterwissenschaft der Universität zu Köln. Berlin 1977
Kirch, Maren:
Untersuchungen zur Filmmusik Friedrich Hollaenders in den 30er bis 60er Jahren.
Unveröff. Staatsexamensarbeit Köln 1996
Klenke,
Dietmar / Lilje, Peter / Walter, Franz: Arbeitersänger und Volksbühnen in
der Weimarer Republik. Bonn 1992
Kreuzer, Anselm C.: Filmmusik. Geschichte und Analyse. Frankfurt am Main 2001
Kühn, Volker (Hg.): Kleinkunststücke. Eine Kabarett-Bibliothek in fünf Bänden. Band 2: Hoppla, wir beben. Kabarett einer gewissen Republik 1918–1933. Hamburg 2001
Ders.: Spötterdämmerung. Vom langen Sterben des großen kleinen Friedrich Hollaender. Berlin 1996
Ders.: Die zehnte Muse. 111 Jahre Kabarett. Köln 1993
Lange, Horst
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der Bundesrepublik Deutschland. Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V.
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Das Chanson. Leipzig 1972
Pauli, Hansjörg: Filmmusik: ein historisch-kritischer Abriß. In: Musik in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen. Perspektiven und Materialien. Hg. von Hans-Christian Schmidt. Mainz 1976. S. 91–119
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Wolfgang / Schubert, Giselher (Hg.): Musikkultur in der Weimarer Republik.
Mainz 2001
Richter, Ludwig: Die Weimarer Republik
– eine „Republik in der Krise“? In: „Es liegt in der
Luft was Idiotisches ...“ Populäre Musik zur Zeit der Weimarer Republik. Referate
der ASPM-Jahrestagung vom 27. bis 29. Januar 1995 in Freudenberg. Baden-Baden
1995. S. 6–19 (Beiträge zur Popularmusikforschung 15/16, hg. von Helmut Rösing)
Rupprecht,
Siegfried P.: Chanson-Lexikon. Berlin 1999
Ruttkowski, Wolfgang Victor: Das
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Susanne: Neue Musik und Nationalsozialismus. Zum Ende der Musik der Weimarer
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und Giselher Schubert. Mainz 2001. S. 229–238
Schär, Christian:
Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der zwanziger Jahre. Sozialgeschichtliche
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Schebera,
Jürgen: Hanns Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten. Mainz
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Segebrecht, Wulf: „Kennst du es wohl“.
Parodien zu Goethes Mignon-Lied als Lebenszeichen seiner Poesie. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 29. Mai 1982
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Musik 5: Die Funktionen. Eine Musikkunde in Beispielen. Mit einem ausführlichen
Textbuch von Ingo Harden. Hamburg und Düsseldorf 1982 (Schallplattenkassette
mit ausführlichem Kommentar)
„Tucholsky“. In: Harenberg Lexikon
der Weltliteratur. Autoren – Werke – Begriffe. Band 5. S. 2900 f.
„Tucholsky“. In: Hauptwerke der deutschen
Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. Band 2: Vom Vormärz
bis zur Gegenwartsliteratur. München 1994. S. 509 ff.
Tucholsky, Kurt: Warum lacht die
Mona Lisa? Gedichte, Lieder und Chansons. Berlin 1980
Tucholsky, Kurt: Wenn die Igel in
der Abendstunde. Gedichte, Lieder und Chansons. Reinbek 1968
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Michael : Hitler in der Oper. Deutsches Musikleben 1919–1945. Stuttgart,
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Wicke, Peter: Artikel „Schlager“.
In: MGG. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil, Bd. 8, Sp. 1063–1070
29. Oktober 1918
Meuterei von Matrosen in Wilhelmshaven. In Kiel gibt es Demonstrationen
und offenen Aufruhr der Matrosen und Werftarbeiter. Der revolutionäre Funke
springt auch auf andere Städte des Reiches über. Vielerorts bilden sich Arbeiter-
und Soldatenräte.
9. November 1918
Prinz Max von Baden erklärt, ohne eine Entscheidung des Kaisers abzuwarten,
dessen Thronverzicht. Der Kaiser tritt zurück und geht nach Holland ins Exil.
Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann
ruft die Weimarer Republik aus.
10. November 1918 Der Rat der Volksbeauftragten, eine Koalition aus SPD und der sozialdemokratischen Abspaltung USPD, konstituiert sich als provisorische Regierung.
Januar 1919 Bei Wahlen tragen die republikanisch-demokratischen
Parteien (SPD, katholisches Zentrum, linksliberale DDP) einen überragenden
Wahlsieg davon. Friedrich Ebert wird der erste Präsident der Republik.
Spartakus-Aufstand; Ermordung von
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
28. Juni 1919 Unterzeichnung des Versailler Vertrags Die Siegermächte
verpflichten das Deutsche Reich zu hohen Reparationszahlungen. Sie nehmen
den Deutschen ca. ein Sechstel des Staatsgebiets und erklären sie für allein
schuldig am Krieg.
6. Juni 1920 Bei den Wahlen gerät die „Weimarer Koalition“
in die Minderheit, aus der sie nicht mehr herauskommt.
1920
Kapp-Putsch, ein rechtsradikaler
Umsturzversuch
November 1923
Höhepunkt der Inflation in Deutschland; im selben Jahr Währungsreform
(Einführung einer neuen Währung, der Rentenmark)
8./9. Nov. 1923
Hitlerputsch
1923
Besetzung des Ruhrgebiets durch französische
und belgische Truppen
1924 Dawesplan: Ein internationaler Ausschuss unter Vorsitz des amerikanischen Bankiers Charles G. Dawes schlägt einen Plan vor, der vernünftigere Reparationszahlungen und ausländische Kredite hauptsächlich durch die USA vorsieht. Wirtschaftlich gibt es in Deutschland einen Aufschwung.
1925 Locarno-Verträge: Sicherheitspakt zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und der Tschechoslowakei
8. September 1926 Das Deutsche Reich wird in den 1920 gegründeten
Völkerbund aufgenommen. (1933 tritt Nazi-Deutschland aus dem Völkerbund
aus.)
Oktober 1929 Börsenkrach an der New Yorker Wall Street. In Deutschland kommt es angesichts des wirtschaftlichen Einbruchs zu großen politisch-sozialen Spannungen. Steigende Arbeitslosigkeit.
1930 Zerbrechen der seit 1928 regierenden „Großen Koalition“ unter Führung der SPD.
März 1930 Reichspräsident Paul von Hindenburg wendet sich
nach dem Scheitern der Koalition gegen eine weitere Beteiligung der SPD an
der Regierung und beruft mit Heinrich Brüning einen Zentrumspolitiker zum
Reichskanzler. Hindenburg strebt eine monarchistische Restauration an. Der
Artikel 48 der Weimarer Verfassung ermöglicht es dem Präsidenten, unter Umgehung
des Parlaments mit präsidialen Notverordnungen zu regieren. Diese Präsidialvollmacht
führt ab 1930 zur Ausschaltung der parlamentarischen Demokratie.
September 1930
Bei Wahlen erhält die NSDAP – zuvor eine Splitterpartei – mit 18,2
Prozent der Stimmen 107 Mandate.
1932 entlässt Hindenburg Brüning. Brünings Nachfolger wird Franz von Papen.
31. Juli 1932 Bei nochmaligen Neuwahlen wird die NSDAP mit
37,4 Prozent der Stimmen und 230 Sitzen stärkste Kraft im Reichstag. Auch
die KPD hat großen Zulauf.
30. Januar 1933
Reichspräsident Paul von Hindenburg ernennt Hitler zum Reichskanzler.
Zwar bleibt die Weimarer Verfassung formell gültig, mit dem Ermächtigungsgesetz
vom 23. März 1933 wird ihr jedoch de facto ein Ende gesetzt.
Überblick über musikalische Entwicklungen
und Tendenzen der 1920er Jahre
In seinem
Beitrag zur Musik der zwanziger Jahre unterscheidet Hermann Danuser vier Richtungen
neuer Musik, die sich alle auf jeweils unterschiedliche Weise von der Tradition
der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts absetzten:
1. die Musik
innerhalb der Avantgardebewegungen
2. die Neue
Musik der ersten Generation (nach 1908)
3. die „mittlere
Musik“ der jungen Generation (nach 1918)
4. die Musik
mit neuen und traditionellen Funktionsbereichen (Film, Rundfunk, Pädagogik,
Politik, Liturgie; vor allem nach 1925)
zu 1. Die
radikalste Ablehnung erfuhren die musikalischen Traditionen durch die Avantgardebewegungen
(Futurismus, Dadaismus, Surrealismus).
Der Futurismus war eine zu Anfang des 20.
Jh.s in Italien aufgekommene avantgardistische literarische, künstlerische
und zugleich politische Bewegung. (Es gab auch einen russischen Futurismus,
der sich in vielem von dem italienischen unterschied.) Das Schwergewicht
des italienischen Futurismus lag in den Jahren zwischen 1909 und 1922. In
dieser Zeit entstanden die wichtigsten ästhetischen und politischen Programme.
Es gab auch einen sogenannten zweiten oder Neo-Futurismus in den Jahren der
faschistischen Diktatur.
Der Begründer
und Propagandist des Futurismus war Emilio Filippo Tommaso Marinetti. Den
Beginn des italienischen Futurismus markierte dessen „Futuristisches Manifest“,
das er am 20. Februar 1909 in der Pariser Zeitschrift „Le Figaro“ veröffentlichte.
Dem eigenen
Anspruch nach war der italienische Futurismus die Avantgarde des beginnenden
20. Jahrhunderts, eine künstlerische Bewegung, die sich der modernen technisierten
Welt zuwandte, sie glorifizierte. Die Futuristen wollten die Künste revolutionieren
und dabei Traditionen radikal eliminieren.
Der Futurismus
hatte in Kunst, Literatur und Musik Auswirkungen. Eine musikalische Spielart
des Futurismus war der Bruitismus: eine Geräuschmusik.
Verwandt
mit dem Futurismus war der Dadaismus, der jedoch einen stärkeren
Hang zur Ironie hatte. Beiden gemeinsam war die Ablehnung der Tradition bürgerlicher
Kunst und Kultur, die durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs fragwürdig
geworden war. Sammelpunkt der Dadaisten war 1916 das Cabaret Voltaire in
Zürich (H. Ball, T. Tzara, R. Huelsenbeck, H. Arp). Bei dadaistischen Veranstaltungen
wurden laute, zusammenhanglose Wörter deklamiert, verbunden mit „bruitistischer“
(Lärm-)Musik. Dadaisten gab es auch in New York: M. Duchamp, F. Picabia,
Man Ray. Die wichtigsten Dadaisten in Berlin waren Huelsenbeck, G. Grosz
und John Heartfield, in Köln Max Ernst, in Hannover Karl Schwitters. Der
Dadaismus dauerte bis etwa 1922 und bildete für viele Künstler eine Durchgangsphase
zur Neuen Sachlichkeit und zum Surrealismus.
zu 2. Seit
dem Beginn des 20. Jh.s gab es die sog. Neue Musik. Gemeint
war damit eine zeitgenössische Musik, die sich gegen die Romantik wandte.
Spätestens seit Richard Wagner vollzog sich eine Auflösung der lange Zeit
die westeuropäische Musik beherrschenden kompositorischen Ordnungsprinzipien
und Tonalitätsvorstellungen. Nach einem Zwischenstadium der Atonalität entwickelte
Arnold Schönberg die Dodekaphonie.
Die Zwölftonmusik schien allerdings „in der Luft zu liegen“.
Sie war nicht allein Schönbergs „Erfindung“. In den Jahren um 1920 wurden
in russischen und österreichischen Komponistenkreisen ohne wechselseitigen
Kontakt Überlegungen angestellt, wie sich die von der Tonalität befreite Musik
in eine neue Ordnung bringen lasse. Arnold Schönberg und Josef Matthias Hauer
gelangten zu Kompositionsverfahren mit zwölf Tönen, Hauer zeitlich zuerst,
doch Schönbergs weltweiter Ruf verdrängte in der Folgezeit Hauers Namen
mehr und mehr aus dem Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit.
Als der
zweite wichtige Wegbereiter Neuer Musik gilt Igor Strawinsky. 1920 komponierte
er das Ballett „Pulcinella“, das seine Wendung zum Neoklassizismus bekundete.
Strawinskys 1923 uraufgeführtes (kammermusikalisches) „Oktett“ gilt als
der eigentliche Beginn seiner neoklassizistischen und das Ende seiner „russischen“
Schaffensperiode. Die Uraufführung des „Oktetts“ wurde vom avantgardeorientierten
Pariser Publikum mit einem „scandale du silence“ (Jean Cocteau), einer ratlosen
Betretenheit, quittiert. Später wurde das Werk oft bejubelt.
Der Neoklassizismus
war nicht nur gegen das 19. Jahrhundert, sondern auch gegen die Moderne
gerichtet, die nach dem Ersten Weltkrieg rückhaltlos Neues erstrebte. Er
resultierte aus dem Bedürfnis nach traditionellen Werten. Außerdem bedeutete
er eine Absage an den Subjektivismus der romantischen und nachromantischen
Musik. (Man sprach auch von der „Neuen Sachlichkeit“.)
Strawinsky
lebte von 1920 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Frankreich. Er
hatte Beziehungen zur geistigen Elite in Paris. Von Jean Cocteau stammte der
Text zu „Oedipus Rex“. Bühnenbilder schufen für ihn Picasso, Matisse u. a.,
und er hatte Kontakt mit sehr vielen Komponisten (Fauré, Ravel, de Falla).
Jean Cocteau erhob die „simplicité“ zum Ideal einer nachromantischen und
nachimpressionistischen Ästhetik.
Insbesondere
nach 1918 gab es eine Reihe junger Komponisten, die sich als Neuerer verstanden:
die für eine Musik eintraten, die sich von der Tradition des 19. Jahrhunderts,
die ja im Schaffen einiger zeitgenössischer Komponisten noch fortgesetzt wurde
(Pfitzner, Richard Strauss), lossagte.
Die Spaltung
zwischen der Moderne und dem Erwartungshorizont des breiten Publikums wurde
immer tiefer. In die Programmgestaltung von Opernhäusern, Theatern und Konzert-Institutionen
mit ihren traditionellen Repertoires ließ sich die radikale Moderne nur schwer
einfügen. Viele Aufführungen zeitgenössischer Kompositionen wurden von heftigen
Tumulten begleitet. Es kam zu einer Aufspaltung des bürgerlichen Musiklebens.
Seit der Jahrhundertwende mehrten sich die Gründungen von Organisationen,
die der Förderung des zeitgenössischen Schaffens dienten. In ihrem Rahmen
konnten zeitgenössische Werke relativ ungestört aufgeführt werden. So gründete
beispielsweise Arnold Schönberg in Wien den „Verein für musikalische Privataufführungen“
und Hermann Scherchen in Berlin 1918 die „Neue Musikgesellschaft“. Wichtige
Veranstaltungen und Organisationen, die seit den zwanziger Jahren der Förderung
zeitgenössischer Musik dienten, waren die Kammermusikfeste in Donaueschingen
(seit 1921). 1921 wurde die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“
(IGNM), eine internationale Dachorganisation mit zahlreichen nationalen und
lokalen Sektionen, gegründet. Zeitschriften dienten der Förderung zeitgenössischer
Musik: so die „Musikblätter des Anbruch“ und „Melos“ (Gegründet 1920). „Melos“
blieb bis zu ihrem Verbot 1933 das wichtigste theoretische Organ der „Neuen
Musik“.
zu 3. Es
gab in den zwanziger Jahren eine sogenannte mittlere Musik:
Darunter wurde ein Musikbereich verstanden, der in seinem künstlerischen
Anspruch zwischen der „hohen“, absoluten Kunstmusik und der Trivialmusik angesiedelt
ist. Zu seinen Repräsentanten gehörten in Frankreich die „Groupe des Six“,
die seit 1918 existierte. Ihr gehörten Darius Milhaud, Arthur Honegger,
Francis Poulenc, Germaine Tailleferre, Georges Auric und Louis Durey an.
Wortführer der Gruppe war Jean Cocteau. In Deutschland spielte der Gedanke
einer „mittleren Musik“ u. a. für Hindemith, später auch Weill und Eisler
eine Rolle.
Die Idee
einer Musik ohne hohen künstlerischen Anspruch hatte schon Satie realisiert
in seiner Konzeption einer „musique d’ameublement“ (ameublement = Zimmer-,
Wohnungseinrichtung), die den Zuhörer von der Pflicht, aufmerksam zuzuhören,
entband. Satie setzte den Kunstanspruch der Musik herab, seine Musik hatte
eine objektivierende Tendenz, sie verzichtete auf starke Expression. 1917
schrieb er die „Sonatine bureaucratique“ für Klavier. Den künstlerischen Anspruch
bzw. die künstlerische Anspruchslosigkeit dieser Komposition, die nach der
Sonate op. 36 Nr. 1 von Clementi modelliert war, kommentierte er folgendermaßen:
„Eine einfache Anleihe... nicht mehr. Man muß nichts anderes dahinter suchen
als eine Laune“.
zu 4. 1925
kreierte der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler die Begriffe Darbietungsmusik und Umgangsmusik. Mit „Darbietungsmusik“
meinte Besseler die autonome Kunstmusik vor allem des 19. Jahrhunderts, die
er als eine Sonderentwicklung der Musikgeschichte auffasste, mit „Umgangsmusik“
eine im weitesten Sinne in das Leben der Menschen eingebundene Musik, mithin
den weit überwiegenden Teil von Musik überhaupt: z. B. Arbeitslieder, Tanzmusik,
Kirchenchoräle, d. h. Musik, die an konkrete außermusikalische Anlässe gebunden
war. Die „Umgangsmusik“ gewann nach Besselers Auffassung in den zwanziger
Jahren eine neue Bedeutung. Den Terminus Gebrauchsmusik
wies Besseler der kommerziellen Unterhaltungssphäre von Tanz und Film zu.
Der Terminus
„Gebrauchsmusik“ wurde jedoch unterschiedlich verwendet. Bertolt Brecht
z. B. bezog ihn anders als Besseler gerade nicht auf anlassgebundene, sondern
auf das selbstzweckhafte Musikmachen in der Jugendmusikbewegung, das er ablehnte
(Näheres siehe Wolfgang Lessing: Musik und Gesellschaft. Das Problem der
„Gebrauchsmusik“. In: Musikkultur in der Weimarer Republik. Hg. von Wolfgang
Rathert und Giselher Schubert. Mainz 2001. S. 180–188.)
Zu den
traditionellen Funktionsbereichen der Musik kamen neue hinzu: z. B. die politische
Musik in der Arbeiterbewegung und gänzlich neue Funktionsbereiche durch
die Entwicklung der Medien Film, Rundfunk und Schallplatte.
Der Rundfunk
machte es möglich, breitere Publikumsschichten zu erreichen. Ein großes Problem
waren in den Anfangsjahren die klanglichen Mängel bei der Übertragung. So
diskutierte man die Frage, welche Musik sich besonders für Rundfunkübertragungen
eigne. Es wurde u. a. spezielle Rundfunkmusik geschrieben. An der Hochschule
für Musik Berlin wurde eine Rundfunkversuchsstelle eingerichtet, die mit
„Rundfunkmusik“ experimentierte. Das Kammermusikfest in Baden-Baden 1929
war dem inhaltlichen Schwerpunkt „Rundfunkmusik“ gewidmet. Aufgeführt wurde
dort u. a. der „Lindberghflug“, ein Hörspiel von Bertolt Brecht mit der Musik
von Kurt Weill und Paul Hindemith.
Eine weitere
neue Möglichkeit, die sich durch die technische Entwicklung ergab, war die
Filmmusik (s. u.).
Die Entwicklung
der technischen Medien Schallplatte, Rundfunk und Tonfilm war auch eine wichtige
Voraussetzung für die massenhafte Verbreitung von Unterhaltungsmusik.
Sie gilt als eines der Markenzeichen der „Golden Twenties“ oder „Roaring Twenties“.
Nach dem
Ersten Weltkrieg verschob sich das Verhältnis zwischen der Alten und der
Neuen Welt in ökonomischer, politischer und militärischer Hinsicht. Auch
kulturell setzte eine „Amerikanisierung Europas“ ein. Hierbei spielte der
Jazz eine zentrale Rolle. Er schien das Gegenbild zur europäischen
Kulturtradition darzustellen und wurde als Repräsentant einer neuen Zeit
empfunden.
Der Jazz
hatte auch Einfluss auf die „Neue Musik“, Komponisten wie Strawinsky, Milhaud,
Krenek, Hindemith, Eisler, Berg, Weill u.v.a. verarbeiteten Jazz-Elemente
in ihren Kompositionen. 1926 schrieb Ernst Krenek seine Oper „Jonny spielt
auf“, die ein paar Jazz-Elemente enthält. 1927 wurde sie in Leipzig uraufgeführt;
sie blieb dort bis 1931 im Repertoire. „Jonny spielt auf“ soll das deutsche
Publikum in den zwanziger Jahren wie keine andere Oper fasziniert haben.
In der Spielzeit 1927/28 gab es 421 Aufführungen an 45 deutschsprachigen
Bühnen. Es gab jedoch auch Gegner der Oper, die Stör- und Protestaktionen
organisierten.
Es gab in
den zwanziger Jahren viele Versuche, ein neues Publikum zu gewinnen. Viele
Komponisten machten sich Gedanken um die gesellschaftliche
und politische Rolle ihrer Musik. Hier ist insbesondere Hanns Eisler
zu erwähnen, der eine alternative proletarisch-revolutionäre Musikkultur
aufzubauen versuchte.
Es gab in
der Weimarer Republik wichtige Impulse zur Demokratisierung des Musiklebens:
Sie ging u. a. aus von dem Pianisten und Politiker Leo Kestenberg, der von
1918 bis 1932 als Musikreferent im Preußischen Ministerium für Wissenschaft,
Kunst und Volksbildung arbeitete. Unterstützung erhielt Kestenberg durch
den Orientalisten C. H. Becker, der im Verlauf der zwanziger Jahre mehrmals
Kulturminister war. Zu Kestenbergs und Beckers Zielen gehörten die Volksbildung,
d. h. die Bildung aller Schichten des Volkes, die Öffnung der kulturellen
Institutionen für die gesamte Bevölkerung und die Schaffung von Bildungseinrichtungen.
Kestenberg wurde 1932 seines Amtes enthoben.
Entscheidend
für die Musikerziehung der zwanziger Jahre wurde die „Kestenberg-Reform“.
Sie betraf den gesamten Ausbildungsbereich Musik – von der musikalischen
Früherziehung bis zur Ausbildung an Musikhochschulen und Akademien. Kestenberg
wies der Musik- wie auch der Kunsterziehung einen gleichberechtigten Platz
in der Schule neben den wissenschaftlichen Fächern zu und stellte eine
Studienordnung für Musikerzieher auf; bisher hatte es auf diesem Gebiet anarchische
Verhältnisse gegeben. Es wurden Lehrpläne für die einzelnen Alterstufen
entwickelt.
Zu den größten
Organisationen des Musiklebens der zwanziger Jahre gehörte die Jugendmusikbewegung. Sie entstand zu Beginn der zwanziger Jahre.
Einige ihrer Wurzeln reichen zurück in die Jugendbewegung, die sich seit
1895 entwickelt hatte. Zu Beginn der Weimarer Republik gab es an den Schulen
kaum einen geregelten Musikunterricht, und den Erwerb eines Musikinstruments
und private Unterrichtsstunden konnten sich die meisten damals finanziell
nicht leisten. Das Ziel der Jugendmusikbewegung war der Aufbau eines neuen
Musiklebens, an dem jeder partizipieren könne.
Nach 1917
trafen erste Ansätze aus der Jugendbewegung mit musikerzieherischen und ästhetischen
Vorstellungen zusammen, deren Vertreter u. a. Fritz Jöde war. Jödes Ziel
war die Errichtung einer neuen Musikkultur, in der der von ihm festgestellte
„Riß zwischen Volk und Musik“ geschlossen werden könne. Dies vor allem dadurch,
dass Formen des Musizierens gefunden wurden, die allen ein aktives Mittun
ermöglichten, und dass Instrumente entwickelt wurden, die ein Mittun finanziell
möglich machten. Diese Funktion konnte die in den zwanziger Jahren entwickelte
Blockflöte übernehmen.
Die Musikpolitik
der Weimarer Republik bewegte sich im Spannungsfeld von fortschrittlichen,
demokratischen Ansätzen und reaktionären, politisch rechts stehenden Kräften.
„Die Neue
Musik der Weimarer Republik weist ein denkbar breites Spektrum von stilistischen
und ästhetischen Positionen auf, und es ist gerade diese Vielfalt, die dieser
Phase der Musikgeschichte ihre besondere Charakteristik verleiht... Als weiterer,
wesentlicher Bestandteil der Musikkultur der Weimarer Republik muß die in
jenen Jahren zu beobachtende allgemeine kulturelle Experimentierfreudigkeit
gelten.. Als Gegenbewegung zu Innovation und Experiment bildete sich gleichzeitig
allerdings eine immer deutlicher zutage tretende und kontinuierlich aggressiver
agierende konservative ‚Reaktion’ heraus“ (Schaal 2001, S. 229 f.). Die musikalische
Vielfalt der zwanziger Jahre steht in einem diametralen Gegensatz zu der Kulturpolitik
des späteren totalitären nationalsozialistischen Regimes (Schaal 2001, S.
233).
Das Sprachrohr
reaktionärer Tendenzen im deutschen Musikleben war in den zwanziger Jahren
die (1834 von Robert Schumann gegründete) „Neue Zeitschrift für Musik“. Mit
ihrem Schriftleiter Alfred Heuß legte sie sich 1923 den programmatischen
Untertitel „Kampfblatt für deutsche Musik“ zu. Bereits 1920 hatte man das
Attribut „neu“ aus dem Titel der Zeitschrift gestrichen. Unter Heuß entwickelte
sich die „Zeitschrift für Musik“ zu einem aggressiven, reaktionären Organ.
Heuß war Ende 1928 auch Gründungsmitglied des nationalsozialistisch beeinflussten
„Kampfbundes für deutsche Kultur“. Dessen Initiator war Alfred Rosenberg,
der seit 1919 Mitglied der Deutschen Arbeiterpartei – der späteren NSDAP
– und seit 1923 Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“ war. Weitere Gründungsmitglieder
des „Kampfbundes“ waren Mitglieder der Familie Wagner in Bayreuth.
Bei der
Bekämpfung alles Neuen tat sich auch der Komponist Hans Pfitzner (1869–1949)
hervor. Anfang 1920 wurde seine Schrift „Die neue Ästhetik der musikalischen
Impotenz“ veröffentlicht. Sie richtete sich vordergründig gegen den „Juden“
Paul Bekker, der als Musikredakteur der „Frankfurter Zeitung“ die Neue Musik
förderte. Bekker hatte eine Biographie über Ludwig van Beethoven veröffentlicht,
in der er u. a. Beethovens Bedeutung für die Musik der Gegenwart herausstellte.
Es gilt jedoch als sicher, dass sich Pfitzners Schrift insbesondere gegen
Arnold Schönberg richtete – obgleich der an keiner Stelle namentlich erwähnt
wird.
Pfitzner
sah bestimmte künstlerische Erscheinungen in unmittelbarem Zusammenhang mit
politischen Entwicklungen. Die Emanzipation der Dissonanz bei Arnold Schönberg
wurde gleichgesetzt mit den internationalen politischen Revolutionen; das
„atonale Chaos“ mit „Antideutschtum“, „Internationalismus“, „Amerikanismus“,
„Bolschewismus“ etc. Deutlich erkennbar war dabei eine antisemitische Einstellung.
Immer wieder begegnet in Schlagwörtern reaktionärer Kreise die Verbindung
der Begriffe „Bolschewismus“ – „Internationalismus“ – „Judentum“. Sie fand
Anwendung auf alle Bereiche des politischen und kulturellen Lebens.
Eine andere
Gefahrenquelle stellte für Pfitzner der „Amerikanismus“ dar. Er warnt
vor der „Jazz-Foxtrott-Flut“, die musikalischer Ausdruck dieses Europa
bedrohenden „Amerikanismus“ sei.
In den Jahren
nach 1918 erlebte in vielen europäischen Ländern ein schon lange vorhandener
Rassismus Höhepunkte. In Osteuropa gab es 1918 Judenpogrome. In Mitteleuropa
gab es antijüdische Maßnahmen sozialer und kultureller Organisationen.
Deutsche Burschenschaften z. B. führten für ihre Mitglieder den Ariernachweis
ein. Konservative Gruppierungen und Parteien griffen den Antisemitismus
auf.
In den zwanziger
und frühen dreißiger Jahren wurde viel rassistische Literatur in Deutschland
verbreitet, z. B. die „Rassenkunde des deutschen Volkes“ von Hans F. K.
Günther (1922) und „Die Nordische Seele“ von Ludwig Ferdinand Clauss (1930).
1932 wurde Richard Eichenauers „Musik und Rasse“ veröffentlicht. 1930 schrieb
Alfred Rosenberg – späterer „Chefideologe“ der NSDAP – den
„Mythus des 20. Jahrhunderts“.
In der
Kulturpolitik der zwanziger Jahre gab es zahlreiche restriktive Maßnahmen.
1926 debattierte der Reichstag über das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz.
Offiziell sollten damit Pornographie bekämpft und die Jugend geschützt werden.
Tatsächlich bot das Gesetz eine Handhabe gegen missliebige Literatur überhaupt.
In den zwanziger
Jahren gerieten neben der neuen atonalen Musik auch moderne, unkonventionelle
Inszenierungen traditioneller Opern ins Schussfeld konservativer Kritiker.
Die Berliner Kroll-Oper war der Inbegriff für bühnenreformatorische, avantgardistische
Arbeit in der Weimarer Republik. Klassische Opern sollten ohne das gewohnte
Pathos dargeboten und dem zeitgenössischen Musiktheater im Spielplan ausreichend
Platz eingeräumt werden. Im März 1931 hatten die Gegner solcher Neuerungen
ihr Ziel erreicht: Der preußische Landtag entschied bei Stimmenthaltung
der Sozialdemokraten, die Kroll-Oper unter dem Vorwand der schlechten Finanzlage
zu schließen.
Der Erfolg
des Jazz im Europa der zwanziger Jahre wurde von den musikalischen Ordnungs-
und Sittenwächtern mit Argwohn und Feindschaft wahrgenommen. Beispiele aus
der damaligen Presse:
„Es ist
Tatsache, daß in der Heimat Johann Sebastian Bachs, Mozarts und Richard Wagners
Hunderttausende sich an Niggersongs begeistern und sich nach kreischenden
Jazz-Rhythmen mit freudigster Hingebung zu zappelnden Marionetten machen.“
Es waren
nicht nur Anhänger der politischen Rechten, die sich öffentlich über den
Jazz erregten, sondern auch seriöse Vertreter der Musikwissenschaft: z.
B. Alfred Einstein (ein Vetter des Physikers Albert Einstein), der Jazz als
„den scheußlichsten Verrat an der abendländischen Zivilisationsmusik“ beschimpfte
(Albert Einstein, Geschichte der Musik, 3. Aufl. Leipzig/Berlin 1927, 130;
zit. nach John 1994, 285). Lautstark war das Gezeter über die „Negermusik-Invasion“,
die „schwarze Schmach“, die „amerikanische Maschinenkultur“. Jazz galt als
eine rein körperliche Musik ohne seelische und geistige Qualitäten. Seine
Ablehnung verband sich oft mit Vorstellungen von sexueller Ausschweifung.
Im August
1932 veröffentlichte der „Völkische Beobachter“ eine Zusammenstellung, die
als Vorläufer der Bücherverbrennungs- und Verbotslisten ab 1933 gelten kann.
Für den Fall einer nationalsozialistischen Regierungsübernahme kündigte
man das Verbot der Werke folgender Schriftsteller an: Feuchtwanger, Hofmannsthal,
Hasenclever, Klaus Mann, Sternheim, Toller, Werfel, Wedekind, Friedrich
Wolf, Stefan Zweig, Zuckmayer, Brecht, Leonhard Frank, Plivier, Carl Hauptmann
und Fritz von Unruh. Alle Personen gehörten – wenn sie nicht bald gestorben
waren – zu den Exilierten des Dritten Reiches (Walter 1972, 54).
Von der Kinomusik zur Filmmusik
Mit dem
Aufkommen der neuen technischen Massenmedien Film, Schallplatte, Rundfunk
(später dem Fernsehen) entstand der Musik ein neuer funktionaler Bereich.
Der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison hatte 1877 einen Phonographen
konstruiert. 1887 zeichnete Emil Berliner Schallereignisse erstmals auf Schallplatte
auf. Die Schallplatte wurde von Anfang an mehr als Tonspeicher, als „Konserve“,
denn als eigenständiges Medium aufgefasst. Nur wenige Kompositionen orientierten
sich an den besonderen technischen Gegebenheiten der Schallplatte. Dazu
gehört Igor Strawinskys (1882–1971) „Serenade en A“ aus dem Jahr 1921: Die
Länge ihrer vier Sätze wurde vom Komponisten auf die Vier-Minuten-Spieldauer
der damaligen Schellackplatten mit 78 Upm (Umdrehungen pro Minute) ausgerichtet.
Ganz andere
Ansprüche an die Musik stellte von Anfang an der Film.
Die erste
öffentliche Filmaufführung veranstalteten die Brüder Lumière am 28. Dezember
1895 im Pariser „Grand Café“ am Boulevard des Capucines.
Die ersten
Filme, die gezeigt wurden, waren stumm, d. h. sie enthielten weder Rede noch
Geräusche noch Musik als integrierende Bestandteile. Eigentlich jedoch war
der Film niemals stumm, denn immer gehörte zu ihm Musik. Während der „Stummfilm“-Zeit
gab es in den Kinos einen Pianisten oder ein Orchester, die das Filmgeschehen
musikalisch begleiteten. Die Koppelung eines Spektakels mit Musik war
nichts Neues. Sie war u. a. aus Ballett, Oper und Operette bekannt.
Für die
Praxis, Filme durch Musik zu begleiten, gibt es verschiedene Erklärungen:
Die einen
behaupten, die Aufgabe der Musik habe beim frühen Film lediglich darin bestanden,
die lauten Geräusche des Projektors, der mitten im Zuschauerraum aufgebaut
war, zu übertönen.
Andere Autoren,
z. B. Adorno und Eisler („Komposition für den Film“) weisen auf den Widerspruch
zwischen der Realistik der Filmbilder und der gänzlich irrealen Stille des
Stummfilms hin. Ein solcher Widerspruch musste beklemmend und gespenstisch
auf das Publikum wirken, und so habe man diesen Widerspruch durch Musik gemildert.
Im Stummfilm fehlten zu den sichtbaren Bewegungsabläufen die erwarteten akustischen
Korrelate; sie ersetzte man durch Musik.
Die frühen
Stummfilme wurden als proletarische Vergnügen auf Jahrmärkten oder in Hinterzimmern
von Kneipen und Variétés gezeigt.
In der Regel
spielte ein Pianist. Er improvisierte oder spielte das Repertoire, das er
gelernt hatte: oftmals romantische Charakterstücke etwa von Mendelssohn,
Schumann, Grieg, auch Salonstücke, Operettenmelodien und Gassenhauer. Das
Ergebnis war ein „musikalischer Flickenteppich“. In größeren Kinos gab
es Musikgruppen unterschiedlich starker Besetzung. Manchmal spielten Kaffeehaus-Orchester
ohne jegliche Rücksicht auf die Bilder ihre Potpourris.
Die musikalische
Besetzung sowie das Repertoire waren beim Stummfilm abhängig vom jeweiligen
Aufführungsort, wo „live“ gespielt wurde – daher „Kinomusik“ und nicht „Filmmusik“.
(Von „Filmmusik“ kann erst gesprochen werden, wenn eine Neukomposition exklusiv
für einen konkreten Filmtitel geschaffen wurde, nur zu ihm passt und bei jeder
Aufführung bildsynchron erklingt.)
An die Stelle
der dokumentarischen Bewegungsbilder traten abenteuerliche, phantastische,
spannende Geschichten: seit 1901 entstanden Spielfilme. Die Filme, die um
1903 entstanden, dauerten im Durchschnitt schon zehn Minuten und gliederten
sich in sieben bis acht Szenen.
1905 wurde
in Pittsburgh das erste Lichtspieltheater eröffnet, das erste Haus also, in
dem ausschließlich Filme gezeigt wurden. 1910 gab es in den USA bereits mehr
als zehntausend Kinos, in denen der Projektor nicht mehr mitten im Zuschauerraum,
sondern in einer schallisolierten Kabine aufgebaut war.
Zur qualitativen
Verbesserung des Films gehörte auch eine sorgfältigere Koordination von
Film und Musik. 1909 publizierte die 1908 in den USA gegründete „Motion Picture
Patents Company“ einen Band „Suggestions for Music“, der als Hilfsmittel
für Stummfilmpianisten gedacht war. In einer Titelliste verzeichnete er die
damals gebräuchlichsten Filmsituationen und unterbreitete in Form eines Klavieralbums
Vorschläge für deren musikalische Untermalung. So konnte der Spieler jeweils
zu den Szenen passende Stücke vorbereiten und sie mit Hilfe improvisierter
Überleitungen zu suitenartigen Gebilden verbinden. Auf einem „cue sheet“
waren neben inhaltlichen Stichwörtern die dazugehörigen Stücke notiert.
Das diente während der Vorführung als Gedächtnisstütze.
Es wurde
üblich, Sammlungen von musikalischen Standardnummern zu filmischen Standardsituationen
zusammenzustellen. Das Repertoire blieb dabei fast gleich. Besonders beliebt
waren jetzt auch die „Nocturnes“ von Chopin und Kompositionen von Massenet,
Rubinstein und Rachmaninow. Auch die Originalkompositionen, die darüber
hinaus angeboten wurden, waren nach spätromantischen Modellen geformt.
In der Folgezeit
wurden längere Filme, in denen beliebte Schauspieler auftraten, hergestellt.
Die Folge dieser Entwicklung war, dass die Produktionskosten, die um 1907
für einen der damals gängigen Einakter bei ca. 1.000 Dollar gelegen hatte,
binnen kurzem ums Zehn- und Zwanzigfache stiegen. Nur noch kapitalkräftige
Konzerne waren in der Lage, solche Filme zu finanzieren. In den Jahren 1912
bis 1920 gab es unzählige Firmengründungen, -fusionierungen und -liquidationen.
Aus diesem Konzentrationsprozess gingen einige Gesellschaften
hervor, die dem amerikanischen Film seine beherrschende Stellung auf dem
Weltmarkt sichern sollten: Fox (ab 1935 Twentieth Century Fox), Universal,
Warner Brothers, Metro und Goldwyn (1924 zur MGM verbunden), Paramount, First
National (1928 von Warners aufgekauft) und United Artists.
Um 1914
gab es abendfüllende Filme. 1915 vollendet Griffith mit „Birth of a Nation“
das erste amerikanische Dreistunden-Spektakel.
Die Filme
wurden nun in firmeneigenen aufwendig und luxuriös ausgestatteten Uraufführungspalästen,
die an Theater erinnerten, dargeboten. Eine Elektro-Orgel wurde von der amerikanischen
Firma „Wurlitzer International“ entwickelt: Mit ihrer Hilfe konnten orchesterähnliche
Wirkungen erzielt werden. Die größeren Kinos engagierten eigene Ensembles:
Orchester, die bis zu 80 Musiker umfassten.
Ein weiterer
Schritt waren „Kinotheken“, Sammlungen von Musikstücken, katalogisiert
nach verschiedenen Stimmungen und typischen Situationen, die in einem Film
auftreten können. Sie sollten dem Kinopianisten, -organisten oder -kapellmeister
die Auswahl von geeigneten Musikstücken erleichtern. Neben populärer Musik,
Salonmusik und Schlagern enthielten sie auch eigens komponierte Musikstücke,
die in bestimmte filmische Zusammenhänge passten. Die Kino-Kapellmeister
konnten anhand eines Stichwortkatalogs geeignete Materialien abrufen; sie
arrangierten sie und verbanden die einzelnen Nummern mit Hilfe überleitender
Passagen, die auf Wunsch gleich mit bezogen werden konnten, zu Suiten, die
dann in jeder Vorführung live gespielt wurden. Bekannte Sammlungen jener Jahre
waren Giuseppe Becces „Kinothek“ (1919) und die „Motion Picture Moods“ von
Ernö Rapée (1924).
Als Pendant
zu den Klavier-Kinotheken gab es für die Orchester der amerikanischen Filmpaläste
bald Sammlungen von orchestralen Stimmungsbildern, die für filmische Untermalung
geeignet erschienen, so z. B. das „Thematische Skalenregister“ aus dem „Allgemeinen
Handbuch der Film-Musik“ von Hans Erdmann und Giuseppe Becce (1927). Es nannte
dem Kapellmeister die Satzanfänge von passenden Stücken für alle gebräuchlichen
Szenen und Stimmungen; die Zurichtung der Stücke auf passende Länge und erforderliche
Besetzung blieb dem Dirigenten überlassen. Das Repertoire bestand aus Orchesterfassungen
romantischer Charakterstücke; Originalkompositionen; Auszügen aus Orchestermusik
und Opern. Die Extrakte aus Kompositionen wurden bearbeitet: mit Einleitungen
und Schlusswendungen versehen, zu Nummern abgerundet, vereinfacht, transponiert,
die Besetzung wurde verändert etc.
Der Versuch,
kompilierte Musik durch eine speziell für einen Film komponierte Musik zu
ersetzen, wurde anfangs vor allem in Frankreich unternommen. Zu diesem
Zweck gründete man 1908 eine neue Gesellschaft mit dem Firmennamen „Film
d’art“. Durch eine verbesserte künstlerische Qualität sollte das Bürgertum
zum Kinobesuch motiviert werden.
Dieses Beispiel
fand jedoch kaum Nachahmung. In den Kinos gab es zu wenige leistungsfähige
Orchester, und solche Filme waren mit zu hohen Kosten verbunden. Auch wenn
Originalkompositionen vorhanden waren, dann war nicht garantiert, dass
sie in jedem Kino erklangen. So sahen sich vor allem Kinotheater der Provinz
nicht verpflichtet, sie zu verwenden, sei es, weil man die Musik für das
hauseigene Publikum ungeeignet fand oder weil sie vom Hausorchester oder
-pianisten nicht zu bewältigen war.
In Europa
arbeiteten einige bekannte Komponisten vorübergehend für den Film: 1913
Ildebrando Pizzetti, 1915 Pietro Mascagni, nach 1920 vor allem Arthur Honegger
(Mouvement Symphonique „Pacific 231“), Paul Hindemith (1921 Musik zu dem
Film „Im Kampf mit dem Berg“), Darius Milhaud, Jacques Ibert, Erik Satie
(„Entr'acte“, ein absurd-dadaistischer Film von René Clair), Florent Schmitt,
Ernst Toch, Dimitri Schostakowitsch („Das neue Babylon“ von Kosintzew /
Trauberg). Engelbert Humperdinck (1854–1921) komponierte die Musik zu
dem Film „Schwester Beatrix“. Richard Strauss (1864–1949) schrieb 1926
für eine Verfilmung seiner Oper „Der Rosenkavalier“ (1911) eine neue
Fassung der Partitur. Sie nahm auf die Besetzung damaliger Filmtheateraufführungen
Rücksicht und passte sich auch in ihrer Länge den filmischen Szenen an.
Arthur Honeggers
(1892–1955) „Pacific 231“ ist ein symphonischer Satz, der auf der Musik zu
dem 1923 entstandenen Film „La roue“ (Das Rad) von Abel Gance aufbaut. Er
stellt das Anfahren, In-Fahrt-Kommen und Abbremsen einer schweren Lokomotive
musikalisch dar, übersetzt deren Geräusche und Bewegungen ohne grob naturalistische
Nachahmungen in Klang. Honegger arbeitete die Filmmusik später zu einem
Stück „absoluter“ Konzertsaalmusik um: ein Verfahren, das auch andere Komponisten
anwandten, um ihre Filmkompositionen durch Entkoppelung von der meist schnell
verderblichen „Ware“ Film vor dem Vergessen zu bewahren. In den zwanziger
Jahren stieß Filmmusik auf das Interesse einiger jüngerer Komponisten. Unter
dem Eindruck der technischen Entwicklung war Filmmusik ein zentrales Thema
der Musiktage in Baden-Baden 1927–1929, bei denen Tonfilme mit Kompositionen
von Paul Hindemith, Darius Milhaud, Ernst Toch, Paul Dessau, Hanns Eisler
u. a. aufgeführt wurden.
Die ersten
Versuche, Bilder und Töne auch technisch zusammenzubringen, reichen in
die Frühzeit der Filmgeschichte zurück. Im 19. Jahrhundert trieb Edison
sie in den USA voran, Léon Gaumont in Frankreich und Oskar Messter in Deutschland
wenig später. Alle diese Versuche liefen darauf hinaus, eine außerhalb des
Filmprojektors aufgebaute Tonanlage durch den Filmstreifen selber steuern
zu lassen. Dabei gab es Synchronprobleme, und die Versuche gerieten in Vergessenheit.
In den USA
wurde später ein System entwickelt, das die Gleichlaufschwierigkeiten beheben
konnte. Die Produktionsfirma Warner Brothers griff die neue Technik sofort
auf. Sie holte den Star der amerikanischen Music-Halls, Al Jolson, und
rückte ihn und seine Songs in den Mittelpunkt einer Fabel: „The Jazz Singer“.
Die Premiere dieses Films fand 1927 statt, sie war ein großer Erfolg. Warner
Brothers stellten ihre gesamte Produktion auf Tonfilm um.
Beim Übergang
vom Stummfilm zum Tonfilm gab es Widerstände. Produzenten befürchteten, sie
müssten ihre Studios und Kinos neu ausrüsten, dass die Produktionskosten ins
Immense steigen u. a. Die Musikverleger sahen ihre Profite aus dem Verleih
der Kinothek-Materialien gefährdet, und die Filmmusikerverbände bangten
um die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder. Tatsächlich brachte die Einführung
des Tonfilms im Jahr 1930 allein in Deutschland ca. 12.000 Kinomusiker um
ihre Existenz.
Grundsätzlich
unterscheidet sich die Praxis im Tonfilm von der „cue-sheet“- und Kinothek-Praxis
der Stummfilmära in folgenden Punkten: Zu jedem neuen Film entsteht eine
eigens dafür geschriebene Musik. Sie wird meist von einem einzigen Komponisten
bereitgestellt und wird im Studio aufgenommen. Sie ändert sich nicht von
Vorführung zu Vorführung.
Der Wechsel
von der kompilierten zur komponierten Begleitmusik führte dazu, dass die großen
Produktionsgesellschaften selber Orchester unterhielten. Zu den neu entstandenen
„Music Departments“ (Musikabteilungen) gehörten Komponisten, die fest angestellt
waren und deren exakt auf die konkreten Erfordernisse eines jeden Films
ausgerichteten Partituren automatisch in den Besitz der Produktionsgesellschaft
übergingen. Außer dem Komponisten gab es den Arrangeur; die Musik musste
meist innerhalb von kurzer Zeit arbeitsteilig hergestellt werden. – In
den fünfziger Jahren, als der Film u. a. gegen die Konkurrenz des Fernsehens
zu kämpfen hatte, wurden die Music Departments aufgelöst und Komponisten,
Arrangeure, Bearbeiter, Songwriters, Dirigenten und die Orchestermusiker
aus ihren Verträgen entlassen. Sie wurden nur noch für bestimmte Projekte
engagiert oder angemietet. Die aufwendigen sinfonischen Partituren wurden
zunehmend ersetzt durch eine einfachere Musik. Eingeführt wurde in vielen
Filmen ein „Main Title“, ein „Titelsong“, der leichter vermarktet werden
konnte als eine umfangreiche Komposition.
Seit den
fünfziger und sechziger Jahren rechnete das Filmgeschäft außerdem mit jugendlichen
Zuschauern. Um die Jugendlichen zu gewinnen, musste man an deren musikalische
Erfahrungen und Erwartungen anknüpfen. So brachten diese Jahre die Ausrichtung
der Filmmusik auf die Genres der Populärmusik; das bisher dominierende
spätromantische Klangbild wurde aufgegeben.
Schon in
den zwanziger Jahren entstanden die Prototypen für alle auch später verwendeten
filmischen Kompositionstechniken, nämlich die „deskriptive Technik“, die
„Mood-Technik“, die „Leitmotiv-Technik“ und die „Baukasten-Technik“. (Manche
Autoren unterscheiden nur zwei oder drei Techniken.)
Deskriptive
Technik: Das Bild wird ergänzt durch musikalische Imitation, die Imitation
von Geräuschen oder die Unterstreichung von Bewegungen. Dergleichen gab es
in der Stummfilmzeit: Schlagzeuger unterstützten den Kinopianisten, indem
sie zu bestimmten Bildern passende Geräusche erzeugten. Dazu verwendeten sie
neben allerlei Schlagwerk eine Vielzahl von Vorrichtungen zur Erzeugung
naturalistischer Effekte. Neben Wind-, Donner- und Regengeräuschen gehörte
die klangliche Nachahmung von Schüssen, Ohrfeigen, Pferdegetrappel und Eisenbahnrattern
zu den Standardeffekten des Kinos. Die deskriptive Technik findet derzeitig
fast nur noch im Zeichentrickfilm und in der Komödie Verwendung, dies insbesondere
in der extremen Form des „Mickeymousing“. Dabei werden oft reine Geräusche
verwendet, eine musikalische Stilisierung erübrigt sich.
Mood-Technik:
Bei der Mood-Technik werden den zu vertonenden Filmszenen Tonbilder zugeordnet,
die den Stimmungsgehalt der visuellen Vorgänge unterstreichen sollen. Im
Unterschied zur deskriptiven Technik, die bemüht ist, visuelle, aber auch
seelische Vorgänge nachzuzeichnen, geht es bei der Mood-Technik eher um die
Vermittlung nicht sichtbarer Befindlichkeiten der Protagonisten. Ähnlich
wie in einem Charakterstück oder einer Arie der Barockzeit wird jeweils nur
ein Affekt vermittelt.
Leitmotiv-Technik:
Ein Motiv oder Thema ist mit einer Person, Situation oder außermusikalischen
Idee gekoppelt. Die Leitmotiv-Technik sorgt für eine stärkere Geschlossenheit
der Filmmusik. Leitmotive fungieren in der Art von musikalischen Zitaten,
deren Bedeutung sich im Verlauf des Musikdramas bzw. Filmes erschließt. Beispiele
der Leitmotiv-Technik finden sich u. a. in Fritz Langs Stummfilm „Die Nibelungen“
(1924). Ganz dem Erbe Richard Wagners verpflichtet, hat der Komponist Gottfried
Huppertz jede Person und jeden Gegenstand von Bedeutung mit Leitmotiven
versehen. Dem Komponisten war seine Musik als Beitrag zu dem Gesamtkunstwerk
Film sehr wichtig.
Die Leitmotiv-Technik
wurde in der dreißiger und vierziger Jahren in den Filmmusiken von Max Steiner
(Hollywood) perfektioniert. Max Steiner (1888–1971), ein Schüler Gustav Mahlers,
gehörte der ersten Generation der Hollywood-Komponisten an. Er schrieb u.
a. die Musik zu „King Kong“ (1933), „Gone with the Wind“ (1939), „Casablanca“
(1943).
Der Film zeigt im ersten Teil („Ein Arbeitloser weniger“) die vergebliche Jagd nach Arbeit und den Selbstmord eines Arbeitslosen. Teil zwei („Das schönste Leben eines jungen Menschen“) handelt von der Ausweisung der Familie Bönike wegen Mietschulden aus ihrer Wohnung und ihrem Umzug in die Zeltkolonie Kuhle Wampe am Müggelsee, wo bereits Fritz, der Freund von Bönikes Tochter Anni, lebt. Anni wird schwanger, Fritz entschließt sich widerwillig zur Verlobung – eigentlich möchte er lieber seine „Freiheit“ behalten. Die Verlobungsfeier artet in ein Besäufnis aus. Teil drei („Wem gehört die Welt?“) „setzt der bisher geschilderten Misere ein großes kämpferisch-solidarisches Ereignis entgegen“ (Schebera 1998, S. 96): ein Arbeiter-Sportfest und dessen Vorbereitung. Anni und Fritz sind unter den Sportlern. In der Schlusssequenz, die die Heimfahrt in der S-Bahn zeigt, löst eine Zeitungsmeldung über Brasilien, wo Kaffee (wegen Überproduktion und um die Preise nicht sinken zu lassen) verbrannt wird, eine heftige politische Diskussion zwischen konservativen Bürgern und den jungen Arbeitern aus, die die Welt verändern wollen.
Die Musik:
In Fritz Langs Nibelungen-Film, einem
Stummfilm, knüpfte der Komponist Huppertz an das Musikdrama Wagners an: er
verwendete Leitmotivtechnik, die Musik bildet einen ununterbrochnen sinfonischen
Fluss. Eislers künstlerische Absichten waren mit diesem spätromantischen Stil
nicht vereinbar. Außerdem wechseln „Kuhle Wampe“ – einem Tonfilm – gesprochener
Text und Musiknummern. Eislers Musik wirkt relativ karg. Gerade dadurch erregt
sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers bzw. Zuschauers. Eislers Musik ist nicht
illustrierend, sie untermalt nicht bestimmte Vorgänge und Motive, sondern
sie stellt eigene Ansprüche an den Zuhörer bzw. Zuschauer, „verlangt eine
gewisse geistige Mitarbeit des Publikums“ (ein damaliger Kritiker, zit. nach
Schebera 1998, S. 100). 1931/32 stellte Eisler aus der Musik zu „Kuhle Wampe“
die „Suite für Orchester Nr. 3“ zusammen.
„Eislers Musik arbeitet sowohl kontrapunktisch
als auch verstärkend zum Bild“ (Schebera 1998, S. 96). Zu Beginn, wo Dokumentarbilder
von den Berliner Arbeiter- und Fabrikvierteln gezeigt werden, erklingt rasche,
polyphon und streng strukturierte Musik mit Marcato-Charakter, die weit entfernt
ist von Sentimentalität. Kontrapunktische, rondoartige Musik zu Bildern von
Arbeitslosen, die auf dem Fahrrad von Fabrik zu Fabrik hetzen, um Arbeit
zu bekommen, aber überall abgewiesen werden.
Es folgt ein Instrumentalsatz mit
Intermezzofunktion („Natur“), in den die Ballade „Die Spaziergänge“, von Helene
Weigel aus dem Off gesungen, einmontiert ist; das szenische Geschehen dazu:
Anni und Fritz gehen im Wald spazieren, und „das Spiel der Geschlechter erneuert
sich“. Im zweiten Teil des Films werden auch (damals) populäre Musiknummern
zitiert. So erklingen z. B. aus dem Radio („Berliner Funkstunde“) Armeemärsche
– die u. a. einen Gegensatz darstellen zu Eislers „Solidaritätslied“, das
ja ebenfalls ein Marsch ist. Außerdem singen die Gäste der Verlobungsfeier
das (unsterbliche) „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ und den Schlager „Schöner
Gigolo, armer Gigolo“; beide Nummern repräsentierten für Eisler vermutlich
den Geschmack der Kleinbürger, die sich hier bei einem Besäufnis zu amüsieren
versuchen.
Zentrales Thema des dritten Teils
des Films, dessen politische Botschaft unmissverständlich ist, ist die Solidarität
– ein scharfer Gegensatz zu der Tristesse und Perspektivlosigkeit des ersten
und zweiten Teils. Es erklingen verschiedene Fassungen des „Solidaritätsliedes“
(„Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke besteht“; Titel auch „Sonntagslied
der freien Jugend“)
Das „Solidaritätslied“
war für die Straße bestimmt, es hat Marschcharakter. Jedoch: „Die dem Marsch
eigene Disziplin ist nicht die sture des preußischen Drills, sondern durch
sachte Jazz-Elemente ins Leichte, Elegante, Überlegene geführt, und die
metrischen Verkürzungen im Refrain wenden sich gegen Unterwerfung unter das
Schema“ (Brecht-Liederbuch 1985, S. 455).
Es gibt verschiedene Textfassungen dieses Liedes, denn der Text eines Kampfliedes muss immer aktuell sein.
Im Spätsommer 1931 begannen die Dreharbeiten
zu „Kuhle Wampe“. Am Müggelsee in Berlin entstanden unter Mitwirkung vieler
Arbeitersportler, der Agitproptruppe „Das rote Sprachrohr“ sowie zweier Chöre
die Sportfest-Sequenzen. Auch im Wedding wurde gedreht; dort soll der Hauptdarsteller
Ernst Busch bereits sehr populär gewesen sein.
Die Arbeit an „Kuhle Wampe“ war Anfang
1932 abgeschlossen. Im März lag der Streifen bei der Filmprüfstelle Berlin
und wurde verboten, weil er die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie
lebenswichtige Interessen des Staates gefährde. Es gab Protestveranstaltungen
gegen dieses Verbot. Die Filmprüfstelle nahm sich den Film nochmals vor und
monierte eine Sequenz, in der Arbeitersportler nackt ins Wasser springen,
als „sittlich anstößig“. Nachdem sich die Filmgesellschaft mit mehreren Schnitten
einverstanden erklärt hatte, wurde der Film freigegeben, allerdings nur in
einer gekürzten Fassung.
Mit über zehnwöchiger Verspätung
hatte „Kuhle Wampe“ am 30. Mai 1932 in Berlin Premiere und wurde rasch zu
einem Massenerfolg in den deutschen Kinos. Zwei Wochen vorher war der Film
in Moskau uraufgeführt worden.
zum Begriff:
„Der Begriff ‚Kabarett’ (frz. cabaret),
nur unscharf von den verwandten Begriffen Varieté, Music hall, Brettlbühne
abgegrenzt, bezeichnet einen Ort mit Aufführung und gleichzeitigem Restaurationsbetrieb“
(„Kabarett“, MGG, Sp. 1601). Seit dem 19. Jahrhundert wird der Begriff „cabaret“,
der seit Jahrhunderten gebräuchlich war, im Sinne von literarischer Kneipe
und Kleinkunstbühne mit Restaurationsbetrieb verwendet.
zur Geschichte:
Den Beginn des modernen Kabaretts
markiert die Gründung des „Chat noir“ im Jahr 1881 auf dem Montmartre in Paris.
Dort trat ab 1890 Yvette Guilbert (1867–1944) auf, die als der Modell-Typus
der „diseuse“ gilt („Kabarett“, MGG, Sp. 1602). Fester musikalischer Bestandteil
des französischen Cabarets war das Chanson (das eine Jahrhunderte alte Tradition
hat: vgl. „Chanson“,
MGG, Bd. 2). Charakteristisch
für den Vortrag im Kabarett war der Sprechgesang, ein Wechsel zwischen Gesang
und Parlando. Das Chat noir, das 1897 geschlossen wurde, wurde Vorbild für
zahlreiche Kabaretts.
Die Kabarettbewegung in Deutschland
nahm ihre Anfänge in Berlin und München. Sie war stark beeinflusst vom französischen
Cabaret. 1897 gastierte Yvette Guilbert in Berlin und wurde dort gefeiert.
Zahlreiche deutsche Literaten, so etwa Otto Julius Bierbaum, setzten sich
für das Kabarett ein; es sollte einen Gegensatz zu den Amüsierbetrieben, Varietés
und Singspielhallen bilden.
Am 18. Januar 1901 eröffnete Ernst
von Wolzogen in Berlin das erste deutsche Kabarett: das „Überbrettl“. Das
Programm bestand aus einer Mischung von Tanzszenen, Pantomimen, Dramoletten,
Sketchen und Liedern. Politische Tagessatire fehlte aufgrund der strengen
Zensur. Es entstand eine Reihe von Kabarett-Chansons, die zu erfolgreichen
Schlagern wurden. Textdichter waren Otto Julius Bierbaum und Ernst von Wolzogen;
Komponisten Oscar Straus, Waldemar Wendland, B. Zepler, V. Hollaender und
Rothstein. Arnold Schönberg komponierte 1901 acht Brettl-Lieder nach Texten
von Bierbaum, Wedekind u. a.
Max Reinhardt gründete mit anderen
zusammen das Kabarett „Die Galgenbrüder“, wo Christian Morgenstern seine „Galgenlieder“
und seinen „Palmström“ aufführte.
1901 folgte eine Vielzahl von Kabarett-Gründungen
in Berlin, so u. a. Max Reinhardts „Schall und Rauch“. Die musikalischen Repertoires
der Berliner Kabaretts waren sehr unterschiedlich: Sie enthielten sozialkritische
oder unterhaltsame Chansons, Gassenhauer, Schnulzen, Songs etc. Im deutschen
Kabarett entstand das Bänkellied, das dem Chanson verwandt war: „Lieder mit
‚pikanter’ Note, mit frivol-erotischen Anspielungen, politisch-satirische
Stücke oder auch Literaturparodien“ („Chanson“, MGG, Sp. 613). Vor allem in
Berlin entstand ein eigenständiger Chanson-Typus, der aus einer Verbindung
von Moritat und Chanson hervorging. Unter dem Einfluss des Jazz drang auch
der Song in das Kabarett ein.
1904 machte Rudolf Nelson sein erstes
eigenes Kabarett in Berlin auf: den „Roland von Berlin“. 1907 gründete er
– in Anlehnung an das berühmte Pariser Vorbild – das Kabarett „Chat noir“.
Als eine der bekanntesten Chansonsängerinnen trat hier – sowie in anderen
Berliner Kabaretts – Claire Waldoff auf.
In Berlin trat auch Otto Reutter
hervor, der seine Couplets selbst schrieb. Die berühmtesten: „In fünfzig Jahren
ist alles vorbei“ und „Ick wunder mir über jahnischt mehr“.
1901 wurde in München das Kabarett
„Die elf Scharfrichter“ gegründet. Es hatte einen hohen künstlerischen Anspruch,
und an ihm wirkten renommierte Autoren, Regisseure, Komponisten und Schauspieler
mit: vor allem Frank Wedekind (1864–1918), der seine eigenen Lieder zur Laute
vortrug.
Die Programme bestanden aus Literaturparodien,
Einaktern und dramatischen Szenen, Puppenspielen, Sketchs, Lyrik-Rezitationen
und vor allem Chansons. „Die Palette der Chansons reicht in der Weimarer Zeit
vom harmlosen Ulk bis zum schärfsten politischen Angriff“ („Chanson“, MGG,
Sp. 613).
1896 wurde in München die politisch-satirische
Zeitschrift „Simplicissimus“ gegründet. Nach ihr wurde ein Kabarett benannt:
„Simpl“, in dem seit 1909 u. a. Joachim Ringelnatz auftrat. – In München traten
auch Karl Valentin mit Liesl Karlstadt hervor.
In Berlin wurde nach dem Ersten Weltkrieg
der zweite „Schall und Rauch“, wieder von Max Reinhardt ins Leben gerufen,
eröffnet. Hier traten u. a. hervor: Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Klabund,
Joachim Ringelnatz und die Komponisten Friedrich Hollaender und Werner Richard
Heymann; Interpreten waren: Gussy Holl, Blandine Ebinger, Rosa Valetti, Paul
Graetz; John Heartfield und George Grosz schufen die Ausstattung. Zu den
berühmtesten Interpreten von Tucholskys Liedern gehörte Ernst Busch. Viele
von ihnen vertonte Hanns Eisler.
Zu den wichtigsten Autoren des literarischen
Chansons nach 1918 gehörten Klabund (eigentlich Alfred Henschke) und Walter
Mehring, der – von den Nazis verfolgt – 1933 nach Paris und 1941 in die USA
flüchtete. Einer der bedeutendsten Chanson-Komponisten der zwanziger Jahre
war Mischa Spoliansky.
Weitere bekannte Berliner Kabaretts
waren: „Größenwahn“, „Rakete“, „Die Rampe“, „Kabarett der Komiker“ (Kadeko),
„Die Wespen“. In der von Trude Hesterberg 1921 eröffneten „Wilden Bühne“ sang
außer Hesterberg selbst Margo Lion, eine Deutschfranzösin. Auch Bertolt Brecht
trat hier auf. Erich Kästner schrieb für zahlreiche Berliner Kabaretts Chansons.
Die Jahre zwischen 1918 und 1933 werden oft als die Blütezeit des deutschen
Kabaretts bezeichnet. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs entfiel die
Zensur. „Nun war plötzlich, fast über Nacht, all das möglich, was bis dahin
undenkbar schien – Zeitkritik, Polemik und Pointen, die auf Veränderung und
Erneuerung zielten“ (Kühn 2001, Bd. 2, S. 13). Das Kabarett sah sich weitgehend
in der Rolle der Opposition. Kurt Tucholsky äußerte die Überzeugung, dass
Satire alles dürfe, dass ihr alles erlaubt sei (ebd.). Prägend waren für
viele (z. B. Tucholsky, Klabund, Mühsam) die Erlebnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit,
der Revolution und Inflation.
1922 soll es in Deutschland ca. 200
Kabaretts gegeben haben – wovon viele jedoch sich zwar mit dem Etikett Cabaret
schmückten, jedoch reine Vergnügungsstätten mit niveauloser Unterhaltung
waren (Kühn 2001, Bd. 2, S. 79). Nicht alle Kabaretts waren politisch engagiert,
sozial- und systemkritisch. Es gab viele Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack.
„Bald triumphierten Revue-Rummel und Tingeltangel-Späße über die messerscharfe
Zeitsatire“ (Kühn 2001, Bd. 2, S. 14). Auch fand nach der Abschaffung der
Zensur eine indirekte Zensur statt, indem man gegen Kritiker etwa mit juristischen
Paragraphen vorging, sie des Landesverrats, der Verächtlichmachung religiöser
Gefühle, der Beleidigung, Pornographie u. a. beschuldigte. Zu den prominenten
Opfern dieser Art von Zensur gehörte Erich Weinert. Für ihn gab es viele
Auftrittsverbote, Polizei schritt ein, ihm drohte eine Gefängnisstrafe, seine
Schallplatten wurden konfisziert und vernichtet (Kühn 2001, Bd. 2, S. 253).
Es waren vor allem Rudolf Nelson
und Friedrich Hollaender, die für das Kabarett die „Kleine Revue“ – auch „Revuette“
genannt – kreierten. Sie war formal beeinflusst von den großen Ausstattungsrevuen,
jedoch kleiner dimensioniert. In der Kabarettrevue verband – anstelle der
bisherigen losen Nummernfolge – ein locker geknüpfter Handlungsfaden die
einzelnen Darbietungen. Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Friedrich Hollaender
und Marcellus Schiffer, Erich Kästner und Fritz Grünbaum schrieben für Kabarettrevuen.
1923 gastierte bei Rudolf Nelson
Josephine Baker, und dort begann ihr europäischer Ruhm. Gustaf Gründgens,
Margo Lion (Ehefrau von Marcellus Schiffer), Marlene Dietrich, Hilde Hildebrandt
und Grete Weiser spielten und sangen bei ihm. Nach Hitlers Machtergreifung
ging Nelson mit seinem Ensemble auf Auslandstournee. In Holland gründete er
ein Kabarett. 1960 starb er.
Friedrich Hollaenders Kabarettrevuen
waren satirischer, zeitkritischer und aggressiver als die von Nelson. Darin
sang u. a. Blandine Ebinger, mit der Hollaender von 1919 bis 1926 verheiratet
war. 1931 eröffnete Hollaender das „Tingel-Tangel“, wo er politisches Kabarett
machte. 1933 ging Hollaender ins Exil.
Seit 1924 entstand unter dem Einfluss
in Westeuropa gastierender sowjetischer Agitprop-Truppen das politische Agitations-Kabarett
mit Erwin Piscators (1893–1966) Revue „Roter Rummel“. Agitprop-Truppen wie
die „Roten Raketen“, „Rote Schmiede“ und „Roten Blusen“, die sich meist aus
Laiendarstellern zusammensetzten, traten als Straßentheater auf.
In dem 1929 von Werner Finck (1902–1978)
gegründeten Kabarett „Katakombe“ wurde literarische und politische Satire
geboten. Mitwirkende waren: Werner Finck, Kate Kühl, Hanns Eisler und Ernst
Busch. Zu den bekanntesten Chansonautoren gehörten Erich Mühsam, der 1934
im Konzentrationslager Oranienburg ermordet wurde, und Erich Weinert, der
1933 ins Exil ging. 1935 wurde die „Katakombe“ von den Nationalsozialisten
geschlossen und Finck kurzzeitig inhaftiert.
Seit 1933 gab es zahlreiche Kabaretts
im Exil. In Deutschland kamen viele bekannte Kabarettisten in Konzentrationslager,
und selbst dort fanden Kabarettveranstaltungen statt: so z. B. in den KZs
Dachau, im Durchgangslager Westerbork und in Theresienstadt.
zentrale Merkmale des Kabaretts:
Das Kabarett ist eine multimediale
Gattung, die aus den verschiedensten Bereichen und Genres – aus Sprech-, Tanz-
und Musiktheater und Zirkus – Anregungen erhält. Es ist kein einheitlicher
Gattungstyp. Feste Bestandteile des Kabaretts sind das Nummernprogramm und
die Conférence. Einzelne Nummern werden miteinander verknüpft, gelegentlich
stehen sie in einem thematischen Zusammenhang. Eine wichtige Rolle spielt
die Musik.
Um 1900 entstand der Typus des deutschen
Kabarett-Chansons, häufig auch Brettl-Lied genannt. Es handelt sich dabei
um „literarisch geprägte“ Lieder, die als Kunstform verstanden wurden, jedoch
zugleich populären Unterhaltungsbedürfnissen dienen sollten („Kabarett“, MGG,
Sp. 1606). Sie gliedern sich meist in Strophen mit Refrain. Zu den wichtigen
textlichen und musikalischen Stilmitteln gehören Parodie, Zitat und Montage.
Im Unterschied zum Schauspieler identifiziert
sich der Kabarettist nicht mit den von ihm dargestellten Rollen. „Dieser
Rollentypus, der sowohl Identität als auch Distanz zu den dargestellten Inhalten
ermöglicht, bedingt wesentlich den Antiillusionismus und die offene Kommunikationssituation
des Kabaretts. Insofern nimmt der Rollentypus des Kabarettisten Aspekte des
epischen Theaters, Verfremdungseffekt und gestische Schauspieltechnik für
sich in Anspruch. Als weiteres wesentliches Element des Kabaretts ist die
Improvisation als Folge des Interaktionsprozesses zwischen Publikum und Darsteller
zu begreifen“ („Kabarett“, MGG, Sp. 1607).
Begriff
„‚Schlager‛ bezeichnet im deutschen
Sprachraum seit etwa der Jahrhundertwende die im Zusammenhang mit der durchgreifenden
Kommerzialisierung des Musikbetriebs entstandene Form des populären Liedes“
(Wicke, MGG, Sp. 1063). Der Begriff kam um die Mitte des 19. Jahrhunderts
in der österreichischen Handelssprache für Verkaufserfolge auf und wurde bald
auf erfolgreiche Musikstücke übertragen (Wicke, MGG, Sp. 1063). Er umfasste
im 19. Jahrhundert Stücke verschiedener Genres: Tanzmelodien, Einzelstücke
aus Operetten oder Singspielen, Opernarien, Sätze aus sinfonischen Werken,
Couplets, Gassenhauer, volkstümliche Lieder u. a. (Wicke, MGG, Sp. 1064).
„Erst als die Komponisten dazu übergingen,
ihre Kompositionen an den einmal zu Erfolg gekommenen Stücken zu orientieren
und die Verleger begannen, ihre Produkte gleich von vornherein mit dem Erfolgsprädikat
‚Schlager’ zu versehen, um damit als Kaufanreiz für die Notendrucke jene Popularität
zu suggerieren, die diese Lieder ja eigentlich erst einzulösen hätten, verwandelte
sich der kommerzielle Erfolgsbegriff in eine musikalische Gattungsbezeichnung“
(Wicke, MGG, Sp. 1064). Er bezeichnete nun im deutschen Sprachraum erfolgsorientierte
populäre Lieder.
„Die mit Rock’n’Roll und Rockmusik
nach dem Zweiten Weltkrieg sich ausprägende altersspezifische Differenzierung
der musikalischen Alltagskultur hat dem Begriff zusätzlich noch eine soziologische
Dimension vermittelt, die die als Schlager bezeichneten Lieder seither von
den in jugendkulturellen Zusammenhängen eingebetteten Formen des populären
Liedes (Rock und Pop Song, Blues etc.) unterscheidet“ (Wicke, MGG, Sp. 1064).
Manchmal wird der Begriff Schlager auch gleichgesetzt mit dem deutschsprachigen
populären Lied.
Schlager als Gattung
Als musikalische Gattung war der
Schlager stets von der gesamten Musikkultur in ihrem historischen Wandel abhängig.
So waren seine Erscheinungsformen im Laufe seiner Geschichte sehr verschieden.
Als konstant erweist sich jedoch seine Ästhetik, die Wicke als „Akzeptanzgewinnung
durch Distanzvermeidung“ beschreibt (Wicke, MGG, Sp. 1064): „Die Distanz
zwischen dem Schlager als ästhetischem Objekt und dem Hörer als Subjekt seiner
Rezeption und Konsumtion wird mit allen zu Gebote stehenden Mitteln so gering
wie möglich gehalten. Schlager passen sich möglichst nahtlos dem Alltag ihrer
Hörer ... an. Sie bewegen sich im Rahmen von deren Hörgewohnheiten, die sie
ebenso prägen wie sie sie bestätigen. Standardisierung und Stereotypisierung
des musikalischen Ablaufs umgeben diese alltagsbegleitenden Lieder daher
stets mit dem Schein der Bekanntheit, ohne freilich den aufmerksamkeitserheischenden
Effekt der Neuheit dadurch zu untergraben“ (Wicke, MGG, Sp. 1065).
Formaler Aufbau: standardisiertes
Reimschema, Unterteilung in Strophen mit Refrain. Bindung an die achttaktige
Periode, Übersichtlichkeit des musikalischen Ablaufs. In der Melodik Vorherrschen
von Akkordbrechungen und Sequenzen. „Reizharmonik“. Der Rhythmus muss tanzbar
sein. Vor allem der Schlager der 1920er Jahre müsse – so Schär – in erster
Linie als „Tanzschlager“ bzw. als „Tanzmusik“ verstanden werden (Schär 1991,
S. 34)
Als Bestandteil der Alltagskultur
behauptet der Schlager seinen Platz „übrigens weitgehend unabhängig von Bildung,
Status und Beruf“; lediglich das Alter der Rezipienten ist ein signifikantes
Differenzierungskriterium (Wicke, MGG, Sp. 1065).
Der Schlager ist kein nur musikalisches
oder literarisches Phänomen. Er ist eine „hochgradig personalisierte Musik“
(Mezger 1975, S. 26). Seine Wirkung ist „in hohem Maße von der Präsentation
durch einen ganz bestimmten Interpreten abhängig... Erst Text, Musik und Interpret
zusammen machen also den Schlager“ (Mezger 1975, S. 111).
Entwicklung der Massenmedien
Die Entwicklung der technischen Medien,
d. h. die Möglichkeit der Vervielfältigung von Musik auf Tonträgern war eine
wichtige Voraussetzung für die Verbreitung des Schlagers u. a. populärer Genres.
1878 ließ Thomas A. Edison seinen
ersten „Phonographen“ patentieren und schuf damit die Voraussetzungen zur
Entstehung der phonographischen Industrie. Musik war konservierbar und beliebig
verfügbar geworden. Man war nicht mehr auf anwesende Musiker angewiesen und
konnte vielerorts, auch zu Hause, Musik abspielen.
1887 konservierte Emil Berliner Musik
erstmals auf einer Zinkscheibe und nannte seine Erfindung „Grammophon“. Den
Zinkplatten folgten später die Schellackplatten. Der entscheidende Vorteil
des Grammophons war, dass die Aufnahmen eine Vielzahl von Kopien ermöglichten,
während beim Phonographen für jedes einzelne Musikstück die Aufnahme wiederholt
werden musste. 1922 wurde ein elektrisches Aufnahmeverfahren entwickelt, dessen
Tonwiedergabe über eine Saphirnadel das Rauschen reduzierte.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg
fanden Grammophone in Europa einen reißenden Absatz. Gleichzeitig entwickelte
sich die Schallplattenindustrie. Vor allem in den Jahren wirtschaftlicher
Prosperität zwischen 1924 bis 1929 erlebten Produktion und Vertrieb von Schallplatten
einen großen Aufschwung, und gleichzeitig stieg der Absatz von Grammophonen
(detaillierte Angaben hierzu s. Schär 1991, S. 38 ff.).
Bald entwickelte sich der Hörfunk
zu einem weiteren wichtigen Medium, durch das musikalische Produkte rasch
bekannt wurden. In den USA wurden die ersten regelmäßigen Rundfunksendungen
1920 ausgestrahlt, in Deutschland 1923. Die Zahl der anmeldeten Empfangsgeräte
und der Rundfunkteilnehmer stieg rasant an (detaillierte Angaben hierzu s.
Schär 1991, S. 44 ff.).
Die Möglichkeit, Musik durch den
Äther zu schicken, bewirkte zu Beginn der 1920er Jahre eine Abdeckung der
gesamten Republik durch die Rundfunkanstalten. „Dieses neue Medium war ...
eng mit der Schallplattenindustrie verbunden und wurde zu ihrem Werbeträger.
Beide Tonträger – Hörfunk und Grammophon/Schallplatte – wurden dadurch, dass
sie Schlagermusik spielten, zu einem erheblichen Faktor der Verbreitung neuer
Tänze“ (Schär 1991, S. 48).
Die Schallplattenumsätze, die Anzahl
der verkauften Grammophonapparate und Radiokonzessionen lassen den Schluss
zu, dass die neuen technischen Medien durch ihre Anschaffungskosten und Zahlungsmöglichkeiten
(etwa Ratenzahlung) als Massenkonsumartikel von breiten Bevölkerungsschichten
in Deutschland genutzt werden konnten, dies vor allem in den Prosperitätsjahren
1923 bis 1929. Erst in dieser Phase ist deshalb im Rahmen der Rezeption von
Tanzschlagermusik von einer möglichen Massenkultur zu sprechen“ (Schär 1991,
S. 56).
Trotz des Erfolgs der Massenmedien
bildeten vor allem die Tanzlokale „noch immer die wirtschaftliche Grundlage
der Komponisten, Musiker und Sänger“ (Schär 1991, S. 48). Es gab eine große
Zahl von Tanzkapellen. Besonders bekannt waren die inländischen Tanzkapellen
Marek Weber, Dajos Bela und Mitja Nikisch sowie die ausländischen Bands von
Sam Wooding, Paul Whiteman, Sidney Bechet u. a. Bei der Vermarktung von Tanzschlagern
spielten die Namen prominenter Musiker und Interpreten eine große Rolle.
Eine große Rolle in der Geschichte
des Schlagers spielte auch der Tonfilm. Viele Musik-Spielfilme entstanden.
Nun hing der Erfolg eines Schlagers nicht mehr allein von seiner musikalischen
und textlichen Qualität und von seiner Interpretation ab, sondern auch von
der Attraktivität der singenden und tanzenden Film- und Bühnenstars.
„Das Schlagergeschäft profitierte
nicht nur im Bereich des Tonfilms vom Starkult, der sich ab Mitte der 20er
Jahre in Deutschland besonders stark abzuzeichnen begann, sondern auch von
Revue, Musical und Varieté. Auch hier bestand die Möglichkeit, dass ein erfolgreicher
Star in einem Bühnenstück einem Schlager zum Durchbruch verhelfen konnte“
(Schär 1991, S. 53).
Geschichte (bis ca. 1932)
Die ersten Schlager kamen aus dem
Bereich des Wiener Liedes, das einen lokalen Bezug hatte, jedoch überregional
und international bekannt wurde. Diese Tradition lebte im Schlager noch lange
fort. Beispiele: „Im Prater blühn wieder die Bäume“ (1916) oder „Zwei Herzen
im Dreivierteltakt“ (1930) von Robert Stolz (1880–1975).
Komponisten von Berliner Operetten
wie Paul Lincke, Victor Hollaender, Jean Gilbert, Rudolf Nelson und Walter
Kollo legten ihre Kompositionen für das musikalische Unterhaltungstheater
so an, dass Einzelnummern als Schlager herauslösbar waren. Beispiele: „Das
macht die Berliner Luft“ und „Schenk mir doch ein kleines bißchen Liebe“ aus
Paul Linckes Operette „Frau Luna“ (1899); „Puppchen, du bist mein Augenstern“
aus Jean Gilberts Operette „Puppchen“ (1912).
Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg
verlagerte sich der Schwerpunkt der Entwicklung des deutschen Schlagers von
Wien auf Berlin. Hier entstanden neben der Operette Revuen und Kabaretts,
die die Entwicklung des Schlagers als eigenständigen Liedtyp anregten. Dabei
handelte es sich, bedingt durch den Revuekontext, im allgemeinen um Tanzlieder.
Der erste große Schlagerstar in den 1920er Jahren war die Operetten-Diva Fritzi
Massary (1882–1969).
In den Kabaretts entstand „ein eher
chansonähnlicher, witzig-pointierter Liedtyp oft ausgesprochen frivolen Charakters“
(Wicke, MGG, Sp. 1067). Interpreten bzw. Interpretinnen waren: Trude Hesterberg,
Gussy Holl, Claire Waldoff, Otto Reutter, Blandine Ebinger, Annemarie Hase,
Rosa Valetti, die Comedian Harmonists; Komponisten: Fred Raymond, Rudolf Nelson,
Walter Kollo, Friedrich Hollaender. Beispiele für diesen Schlagertyp: „Ich
hab das Fräulein Helen baden sehn“ (1925) von Fred Raymond, „Mein Papagei
frißt keine harten Eier“ (1927) von Walter Kollo, „Veronika, der Lenz ist
da!“ (1930) aus dem Repertoire der Comedian Harmonists.
Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs der
Einfluss aus den USA auf die europäische Unterhaltungsmusik. Jazz und aus
dem Jazz Dance abgeleitete Tanzmoden wie Onestep, Shimmy, Foxtrott und Charleston
führten in den 1920er Jahren zu einem starken Interesse an der populären
Musik der USA. Außerdem spielte die Entwicklung des Tonfilms für den Schlager
eine wesentliche Rolle: Der Film-Schlager gelangte zum Durchbruch. Beispiele:
Friedrich Hollaender mit der Musik zu dem Sternberg-Film „Der blaue Engel“
(1930): „Ich bin die fesche Lola“ und „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe
eingestellt“, Film-Schlager, die die Karriere von Marlene Dietrich begründeten.
Bekannte singende Filmschauspieler waren außerdem: Hans Albers, Willy Fritsch,
Lilian Harvey, später Johannes Heesters und Marika Rökk.
Mezger konstatiert ein Vorherrschen
des „Heiter-Exzentrischen“ im Schlager der 1920er Jahre. Es entstanden viele
spielerische Nonsens-Texte ohne jeglichen Anspruch auf Hinter- oder Tiefsinn,
die der unbeschwerten Unterhaltung dienten; z. B.: „Wer hat bloß den Käse
zum Bahnhof gerollt“, S2chatz, laß mich dein Badewasser schlürfen“, „Mein
Papagei frißt keine harten Eier“, „Wo sind deine Haare, August“, „Was kann
der Sigismund dafür, dass er so schön ist?“, „Was machst du mit dem Knie,
lieber Hans“.
Mezger weist auch auf eine Zunahme
zweideutiger, erotischer und obszöner Texte in der damaligen Zeit hin (Mezger
1975, S. 121 ff.). Das sei einer der Gründe gewesen, weshalb 1925 ein Gesetz
gegen „Schmutz und Schund“ verabschiedet wurde.
Schlager als Spiegel ihrer Zeit
Manche Schlager sind interessante
geschichtliche Dokumente, „in ihren sprachlichen und musikalischen Erscheinungsformen
schlagen sich mitunter Zeitströmungen nieder, die später anderweitig kaum
noch greifbar sind“ (Mezger 1975, 112).
Die Inflation der Jahre 1922/23 gehört
zu den einschneidendsten Ereignissen der 1920er Jahre. Einige Schlager dieser
Zeit reagierten auf diese Entwicklung. Zu den zugkräftigsten Nummern des
Jahres 1922 gehört „Wir versaufen unsrer Oma ihr klein’ Häuschen“ (weitere
Beispiele s. Mezger 1975, S. 118 ff.).
Auch der Zusammenbruch der New Yorker
Börse und seine weltweiten Folgen prägte die Inhalte vieler Schlagertexte.
So bezieht sich der Text des Schlagers „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ inhaltlich
sehr konkret auf die soziale Situation am Ende der zwanziger Jahre: Damals
fanden viele stellungslos gewordene Offiziere einen Broterwerb, indem sie
sich als Eintänzer, Gigolo, verdingten (Mezger 1975, S. 125).
Mit der Weltwirtschaftskrise ging
auch das Geschäft mit Schlagern zurück. Es wurden in den folgenden Jahren
immer weniger Schallplatten verkauft (Mezger 1975, S. 127). Viele Tanzlokale
mussten schließen, führende Musiker gingen ins Ausland, und zahlreiche Tanzorchester
lösten sich auf. Eine Vielzahl von Musikern wurde arbeitslos.
1884: Beginn der deutschen Kolonial-Politik:
Carl Peters erwarb Deutsch-Ostafrika, und Deutschland übernahm die von dem
deutschen Kaufmann und Kolonial-Pionier Franz Adolf Lüderitz gekauften Gebiete
in Deutsch-Südwestafrika.
1886 veranstaltete Carl Hagenbeck
in Hamburg eine „Völkerschau“, bei der das Publikum gegen 50 Pfennig Eintritt
„wilde Eingeborene“ bestaunen konnte. Diese Völkerschauen, die sich großer
Beliebtheit erfreuten, waren eindeutig rassistisch und verstärkten vorhandene
Ressentiments.
Im „Handwörterbuch der Zoologie“
von 1888 taucht das Stichwort „Neger“ auf.
Als Sensation einer Berliner Ausstellung
im Jahr 1907 ließ die Direktion ein Eingeborenendorf nachbauen, in dem eine
Gruppe „importierter“ Papuas leben musste.
Man begegnete dem Exotischen mit
zwiespältigen Empfindungen: mit Faszination und Ablehnung, Ekel und Lüsternheit.
Einerseits glaubte man, mit Hilfe des „Primitiven“ der Erschlaffung durch
die Zivilisation entgegenwirken zu können. Andererseits betrachteten sich
die meisten Weißen als Herrenmenschen und sie waren von ihrer Überlegenheit
gegenüber den Schwarzen überzeugt.
Die Tanzbewegungen der Eingeborenen
„wurden als Symptom für die Animalität der schwarzen Rasse angeführt“ (Eichstedt
/ Polster 1985, S. 10). Die wilden Tänze kamen jedoch nicht aus Afrika, sondern
meist aus den USA nach Europa. Auf den Plantagen der Südstaaten erlaubten
die Besitzer ihren Sklaven, am Feierabend zu singen und zu tanzen. In Musik
und Tanz der Schwarzen überlebte ein Teil ihrer afrikanischen kulturellen
Wurzeln.
Die erste afroamerikanische Kulturrevolution
hatte soziale und wirtschaftliche Ursachen. Im Bürgerkrieg zwischen den Nord-
und Südstaaten ging es u. a. um die Abschaffung der Sklaverei. Vielen der
von der Sklaverei befreiten Schwarzen ging es nach 1865, dem Jahr der Befreiung,
wirtschaftlich schlechter als zuvor. Tausende verließen die Südstaaten, wo
Rassendiskriminierung herrschte, und zogen in die Industriestädte des Nordens,
um dort Arbeit und mehr Freiheit zu bekommen. Mit den schwarzen Arbeitern
kamen auch die schwarzen Musiker, Tänzer und Schauspieler in den Norden, vor
allem nach Chicago und New York.
Bereits in der Situation der Unterdrückung
und scharfen Rassentrennung (Segregation) entstanden eigene schwarzamerikanische
kulturelle Formen. So imitierten und karikierten z. B. die Schwarzen die Tänze
der weißen Oberschicht (Märsche, Paraden, Polonaisen, Quadrillen). Sie gestalteten
die „steifen Rituale zu einer komischen Kopie um“ (Eichstedt / Polster 1985,
S. 13): Die Verbeugungen verwandelten sie in heftige Schwankungen des Oberkörpers,
das Stolzieren und Marschieren wurde in hohen Beinwürfen parodistisch nachgeahmt.
Auch die Weißen amüsierten sich darüber, und wer die Beine am höchsten werfen
konnte, bekam zur Belohnung einen Kuchen: So entstand der „Cakewalk“. Es
wurden Wettkämpfe zwischen den verschiedenen Plantagen veranstaltet: Der
Gewinner war derjenige, der mit einem Wasserkübel auf dem Kopf an einer vorgezeichneten
Linie entlang die wildesten Gebärden vollführte. 1876 fand der erste ausgeschriebene
Cakewalk-Wettstreit in Philadelphia statt (Eichstedt / Polster 1985, S. 13).
Anlass war die Jahrhundertfeier der Gründung der USA. Es gab danach viele
Cakewalk-Wettbewerbe. Ab 1890 wurde der Cakewalk zu einem artistischen Bühnentanz
und schließlich auch zu einem weißen Gesellschaftstanz.
Seit ca. 1790 traten in den USA weiße
Tänzer und Musiker mit geschwärzten Gesichtern auf, und afrikanisch zu tanzen
und zu musizieren. Seit ca. 1840 wurden solche Gruppen als Minstrels bezeichnet.
Erst nach der Sklavenbefreiung traten dunkelhäutige Künstler vor ein weißes
Publikum. Da sie nicht schwarz genug erschienen, verkleideten auch sie sich
mit der „Niggermaske“: Die Haut wurde geschwärzt, der Mund weiß umrandet,
um die Lippen stark zu betonen; manche trugen übergroße Schuhe. Obligatorischer
Bestandteil der Minstrelshows war der Cakewalk. Die Minstrelshows stellten
die Schwarzen als Nigger-Clowns dar. Die Figur des „Dummen August“ im europäischen
Zirkus wurde daraus abgeleitet (Eichstedt / Polster 1985, S. 13).
Das Geschäft mit dieser schwarzen
Unterhaltungskunst boomte bald – u. a. am New Yorker Broadway –, und es dauerte
nicht lange, bis solche Gruppen auch in Europa auftraten. 1903 brachte eine
schwarze Truppe den Cakewalk erstmals über London nach Europa. Der Erfolg
solcher Shows war groß, auch in Deutschland. Allerdings sahen manche auch
das „deutsche Wesen“ durch amerikanischen Einfluss gefährdet.
In Europa war man weitgehend der
Walzer, Rheinländer, Polkas u. a. tradierter Tänze überdrüssig. Neuerungen
wie der Cakewalk waren höchst willkommen. Entscheidend für seinen Durchbruch
war die dazu übliche Begleitmusik: der Ragtime. Seit 1890 wurden fast alle
neuen schwarzen Tänze von Ragtime-Musik begleitet. Ab 1900 kam die frühe Jazzmusik,
die sich teilweise aus dem Ragtime entwickelte, als Tanzmusik hinzu.
Die Europäer kannten die Rhythmen
des Ragtime seit der Pariser Weltausstellung von 1899. Der Ragtime-Rhythmus
bedeutete für die Tanzmusik eine Revolution. Die damals beginnende Industrialisierung
des Musiksektors, die Erfindung von Pianolas, Edison-Walzen und der Schallplatte,
begünstigte eine massenhafte Verbreitung.
Auch in Europa entwickelten sich
neue Tanzformen, die sich stark von Walzer u. a. traditionellen Gesellschaftstänzen
unterschieden. Bestimmend bei dieser Entwicklung war Berlin, wo auf den Tanzböden
der östlichen Vororte, den Ausflugszielen der Arbeiter, Paare eng aneinandergeschmiegt
tanzten, wobei sie sich nicht im Kreis drehten, sondern geradeaus liefen.
Es entstand u. a. der „Rixdorfer“, benannt nach dem Ort Rixdorf, dem heutigen
Neukölln. Dieser Tanz wirkte sehr sinnlich und war von starkem sexuellen Reiz,
dabei oft grob und gewalttätig.
Auch gelangten amerikanische Tänze
nach Berlin, etwa durch amerikanische Gaststudenten. Außer dem Cakewalk gehörte
zu den Neuheiten kurz nach 1900 der „Boston“, der „eine fast skandalöse Grundhaltung
verlangte“ (Eichstedt / Polster 1985, S. 20): Das Paar tanzte eng aneinandergeschmiegt.
Aus den USA kam auch der „Two-Step“ mit seinen schnellen Schritten und heftigen
Bewegungen. Er galt als ein typisch amerikanisches Produkt. 1910 folgte der
„One-Step“. Gemeinsam war allen diesen Tänzen, dass sie die distanzierte Haltung
des Paares zueinander, wie sie z. B. beim Walzertanzen üblich war, aufhoben.
„Die hautnahe Haltung bürgerte sich ein, und die Paare hielten, nicht nur
aus tanztechnischen Gründen, gerne daran fest“ (Eichstedt / Polster 1985,
S. 22). In Deutschland wurde auf die Step-Tänze der Berliner Ausdruck „Schieber“
übertragen. So fand der „Proletentanz aus dem Ende des 19. Jahrhunderts Eingang
in den etablierten Amüsierbetrieb“ (ebd.).
Der Schieber rief nicht nur Begeisterung,
sondern auch moralische Entrüstung hervor. Es kam zu Aktionen „saubere Tanzfläche“.
So wurden z. B. vielerorts an Tanzlokalen polizeilich gestempelte Schilder
angebracht, die „Schiebe-, Knick- und Wackeltänzer“ mit Strafe bedrohten (Eichstedt
/ Polster 1985, S. 29). Die Verbote galten im übrigen nicht für die eleganten
Lokale, „weil man dem distinguierten Publikum zutraute, sich selbst in Zaum
zu halten“ (ebd.). Betroffen war das „gemeine Volk“. Wer „unzüchtig“ tanzte,
musste mit Gefängnis- oder hohen Geldstrafen rechnen.
Zu solchen „unsittlichen“ Tänzen
gehörte ursprünglich auch der Tango. Er entstand in Argentinien, ebenfalls
im Milieu der Armen, Arbeiter und Ganoven. Um 1907 wurde er in Paris von Mitgliedern
der Jeunesse dorée Argentiniens erstmals vorgeführt und eroberte seitdem
die Salons. Dabei wurde er zurechtgestutzt und seiner Sinnlichkeit beraubt.
Auch verbanden sich mit ihm bald sportliche Ambitionen. Der Tango wurde zu
einem Turniertanz: „statt Freude an der Bewegung Stolz über die vollbrachte
Leistung, statt Ausgelassenheit Planung, statt Berührung Beherrschung. Mit
dem Sport hält eine anonyme Rationalität im Tanzsaal Einzug“ (Eichstedt /
Polster 1985, S. 31). Dennoch behielt dieser Tanz seinen lasziven Ruf.
Der Tango avancierte zu einem begehrten
Modeartikel. Was mit dem Zauberwort „Tango“ etikettiert wurde, erschien attraktiv,
z. B. auch eine bestimmte Kleidermode. Der Tango beherrschte das gesellschaftliche
Leben.
1917 gelangte der Foxtrott mit der
US-Armee nach Europa. Er war aus den Steppschritten des „Negro-Jig“ entstanden.
Auch er galt als der Inbegriff „brutaler, ungezügelter Körperlichkeit“ (Eichstedt
/ Polster 1985, S. 47).
Der Shimmy erreichte 1920 zusammen
mit dem Jazz Europa. Er war ursprünglich ein Tanz aus den Schwarzen-Ghettos,
der seit ca. 1900 nachweisbar ist. Der weibliche Filmstar Mae West nahm ihn
1919 in ihr Programm auf: „Die Anleihe bei den Schwarzen trug ihr über Nacht
heißeste Bewunderung und tiefste Verachtung ein. Der verschriene Shimmy aber
wurde zum Modetanz schlechthin“ (Eichstedt / Polster 1985, S. 48). Mae West
behauptete von sich, sie habe den ursprünglich obszönen schwarzen Pelvis-Tanz
Shimmy verfeinert und kultiviert (Günther 1982, S. 119). Spätestens 1920 trat
der Shimmy in Deutschland die Nachfolge des Foxtrott an.
1917 tauchte erstmals der Begriff
Jazz Dance auf. Man verstand darunter eine Reihe von Pelvis-Tänzen, darunter
den Shimmy, Charleston und Black Bottom. Der Jazz Dance ist afroamerikanischen
Ursprungs mit Wurzeln in Afrika. Seine musikalische Grundlage ist der Jazz.
Bei diesem Tanzstil bewegen sich alle Körperglieder rhythmisch und räumlich
voneinander unabhängig. Das Bewegungszentrum ist das Becken. Einen ersten
Höhepunkt erreiche der Jazz Dance um 1920.
Der Shimmy hatte die Aura des Primitiven.
Er galt als ein Eingeborenenprodukt, als Tanz der „Naturvölker“. Tatsächlich
hat die afroamerikanische Tanzgeschichte Wurzeln des Shimmy im Kongogebiet
festgestellt (Eichstedt / Polster 1985, S. 49), aus dem im 18. Jahrhundert
viele Sklaven in die Karibik und nach Nordamerika kamen. Charakteristisch
für den Tanzstil sind heftige Vibrationen von Körperteilen. Am häufigsten
wird das Becken, der sogenannte Pelvis, geschüttelt, auch die Hüften und der
Po. Dabei werden die Füße kaum vom Boden bewegt. Die Besonderheit des Shimmy
war, dass er gänzlich auf virtuose Beinarbeit und Schrittfiguren verzichtete.
Und auch die Paarstellung war praktisch aufgelöst.
Der Shimmy wirkte auf viele als sexuelle
Animation und er wurde daher u. a. in New York als „unzüchtig“ verboten. Auch
in England und Frankreich wurde er als „degeneriert“ empfunden. Dennoch rief
er große Begeisterung hervor. In Deutschland dominierte er etwa fünf Jahre
lang und mit ihm bestimmte Trends in der Kleider- und Frisurenmode, dies
vor allem bei den Jugendlichen, die mit dem preußischen Muff aufräumen wollte.
„Es gab Shimmy-Jünglinge, Shimmy-Frisuren, spitze Shimmy-Schuhe, Shimmy-Parfüms“
(Günther 1982, S. 120).
In Berlin schrieb der junge Paul
Hindemith 1922 eine Suite mit den Sätzen Marsch, Shimmy, Nachtstück, Boston,
Ragtime. In der Anleitung für den Pianisten lautete: „Nimm keine Rücksicht
auf das, was du in der Klavierstunde gelernt hast... Spiele dieses Stück sehr
wild, aber stets sehr stramm im Rhythmus wie eine Maschine. Betrachte hier
das Klavier als eine interessante Art von Schlagzeug und handle entsprechend.“
Er wurde benannt nach der Hafenstadt
in South Carolina, von wo ihn Schwarze am Ende des 19. Jahrhunderts nach Harlem,
dem neuen Ghetto von New York, brachten. Doch wurde der Charleston erst populär,
als er zum Broadway gelangte. 1921 hatte das Musical „Shuffle Along“ dort
trotz aller Rassendiskriminierung als erstes Negro Musical einen riesigen
Erfolg. (Bereits 1896 war das erste Negro Musical am Broadway aufgeführt worden.)
Star dieses Stückes war die Tänzerin Florence Mills, die später auch in Europa
berühmt wurde. 1922 trat die damals 16-jährige Josephine Baker in „Shuffle
Along“ auf, wo sie als komisches Endgirl der Chorusgirls engagiert wurde
und sofort auffiel.
„Plötzlich schoben auch andere Theaterdirektoren
ihre bisherigen Bedenken beiseite und kauften die wildesten Tänzer ein, die
sie finden konnten“ (Eichstedt / Polster 1985, S. 62). Sie rekrutierten viele
ihrer Tänzer direkt aus Harlem, dem Zentrum afroamerikanischer Kultur. Viele
Musicals, die im Unterschied zu den Minstrelshows die Schwarzen als ernst
zu nehmende menschliche Wesen darstellten, trugen dazu bei, bestimmte schwarze
Tänze populär zu machen. Durch die Plattenindustrie gelangte solche Musik
auch nach Europa. Zu diesen Tänzen gehörte u. a. auch der Black Bottom, ein
Platztanz (d. h. die Füße treten auf der Stelle) mit heftigen Schwüngen des
Beckens („Black Bottom“ bedeutet „schwarzer Hintern“).
In Europa – zunächst in Paris – wurde
der Charleston seit 1925 vor allem durch die Revue Nègre mit Josephine Baker
bekannt. Er war „polyzentrisch“ und verlangte, ähnlich wie der Shimmy, den
starken Einsatz von Hüfte, Schenkel und Po. Auch die Hände sind sehr aktiv.
Dazu kommen die abwechselnden X- und O-Beine, damit verbunden die nach außen
und innen gedrehten Knie und Füße. Die Körperbewegungen beim Charleston sind
rasant, sie erfordern Kraft und Geschicklichkeit. Der Charleston wird nicht
paarweise getanzt, sondern einander gegenüberstehend.
Der schwarze Charleston wurde mit
dem ganzen Körper getanzt. In Europa wurde jedoch eine Variante entwickelt,
bei der erst von den Knien abwärts getanzt wurde, während der Körper ruhig
blieb. Das Charakteristische des schwarzen Pelvis-Tanzes, bei dem vor allem
Bauch, Becken und Gesäß heftig bewegt werden, wurde so vollständig eliminiert.
„Die Hauptsache ... wurde frech unterschlagen, der Charleston ins Korsett
des europäischen Gesellschaftstanzes gezwängt.“ „Der Körper muß ruhig bleiben“,
mahnte ein Lehrbuch des Tanzes, denn „das unterscheidet den gesellschaftlichen
Charleston von der Neger-Exhibition“ (Eichstedt / Polster 1985, S. 64). Es
gab starke Abwehrkräfte gegenüber der Körperbetontheit des Charleston u. a.
schwarzer Tänze; „der Charleston rief Zwangsvorstellungen bei denen hervor,
die mit einer zwanglosen Erotik nicht umzugehen vermochten“ (Eichstedt / Polster
1985, S. 65).
Zwar waren die Jazztänze sehr erotisch,
sie „kannten aber keinerlei spezifische, geschweige denn hierarchische Positionen
der Geschlechter... Zwar wurde traditionsgemäß Charleston häufig paarweise
getanzt, doch wenn beide mit den Füßen ausschlugen, war es nicht ratsam allzu
eng zusammen zu bleiben. Viele Paare gingen deshalb auf Distanz, um sich am
ausgestreckten Arm des anderen oder völlig unabhängig voneinander abzustrampeln...
Der Loslösung entsprach ein Gefühl des Ungebundenseins“ (Eichstedt / Polster
1985, S. 67).
Auch in der damaligen Kleider- und
Frisurenmode wurden bisher betonte Unterschiede der Geschlechter nivelliert.
Bei den Frauen verschwanden die eingeengte Taille, die breiten Hüften und
der üppige Busen zugunsten des knabenhaften Garçonne-Stils. Gerade geschnittene
Hängekleider, die bis zum Knie reichten, verbargen die weiblichen Formen.
Bubikopf-Frisuren vervollständigten dieses Bild. Die Männer ließen sich keine
Vollbärte mehr wachsen. Es gab eine gegenseitige Angleichung der Geschlechter,
eine Tendenz zum Androgynen. Frauen trugen z. B. Oberhemd und Krawatte. Und
sie „griffen nach den Attributen männlicher Macht, saßen hinterm Steuerrad
und hinter Büroschreibtischen, rauchten Zigaretten und erlangten akademische
Grade“ (Eichstedt / Polster 1985, S. 66).
Definition:
„Der Jazz ist eine aus dem Zusammentreffen
afrikanischer und afroamerikanischer sowie europäischer Musiktraditionen entstandene
Musik vornehmlich improvisatorischen Charakters. Seine Wurzeln liegen in
geistlichen und säkularen Musizierformen des 19. Jahrhunderts. Er entwickelte
sich im 20. Jh. von einer im Brauchtum verwurzelten mehr oder weniger regional
bedeutsamen Musik (New Orleans) über seine Funktion als Popularmusik (Swing)
hin zu einer Kunstmusik mit mehr oder weniger breitem Publikumsverständnis
(Bebop, Free Jazz)“ („Jazz“, MGG, Sp. 1384). Charakteristika des Jazz sind
u. a.: Improvisation, swing, eine spezielle Art der Tonbildung und Instrumentenbehandlung
etc.
Der Begriff „Jazz“, dessen Herkunft
nicht ganz geklärt ist, ist erstmals zwischen 1913 und 1915 belegt und etablierte
sich ab 1917.
„Rezeptionsgeschichtlich umfaßt der
Jazz genauso die im Brauchtum verwurzelte Musik wie die in der Massenkultur
vermarktete Popularmusik oder eine elitäre Minderheitenmusik“ („Jazz“, MGG,
Sp. 1385).
Vorformen und Entstehung:
„Zu den frühesten Beispielen einer
ausgeprägt afro-amerikanischen Musik im 19. Jh. zählen Spirituals, ‚work songs‛
und ‚field hollers‛“ („Jazz“, MGG, Sp. 1386). Am deutlichsten ist die Beziehung
zu den afrikanischen Wurzeln im Wechsel von Vorsänger und Chor, Prediger
und Gemeinde. Neben den geistlichen und den Arbeitsgesängen gab es im 19.
Jahrhundert eine Tanzmusik der amerikanischen Schwarzen, die auch europäisch
beeinflusst war. Auch in der Kunstmusik taten sich Afro-Amerikaner hervor.
Es gibt Berichte über umherreisende Klaviervirtuosen im 19. Jahrhundert, die
vor allem eine Fähigkeit zur spontanen Improvisation über gegebene Themen
bezeugen.
Nach der Befreiung der amerikanischen
Sklaven (Emanzipationserklärung von 1863) entwickelte die afro-amerikanische
Musik immer stärker eigene Traditionsmerkmale. In den ländlichen Gebieten
bildete sich eine Musiktradition heraus, die von großem Einfluss auf den späteren
Jazz war: der Blues. Der Blues entspringt einer oralen musikalischen
Kultur. Er ist eine „ländliche“ Vorform des Jazz, die nach dessen Aufkommen
jedoch weiterhin existierte und sich als eigenständige Gattung weiterentwickelte.
Eine der wichtigsten urbanen Vorformen
des Jazz ist der Ragtime. Die auskomponierten Stücke des Klavierrags
orientierten sich an europäischer Salonmusik, z. B. Marsch, Walzer, Tango,
Mazurka. Afro-amerikanische Traditionslinien finden sich vor
allem in rhythmischen Besonderheiten, in Synkopierungen und Kreuzrhythmen
oder der Betonung gegen den Taktgrundschlag. Neben dem Klavierrag gibt es
Ragtime-Kompositionen und -Arrangements für Bands und Orchester. Viele der
frühen Ragtime-Kapellen entstanden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg,
als ausgemusterte Instrumente der Armee-Kapellen in Second-Hand-Läden auftauchten
und von Afro-Amerikanern gekauft und benutzt wurden. Die frühen Ragtime-Bands
sind direkte Vorläufer des Jazz.
„Die Geschichtsschreibung einer improvisierten
Musik ist auf die Dokumentation musikalischer Ereignisse angewiesen... Die
Jazzgeschichtsschreibung ist ohne das Medium der Schallplatte nicht denkbar“
(„Jazz“, MGG, Sp. 1388).
New Orleans / Dixieland:
Die frühesten Stilarten des Jazz
sind New Orleans und Dixieland, wobei diese beiden Begriffe austauschbar sind.
„In der Literatur werden sie meist durch die Rassenzugehörigkeit der betreffenden
Musiker unterschieden: New-Orleans-Jazz ist nach dieser Definition eine schwarze,
Dixieland eine weiße Musik“ („Jazz“, MGG, Sp. 1388). Diese Trennung ist allerdings
nicht immer möglich.
Der Jazz entwickelte sich in New
Orleans, wo es ein vielfältiges Musikleben gab. Dort gab es das erste Opernhaus
der USA, Sinfonieorchester und Chorvereine. Die ethnisch vielfältige Bevölkerung
pflegte ihre eigenen Traditionen aus den verschiedensten Herkunftsländern.
Alle diese Traditionen waren an der Entstehung des Jazz beteiligt.
Nachdem das Vergnügungsviertel Storyville
in New Orleans 1917 geschlossen worden war, zogen viele Musiker an die amerikanische
Westküste, in den Norden nach Chicago oder in die Metropolen der Ostküste.
U. a. Louis
Armstrong ging nach Chicago. Ein wichtiges Zentrum wurde New York,
wo die Entertainment-Industrie den Jazz als Verkaufsmedium entdeckte. Die
Jazzmusiker verstanden sich als Künstler und zugleich Entertainer.
Der Jazz war die Tanzmusik der 1920er
Jahre. Auftrittsorte waren große Tanz- und Ballsäle, Kneipen oder auch Privatwohnungen
Die Anfänge des Jazz in Deutschland
(1920–1931)
Der Autor des MGG-Artikels „Jazz“
unterscheidet zwei Phasen der Rezeption des amerikanischen Jazz in Europa:
„die der Imitation und die der Emanzipation des europäischen vom amerikanischen
Jazz“. Die Emanzipation habe aber erst in den späten 1950er Jahren begonnen.
Als Ausnahme nennt er den belgischen Gitarristen Django Reinhardt (1910–1953),
der bereits früh einen eigenen Stil entwickelt habe („Jazz“. MGG, Sp. 1414).
Der Jazz bzw. die Musik, die mit
dem Etikett „Jazz“ versehen wurde, verbreitete sich seit etwa 1915 von den
USA aus in vielen Ländern. In Europa gelten England und Frankreich als die
führenden „Jazzländer“. Aber auch Deutschland soll in den zwanziger Jahren
ein führendes „Jazzland“ gewesen sein.
Die schnelle weltweite Verbreitung
des Jazz war kaum denkbar ohne die Schallplatte. Ohne sie gäbe es auch keine
konkret nachweisbare Geschichte dieser Musik. Den entscheidenden Anstoß für
die massenweise Herstellung von Schellackplatten mit 78 Umdrehungen pro Minute
kam von Emile Berliner (1851–1929). Schellackplatten gab es seit 1897.
Der Erste Weltkrieg verhinderte zunächst,
dass die ersten Schallplatten mit Jazz nach Deutschland gelangten. Die auf
den Krieg folgende Blockade versperrte Deutschland etwa bis 1920 den Zugang
zu ausländischen Erzeugnissen, darunter auch Jazz-Schallplatten.
Ein weiteres Hindernis für die Verbreitung
des Jazz in Deutschland war, dass sich nach dem Ersten Weltkrieg in konservativen
Kreisen ein ausgeprägter Fremdenhass entwickelte, der alles, was aus dem
Ausland, vor allem aus den ehemaligen „Feindstaaten“, kam, ablehnte. Moderne
künstlerische Produkte wurden als „undeutsch“ und „artfremd“ diffamiert.
So gelangte der Jazz mit einiger Verspätung nach Deutschland.
Die zwanziger Jahre in Deutschland
entwickelten sich dann jedoch zu einem „Goldenen Zeitalter des Jazz“. Es
begann erst richtig im Jahr 1924, und zwar mit den Tourneen der ersten amerikanischen
Jazzbands. Davor hatte die Inflationszeit der Jahre 1921–1923 das Interesse
des Publikums an solcher Musik gelähmt. Außerdem bot das wertlose Geld ausländischen
Musikern wenig Anreiz, in Deutschland aufzutreten. Das änderte sich erst,
als sich 1923/24 das deutsche Wirtschaftsleben zu normalisieren begann. Der
wirtschaftliche Aufschwung in den Jahren 1923 bis 1929 brachte in Deutschland
einen ungeheuren technischen Fortschritt und einen Höhepunkt des künstlerischen
Lebens. Ab Mitte 1924 suchten mehr ausländische Musiker in Berlin, das damals
eine sehr weltoffene, interessante und kulturell reiche Stadt war, eine Beschäftigung.
Die meisten Europäer kannten – so
der Autor des Artikels „Jazz“ in der MGG – den Jazz weniger vom Hören als
aus Notenpublikationen. „Sie rezipierten in erster Linie die charakteristische
Instrumentation mit Saxophon und Schlagzeug sowie bestimmte rhythmische und
harmonische Besonderheiten wie Synkope und blue note, waren sich der wirklich
zentralen Elemente des Jazz – und hier insbesondere der Improvisation – dagegen
kaum bewusst“ („Jazz“. MGG, Sp. 1415). Amerikanische Bands seien nur selten
in Europa aufgetreten, und wenn, dann höchstens in den europäischen Metropolen.
1919 hätten die ersten Auftritte amerikanischer Jazzbands in Europa stattgefunden
(„Jazz“. MGG, Sp. 1414). Eine Ausnahme stellt der Komponist Darius Milhaud
dar, der auf einer Reise nach New York originalen Jazz hörte. Seine Komposition
La Création du Monde (1923) gilt als das wichtigste, den Jazz rezipierende
Werk zu Beginn des 20. Jahrhunderts („Jazz“. MGG, Sp. 1415).
Auch andere Komponisten der Gruppe
Les Six, Igor Strawinsky, Paul Hindemith u. a. verwendeten in einigen ihrer
Kompositionen Jazzelemente. Ernst Křenek schrieb 1927 seine damals sehr erfolgreiche
Oper Jonny spielt auf, die immer wieder als „Jazz-Oper“ bezeichnet
wird, obwohl nur ein winziger Teil daraus vom Jazz inspiriert ist:
Entgegen der Behauptung, die Europäer
hätten den Jazz kaum hören können, betont Lange in seinem Buch, es sei seit
dem Anfang der 1920er Jahre eine große Zahl von amerikanischen Jazz- und Semijazz-Aufnahmen
auf deutschen Plattenmarken erschienen und es habe demnach weder an lebenden
noch auf Schallplatten „konservierten“ amerikanischen Vorbildern für die
deutschen Musiker gefehlt.
Eines der großen Ereignisse der deutschen
Jazz-Geschichte war das Gastspiel der schwarzen Band von Sam Wooding im Mai/Juli
1925. Die Wooding-Band hatte Auftritte in vielen deutschen und europäischen
Städten und wurde sehr bekannt. Jedoch nicht alle amerikanischen Bands, die
Europa bereisten, spielten Jazz, sondern eine mit Jazz-Elementen durchsetzte
Unterhaltungsmusik und die gerade aktuelle Tanzmusik. So wurde z. B. 1925
der Charleston in Deutschland bekannt, und fast alle Tanzkapellen bemühten
sich darum, weil die Tänzer „charleston-crazy“ waren. Auch viele der deutschen
Orchester, die sich im Jazz versuchten, spielten eine etwas „verjazzte“ Tanzmusik.
Das Debüt der Paul-Whiteman-Band
am 25. Juni 1926 im Berliner Großen Schauspielhaus war die Sensation der Saison.
Man feierte Whiteman als Propheten einer neuen Musik, als den Mann, der
„den wilden Jazz kultiviert und gezähmt hat“. Whitemans Stil war populär und
kommerziell erfolgreich. Das Paul-Whiteman-Gastspiel hatte auch den Effekt,
dass man seiner Musik nacheiferte. Manche Orchester entwickelten sich unter
dem Einfluss Whitemans zu Bigbands mit einer Tendenz zu kommerzieller Tanzmusik.
„Echter“ Jazz war wenig populär. Viele erstrebten statt dessen einen domestizierten
Jazz der Konzertsäle. Whiteman hatte den Begriff „symphonischer Jazz“ eingeführt,
der nun für die deutschen Tanz- und Jazz-Orchester richtungsweisend wurde
und vor allem ab 1927 in Orchestern wie Lajos Béla, Marek Weber, Mischa Spoliansky,
Julian Fuhs, Ben Berlin u. a. seinen Niederschlag fand.
Anfang 1926 kam über Paris die amerikanische
„Revue Nègre“ nach Berlin und feierte Triumphe. Der Clou dieser Revue war
die Tänzerin Josephine Baker, die von einer Charleston-Jazz-Band begleitet
wurde. „Josephine Baker veranschaulichte mit ihrem Bananenschurz-Tanz so recht
die allgemeine Auffassung des europäischen Publikums vom ‚wilden Neger-Jazz’“
(Lange, S. 50). Während tolerante Kreise diese Revue als interessant empfanden,
meldeten sich schon in größerem Maße die Stimmen derjenigen, die glaubten,
„nationale Rechte“ verteidigen zu müssen und die Show als „verjudete Niggerschau
und Urwaldklamauk“ beschimpften. „Eine fanatische ‚Opposition’ wurde geboren,
die eifrig gegen den ‚Verfall’ der deutschen Kunst und Kultur zu protestieren
begann und mit subalternem Kleingeist gegen alles das zu Felde zog, was sie
selbst nicht verstand oder verstehen wollte“ (Lange, S. 51).
Inspiriert durch Konzerte ausländischer
Jazzmusiker, auch durch die vielen amerikanischen Schallplatten, versuchten
sich 1927/28 etliche deutsche Kapellen an der „Jazzmusik“ oder dem, was sie
unter „Jazz“ verstanden. Eines der populärsten, auch international bekannten
Tanzorchester in Deutschland leitete der Violinist Leo Golzmann alias Dajos
Béla. Ein großer Teil des Repertoires seiner „Jazzband“ bestand jedoch aus
Bearbeitungen von Tagesschlagern.
Parallelen zu Dajos Béla wies die
Band des rumänischen Geigers Marek Weber auf. Auch er gehörte zu den international
bekannten und anerkannten Orchesterleitern in Deutschland. Weber war ein
typischer Vertreter sogenannter „Salonmusik“ und „gepflegter Unterhaltungs-
und Tanzmusik“. Die Schallplattenaufnahmen der frühen 1920er Jahre zeigen
kaum Jazz-Einflüsse. Erst ab 1927 wurden stärker amerikanische Vorbilder,
wie z. B. Paul Whiteman, nachgeahmt.
Im Jahr 1927 wurde ein deutsches
Gesangsensemble von Weltruf gegründet: die „Comedian Harmonists“, deren Musik
nach dem Vorbild des amerikanischen „Shannon-Quartetts“ ausgerichtet war.
Das Shannon-Quartett wurde in Deutschland unter den Namen „The Revelers“,
„The Singing Sophomores“ und „The Merrymakers“ bekannt. Die „Comedian Harmonists“
boten auch gelegentlich guten Jazzgesang: z. B. in „Creole Love Call“ (nach
Duke Ellington). Die Gruppe erlebte ihre Höhepunkte in den Jahren 1927–1933.
1935 wurde sie auf Druck der Nationalsozialisten aufgelöst, weil einige ihrer
Mitglieder „Nicht-Arier“ waren. Als „Meister-Sextett“ vegetierten die veränderten
„Comedian Harmonists“ danach noch einige Jahre dahin.
Eine bekannte Kapelle in den Jahren
zwischen 1927 bis 1933 waren die „Weintraubs-Syncopators“, eine der besten
Tanzkapellen, die für deutsche Verhältnisse außergewöhnlich „hot“ und „jazzig“
gespielt haben soll. 1930/31 wirkten die „Weintraubs“ noch in deutschen Filmen
mit, u. a. im „Blauen Engel“ mit Marlene Dietrich und Emil Jannings. Die
Musik hatte Friedrich Hollaender geschrieben. Die Kapelle unternahm sogar
ein Gastspiel in die USA. Zur Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung
hielt sie sich gerade im Ausland auf, und da sie überwiegend „nichtarisch“
war, kehrte sie nicht nach Deutschland zurück.
Mit dem Fortschreiten der Weltwirtschaftskrise
begann sich die Lage für den Jazz zu verschlechtern. Die Industrie legte Wert
auf leicht absetzbare Schallplatten, richtiger Jazz jedoch ließ sich nicht
als Massenware verkaufen.
1931 gab es einen Regierungserlass,
der die Beschäftigung von farbigen Kapellen auf deutschem Boden untersagte.
Nur in Einzelfällen erhielten farbige Solisten die Genehmigung, in Deutschland
zu spielen. Diese Bestimmung hatte verschiedene Gründe: In Deutschland gab
es die ersten Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Die Kaufkraft sank, Unternehmen
brachen zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg. So versuchte man, Konkurrenz
auszuschalten. Zudem hatten die Nationalsozialisten, bedingt durch die Krisensituation,
inzwischen größeren Zulauf. Die Macht der Rechtsradikalen wuchs, und so
wurde es ihnen möglich, verstärkten Druck auf die Regierung auszuüben. Ein
Verbot der „entarteten Niggermusik“ war eines ihrer Ziele. Im September 1930
waren bereits 107 Nazi-Abgeordnete in den Reichstag gewählt worden, eine
Fraktion, die schon starken Druck auf die Regierungs-Koalition ausüben konnte.
Zu jener Zeit wurde der NSDAP-Abgeordnete Dr. Wilhelm Frick Staatsminister
von Thüringen und gleichzeitig Volksbildungsminister, in welcher Eigenschaft
er gegen die „von der Republik geförderte entartete Kultur, wie sie sich
auch in der Jazzmusik, Juden- und Negerkunst äußert“, ein Verbot erließ.
Zumindest in Thüringen, seinem Machtbereich, konnte Frick dieses Verbot, das
erste lokale Jazzverbot in Deutschland, schon lange vor der nationalsozialistischen
Machtergreifung durchsetzen. Nicht zuletzt war es Frick und seinen Anhängern
zuzuschreiben, dass die Regierung farbigen Musikern und Ensembles das Spielen
untersagte.
In der Folge der Wirtschaftskrise
mussten Tanzcafés, Tanz-Paläste und Gaststätten, die Musiker beschäftigt hatten,
ihre Pforten schließen. Viele Musiker fanden in Deutschland kein Engagement
mehr. Der Rundfunk bot allerdings noch kurze Zeit die Möglichkeit, Jazzmusiker,
die in Deutschland nicht mehr auftreten durften, zu hören.
In der schweren Krisenzeit verschwanden
auch viele Schallplattenmarken, weil kleinere Firmen in Konkurs gingen und
von wenigen großen Firmen aufgekauft wurden. Im Jahr 1932 bestanden nur noch
einige große Schallplattenfirmen. Durch langjährige Export- und Importverträge
gebunden, hatten sie eine feste Verbindung mit dem Ausland. So wurden weiterhin
Jazzplatten importiert und exportiert, und der Jazz geriet in Deutschland
nicht in Vergessenheit – aller Nazi-Demagogie zum Trotz.
Das Interesse an Jazz war so gestiegen,
dass 1931/32 an Schulen und Hochschulen Jazzbands gegründet wurden. Im Hoch’schen
Konservatorium in Frankfurt am Main führte der Direktor Bernhard Sekles die
erste „Jazzklasse“ in Deutschlands Musikhochschulen ein, was ihm viele Anfeindungen
einbrachte. Diese „Jazz-Klasse“ stand unter der Leitung von Matyas Seiber.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bewirkte jedoch ein baldiges Ende
solcher Neuerungen.
1. Solidaritätslied („Vorwärts! Und
nicht vergessen“)
Auf der CD „Historische Aufnahmen“
wird das Lied gesungen von Ernst Busch, den Eisler im Spätsommer 1929 kennenlernte.
Busch war Schauspieler und Sänger, er spielte seit 1927 bei Erwin Piscator.
Busch, der singende Schauspieler, galt als der ideale Sänger der Lieder Eislers.
An der Vertonung des „Solidaritätsliedes“ arbeitete er aktiv mit (Brecht-Liederbuch
1985, S. 453), auch nahm er zeitlichen und örtlichen Umständen entsprechend
öfter Textänderungen vor.
Das „Solidaritätslied“
war für die Straße bestimmt, es hat Marschcharakter. Jedoch: „Die dem Marsch
eigene Disziplin ist nicht die sture des preußischen Drills, sondern durch
sachte Jazz-Elemente ins Leichte, Elegante, Überlegene geführt, und die
metrischen Verkürzungen im Refrain wenden sich gegen Unterwerfung unter das
Schema“ (Brecht-Liederbuch 1985, S. 455).
Über die Wirkung eines solchen Liedes schrieb Bertolt Brecht: „Das Arbeiterkampflied kann eine starke politische Wirkung ausüben in Zeiten, wo die Arbeiter unter demokratischen Regierungen ihre Ziele offen propagieren können, und in solchen Zeiten, so faschistische Diktaturen gesprengt werden und die Massen in ... Bewegung kommen. Das Kampflied kann helfen, die Bewegung weiterzutreiben, sie zu vertiefen und sie zu organisieren“ (Brecht, Liederbuch, hg. v. Fritz Hennenberg, 1984, S. 453). Es gibt verschiedene Textfassungen dieses Liedes, denn der Text eines Kampfliedes muss immer aktuell sein.
2. Die Ballade von den Säckeschmeißern
Entstammt dem 3. Teil des Films „Kuhle
Wampe“. In der Schlusssequenz des Films, die die Heimfahrt in der S-Bahn
zeigt, löst eine Zeitungsmeldung über Brasilien, wo Kaffee (wegen Überproduktion
und um die Preise nicht sinken zu lassen) verbrannt wird, eine heftige politische
Diskussion zwischen konservativen Bürgern und den jungen Arbeitern aus, die
die Welt verändern wollen.
Den Text der „Ballade von den Säckeschmeißern“
verfasste Julian Arendt.
Zwischen 1929 und 1931 schrieb Eisler
eine Reihe von Balladen für Gesang und kleines Orchester, die er im „Balladenbuch“
op. 18 und den „Vier Balladen“ op. 22 zusammenfasste. Die Texte stammen von
verschiedenen Autoren. Die Lieder waren bestimmt für Ernst Busch, dessen Auftritte
nicht nur Kampflieder zum Mit- und Nachsingen verlangten, sondern auch Lieder
zum Zuhören – z. B. im Kabarett (Schebera 1998, S. 69).
Die Instrumentalbegleitung verwendet
ein Jazzinstrumentarium und überhaupt Elemente des Jazz. Obwohl besonders
Kurt Weill diese Mittel schon vor Eisler eingesetzt hatte, betritt mit den
Balladen doch etwas Neues die Bühne: Während Weill die Brecht-Texte gern Foxtrott-,
Shimmy- und Tangomelodien begleitete, sind Eislers Balladen kämpferischer
(Schebera 1998, S. 69). Die Tonart „Ballade von den Säckeschmeißern“ variiert,
kein festes tonales Zentrum; Dominanz der Molltonarten trotz des kämpferischen
Charakters.
3. „Mein Sohn, was immer auch aus
dir werde“
Gehört zu den „Vier Wiegenliedern
für Arbeitermütter“, die 1932 im Umfeld des Stücks von Brecht „Die Mutter“
entstanden. In diesem Zusammenhang wurden sie von Helene Weigel gesungen,
die, wie berichtet wird, nach dem Vortrag dieser Lieder
öfter polizeilich vernommen wurde (Brecht, Liederbuch, hg. v. Fritz Hennenberg,
1984, S. 457). Erstmals veröffentlicht wurden die „Vier Wiegenlieder für Arbeitermütter“
1934 in „Lieder, Gedichte, Chöre“ in Paris.
Wird u. a. gesungen von Gisela May.
Von ihr gibt es eine Schallplatte, die unter Anleitung von Eisler persönlich
erarbeitet wurde. Es wird berichtet, dass Eisler dieses Lied nicht als traurig
und tragisch interpretiert haben wollte, sondern als eher freundlich und
leicht (Brecht, Liederbuch, hg. v. Fritz Hennenberg, 1984, S. 459). Eisler
wollte verhindern, dass sich der Interpret oder auch Zuhörer emotional identifiziert.
Er entwickelte Kompositionsmethoden, die den Zauber der Identifizierung
und die unmittelbare emotionale Beziehung zum schönen Klang brechen.
Er zielte wie auch Brecht nicht auf eine Kunst, die heftige Gefühle evoziert,
sondern die zum Nachdenken anregt.
Vor allem in der 7. Strophe hat das
Lied einen kämpferischen, marschartigen Charakter: Hier findet ein Wechsel
vom Privaten zum Wir statt. Die Schlussstrophe appelliert an Gefühle von
Solidarität („...müssen zusammenstehn und müssen erreichen“). Der abschließende
Teil, der an die 3. und 6. Strophe anknüpft, betont den Marschcharakter („daß
es auf dieser Welt nicht mehr zweierlei Menschen gibt“).
4. „O Falladah, die du hangest!“
Text: Bertolt Brecht. Anklage gegen
die seelische Verkrüppelung des Menschen infolge wirtschaftlicher Not. Der
Name „Falladah“ ist aus Grimms Märchen „Die Gänsemagd“ entnommen, wo es aber
heißt „O du Falada, da du hangest“.
In seinen „Hundert Gedichten“ hat
Brecht den Text auf 1919 datiert. Der Text bezieht sich auf die Hungerperiode
der Kriegs- und Nachkriegszeit, wo sich dergleichen anscheinend öfter ereignet
hat. Eislers Vertonung entstand 1932.
Taktwechsel; Schlussteil besonders
durch den ¾-Takt hervorgehoben. Der balladeske, berichtende Charakter wird
hier durchbrochen; er enthält einen Appell an die Menschlichkeit und menschliche
Hilfsbereitschaft und zugleich eine Warnung; der Schlussteil hat den Charakter
des Kampfliedes.
5. Stempellied („Lied der Arbeitslosen“)
Text von David Weber (Pseudonym für Robert Gilbert): „Stempellied“
oder „Lied der Arbeitslosen“, entstanden 1929 (?), hier gesungen von Ernst
Busch. Das Lied ist eine Parodie auf das Eichendorff-Gedicht „Des Jägers
Abschied“ („Wer hat dich, du schöner Wald“) im Berliner Jargon. Von dem Eichendorff-Gedicht
gibt es eine Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy – ein Lieblingsstück
der Männerchöre –, die Eisler zitiert.
Inhaltlicher
Bezug des Liedes: Nach der amtlichen Statistik gab es zu Beginn des Jahres
1929 2.850.000 Arbeitslose. Nach dem Börsenkrach in den USA im Oktober 1929,
dem „schwarzen Freitag“, griff die Weltwirtschaftskrise auf die europäischen
Länder über. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland stieg an auf ca. 3.218.000
Arbeitslose, von denen ca. 700.000 keine Unterstützung erhielten (vgl. Annemarie
Stern, Lieder gegen den Tritt, S. 230).
Das „Stempellied“
wurde von Ernst Busch und Hanns Eisler im Oktober 1929 in Werner Fincks
Kabarett „Die Katakombe“ vorgetragen. Neben den nächtlichen Kabarettvorträgen
gab es jedoch auch Auftritte vor einem breiteren Publikum (Arbeiterpublikum)
in kleinen und großen Sälen (Schebera 1998, S. 66). Das „Stempellied“ wurde
sehr populär.
Tucholsky war Journalist und Schriftsteller.
Er schrieb überwiegend unter verschiedenen Pseudonymen für Tageszeitungen,
Illustrierten, Wochenblätter, Satirezeitschriften, Anthologien und Bücher:
Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel
Tucholsky wurde am 9.1.1890 in Berlin
geboren; er starb im schwedischen Exil am 21.12.1935 durch Selbstmord.
Tucholsky entstammte einer großbürgerlichen,
assimilierten jüdischen Familie. Er studierte Jura in Berlin und Genf, promovierte
1915 in Jena.
Seit 1907 veröffentlichte er Texte
in Feuilletons, insbesondere in „Die Schaubühne“, die 1918 in „Die Weltbühne“
umbenannt wurde.
Tucholsky absolvierte nach dem Studium
seinen Militärdienst an der Ostfront. Die Kriegserfahrungen verwandelten ihn
in einen linksorientierten politischen Schriftsteller.
Von Ende 1918 bis 1920 war Tucholsky
Chefredakteur des „Ulk“, der satirischen Beilage des „Berliner Tageblatts“.
Anschließend arbeitete er als freier Publizist. 1926 wurde er Herausgeber
der „Weltbühne“.
Nach einem Intermezzo als Bankangestellter
während der Inflation ging er im April 1924 als Korrespondent nach Paris.
1929 übersiedelte er nach Schweden.
1933 stand sein Name auf der ersten
Ausbürgerungsliste des nationalsozialistischen Staates. Auf Hitler reagierte
Tucholsky mit Boykott: Er veröffentlichte nichts mehr. Er entzog sich auch
der Emigrantenszene. Aus Verzweiflung an der Entwicklung in Deutschland nahm
er sich am 21. Dezember 1935 das Leben.
Tucholskys „Werk präsentiert sich
als ein Kaleidoskop von kleinen literarisch-journalistischen Formen. Vom politischen
Tagesgedicht bis zur Gerichtsreportage, vom Kabarettsong bis zur Buchkritik,
vom soziologischen Essay bis zum sentimentalen Chanson, vom Liebesgedicht
über die Theaterkritik bis zum politischen Leitartikel hat T. mit seinem
Gesamtwerk die Palette der Möglichkeiten des politisch-literarischen Journalismus
vorgelegt“ (Harenberg-Lexikon, Bd. 5, S. 2900). Außerdem verfasste er: zwei
heiter-ironische Romane: „Rheinsberg“ (1912), „Schloß Gripsholm“ (1932);
gemeinsam mit John Heartfield den Text-Bildband „Deutschland, Deutschland
über alles“ (1929); den Reisebericht „Ein Pyrenäenbuch“ (1927) und in Zusammenarbeit
mit W. Hasenclever ein – nahezu unbekannt gebliebenes – Theaterstück. Schon
zu seinen Lebzeiten gab Tucholsky seine da und dort publizierten Texte auch
gesammelt heraus: z. B. „Das Lächeln der Mona Lisa“ (1929).
„T. schrieb unterhaltsam, weil er
davon überzeugt war, daß nur so sein Publikum auch politisch zur Einsicht
gebracht werden könnte“ (Harenberg-Lexikon, Bd. 5, S. 2900). Sein Vorbild
war Heinrich Heine. Zu Bertolt Brecht hatte er ein distanziertes Verhältnis.
Trotz aller Sympathien für die extreme politische Linke war er von Marxismus
und Kommunismus nicht überzeugt. Politisch war er ein radikaler Demokrat.
Die Prinzipien der Weimarer Verfassung verteidigte er gegen Konservative und
Reaktionäre, „zugleich brandmarkte er die nach seiner Meinung leichtfertig
laxe Rolle der Weimarer SPD“ (Harenberg-Lexikon, Bd. 5, S. 2900).
Ausgewählte Gedichte und Songs:
Tucholsky veröffentlichte in verschiedenen
Zeitschriften und Büchern ca. achthundert Gedichte – fast alle unter den o.
g. Pseudonymen. Seine Couplets und Chansons verfasste er oft im Auftrag von
Berliner Revuetheatern und Kabaretts („Schall und Rauch“, „Die Gondel“, „Die
wilde Bühne“). Er widmete sie Interpreten wie Paul Graetz und schrieb sie
für Chansonsängerinnen wie Trude Hesterberg, Gussy Holl, Kate Kühl und Claire
Waldoff.
Der Aufbau seiner Songs war meist
einfach: liedhafte Strophen mit Kreuz- oder Paarreim und Refrain. Sie richten
sich vorwiegend an das Publikum der Kabaretts, nicht an einen Leser. Sie scheinen
oft „aus dem Ärmel geschüttelt“ zu sein. Es ist aber überliefert, dass er
„ein oft an der eigenen Sorgfalt verzagender penibler Arbeiter“ war (Fritz
J. Raddatz im Kommentar zu der CD „Kurt Tucholsky, Chansons, Prosa, Briefe“).
„An den deutschen Mond“ (CD Kurt Tucholsky, Chansons, Prosa,
Briefe. Nr. 19)
Dieses Gedicht bzw. Lied, das 1920
entstanden ist, lehnt sich an das bekannte Lied „Guter Mond, du gehst so stille“
an, dessen Text (meist sieben Strophen) und Melodie seit ca. 1800 überliefert
sind. Es handelt sich um eine sentimentale Liebesklage.
Sowohl die Popularität des Liedes
als auch seine Sentimentalität reizten Tucholsky vermutlich, eine Parodie
darauf zu verfassen. Eislers Melodie dazu stützt sich auf das traditionelle
Lied: Der erste Vierzeiler jeder Strophe verwendet dessen Melodie; der zweite
Vierzeiler jedoch ist neu komponiert und wirkt gegenüber dem Original weitaus
aggressiver. Tucholskys Text ist gegenüber dem Originallied mit politischem
Inhalt gefüllt: Er hat deutliche Bezüge zur wirtschaftlichen und politischen
Situation der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.
Die zweite Strophe enthält eine Anspielung
auf Gustav Noske (1868–1946), einen Politiker der SPD, der im Dezember 1918
im Auftrag der Reichsregierung den Matrosenaufstand in Kiel und im Frühjahr
1919 revolutionäre Erhebungen unterdrückte. Er musste nach dem Kapp-Putsch
(1920) zurücktreten.
Die zweite Strophe greift ebenso
die Auseinandersetzungen um die Flagge nach dem Ersten Weltkrieg auf: In den
Nachkriegsjahren gab es viele Kontroversen um nationale Symbole, so auch um
die Flagge. Die nationale Rechte wollte eine Fortsetzung des Schwarz-Weiß-Rot,
die Kommunisten die rote Fahne; Zentrum, SPD und linke Liberale wollten Schwarz-Weiß-Rot
durch Schwarz-Rot-Gold ersetzen. Die Parteien der Mitte, der „Weimarer Koalition“,
konnten sich durchsetzen: Schwarz-Rot-Gold wurde Reichsflagge, doch blieb
Schwarz-Weiß-Rot für die Handelsflagge bestehen. (Im Dritten Reich war die
Flagge wieder schwarz-weiß-rot, sie wurde gemeinsam mit der Hakenkreuzfahne
gehisst.)
Die dritte Strophe nennt den deutschen
Heerführer Erich Ludendorff (1865–1937). Er bestimmte während des Ersten Weltkriegs
maßgeblich die deutsche Kriegsführung. Nach dem militärischen Scheitern trat
er überstürzt zurück, forderte 1918 einen sofortigen Waffenstillstand; im
Oktober 1918 wurde er verabschiedet. Im Unterschied zu vielen Kriegsinvaliden
war er jedoch gut versorgt.
Die letzte Strophe drückt Tucholskys
Wunsch nach Frieden aus, der durch die Abschaffung des Militärs möglich wäre
– eine schöne Wunschvorstellung, die sich mit der Situation in Deutschland
offensichtlich kaum vertrug.
Geboren am 23. Februar 1899 in Dresden,
gestorben am 29. Juli 1974 in München. Kästner studierte in Leipzig, Rostock
und Berlin Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theatergeschichte. Er
promovierte 1925.
Kästner war seinem Selbstverständnis
nach „Gebrauchslyriker“, d.h. seine Gedichte waren „Handlungsanleitungen für
den Alltag“ und die Dichter rangierten für ihn „unmittelbar nach den Handwerkern“
(„Erich Kästner“. In: Hauptwerke der deutschen Literatur. Einzeldarstellungen
und Interpretationen. Band 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwartsliteratur. München
1994. S. 430). „Neue Sachlichkeit“: Versuch einer Verbindung von Literatur
und gesellschaftlicher Kritik, die ihre Wirksamkeit auch durch unterhaltsame
Momente zu erreichen versucht (ebd.).
Außerdem trat Kästner als Romancier
für Kinder und Erwachsene, Satiriker, Journalist und Drehbuchautor hervor.
„Üble Erfahrungen mit der Lehrerausbildung
im Wilhelminischen Obrigkeitsstaat und eine menschenunwürdige Rekrutenausbildung
im Jahre 1917 ließen K. zu einem überzeugten Pazifisten und Republikaner mit
aufklärerischem Ethos werden“ (Harenberg Lexikon der Weltliteratur, S. 1586).
Prägend waren für ihn die Kriegs- und Nachkriegszeit, Revolution und Inflation.
Kritik des autoritären Erziehungssystems und des Militarismus. Angriffe auf
die kleinbürgerliche Mentalität. Darstellung des Schicksals von Arbeitslosen
und sozialer Missstände. Beklagt den Verlust moralischer Werte. „Kästners
Gesellschaftskritik beruht nicht auf einer reflexiven Analyse der Verhältnisse;
sie ist eher intuitiv und moralisch angelegt und beschränkt sich deshalb
in der Regel auf den Appell an den guten Willen... Die Einsicht in die eigene
Ohnmacht gegenüber den kritisierten Verhältnissen mündet immer wieder in
resignativen Aussagen... Von den Zeitgenossen wurde diese Haltung teilweise
scharf kritisiert. Walter Benjamin hat ... Kästners Haltung unter dem Titel
‚Linke Melancholie’ als positionslosen politischen Radikalismus charakterisiert,
der schließlich im Fatalismus münde...“ („Erich Kästner“. In: Hauptwerke
der deutschen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. Band 2:
Vom Vormärz bis zur Gegenwartsliteratur. München 1994. S. 430).
Kästner begann seine literarischen
Karriere als Journalist. Durch seine Theaterrezensionen und sein lyrisches
Schaffen wurde er bald bekannt.
1928 „Herz auf Taille“ (erster Gedichtband)
weitere Gedichtbände waren:
1928 „Lärm im Spiegel“
1930 „Ein Mann gibt Auskunft“
1932 „Gesang zwischen zwei Stühlen“
Außerdem war er als Kinderbuchautor
tätig:
1929 „Emil und die Detektive“
1931 „Pünktchen und Anton“; „Der
35. Mai oder Konrad reist in die Südsee“
1933 „Das fliegende Klassenzimmer“
1931 veröffentlichte Kästner seinen
Roman „Fabian“, eine Satire auf die ausgehenden zwanziger Jahre z. Zt. der
Weltwirtschaftskrise. Thema ist das Scheitern des Moralisten Fabian in der
Großstadt Berlin.
Kästner war politisch linksliberal.
Er war u. a. Mitarbeiter der „Weltbühne“ und der „Vossischen Zeitung“. Wegen
seiner Offenheit in Fragen der Sexualmoral erregte Kästner u. a. bei der politischen
Rechten Anstoß. Die Nationalsozialisten verbrannten am 10. Mai 1933 auch
seine Bücher. Kästner emigrierte nicht, sondern verfasste humoristische Unterhaltungsliteratur:
1934 „Drei Männer im Schnee“
1935 „Die verschwundene Miniatur“
1936 erschien in Zürich der Band
„Doktor Kästners Lyrische Hausapotheke“; sie versammelte alte und neue Gedichte
Nachdem bekannt wurde, dass er unter
einem Pseudonym das Drehbuch für den Film „Münchhausen“ für die UFA geschrieben
hatte, wurde er 1942 mit einem totalen Schreib- und Publikationsverbot belegt.
(Hierzu gibt es in den verschiedenen Darstellungen unterschiedliche Angaben.
Bei einigen Autoren heißt es, dass das Schreibverbot für Kästner 1942 gelockert
worden sei.)
1956 versuchte er in der Komödie
„Die Schule der Diktatoren“ eine Abrechnung mit dem autoritären Staat. Sein
friedenspolitisches Engagement drückte er in der Tierfabel „Die Konferenz
der Tiere“ (1949), die später auch als Zeichentrickfilm verfilmt wurde.
Für die Münchener Kabaretts „Die
Schaubude“ und „Die kleine Freiheit“ schrieb Kästner nach 1945 Chansons und
Texte. 1957 erschienen seine Erinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“.
Vor allem seine Kinderbücher brachten ihm international viele Preise ein;
1957 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.
Ausgewählte Lieder und Gedichte
1. „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“
Eine Kontrafaktur des bekannten Weihnachtslied
für Kinder „Morgen, Kinder, wird’s was geben“, dessen Text seit 1795 tradiert
ist, die Melodie von Karl Gottlieb Hering seit 1809. In den verschiedenen
Liederbüchern gibt es in mehreren Strophen textliche Abweichungen. In der
Sammlung „Deutsche Lieder“ von Ernst Klusen ist eine andere Melodie wiedergegeben
als in den anderen durchgesehenen Liederbüchern; Klusens Version ist möglicherweise
fehlerhaft. Allen Fassungen gemeinsam ist die Grundstimmung des Weihnachtsliedes:
die Vorfreude auf das Fest und das Schwelgen in schönen Erinnerungen an vergangene
Weihnachtsfeste.
Seine Umdichtung nennt Kästner „chemisch
gereinigt“: befreit vom Inhalt des Ursprungsliedes, ernüchternd, desillusionierend,
bitter. Das Gedicht bzw. Lied wurde 1928 in der Sammlung „Herz auf Taille“
veröffentlicht. Der Textinhalt hat einen Bezug zur damaligen sozialen Situation:
Arbeitslosigkeit, Armut. Die Freude am Fest wird den Kindern „ausgeredet“,
um die Frustration erträglicher zu machen. Die politischen Anspielungen sind
weniger direkt als bei Tucholsky; keine Namen werden genannt, dennoch ist
der politische und soziale Hintergrund deutlich.
Die „Anmerkung“ ist sicherlich ironisch
gemeint.
2. „Kennst du das Land, wo
die Kanonen blüh’n“
Dieses 1928 entstandene antimilitaristische
Gedicht gehört zu den berühmtesten Texten von Kästner. Es gibt davon eine
Vertonung von Günther Freundlich.
Es nimmt Bezug auf das berühmte Mignon-Gedicht
von Goethe. Kästner griff gelegentlich die klassische Literaturtradition auf
und verfremdete sie satirisch. „Kästners Lyrik läßt sich auch als Reaktion
auf die Epoche des expressionistischen Gedichts begreifen. Seine eigenen Gedichte
lesen sich fast als direkter Gegenentwurf dazu: An die Stelle des expressionistischen
Pathos tritt eine Mischung aus traditioneller Lyriksprache und betont nüchterner
Ausdrucksform, die zum guten Teil von Anlehnungen an den Jargon des Alltags
lebt...“ („Erich Kästner“. In: Hauptwerke der deutschen Literatur, S. 430;
der Expressionismus in der Literatur umfasste etwa die Zeit zwischen 1910
und 1925).
Goethes Mignon-Gedicht leitet das
dritte Buch seines Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ein. Es drückt die
Italien-Sehnsucht des in den rauhen Norden verschlagenen Kindes Mignon aus
und vergegenwärtigt das ferne südliche Land mit seinen fremdartigen Früchten
und Pflanzen, seiner von klassischem Geist geprägten Architektur und seiner
wilden Landschaft.
Das Mignon-Gedicht wurde oft vertont.
Die erste Vertonung stammt von Johann Friedrich Reichardt, Goethe fügte sie
als Notenbeilage der Erstausgabe seines Romans bei. Es folgten weitere Vertonungen,
darunter allein sechs von Goethes Freund Carl Friedrich Zelter sowie Vertonungen
von Ludwig van Beethoven, Louis Spohr, Franz Schubert, Gasparo Spontini, Robert
Schumann, Anton Rubinstein, Franz Liszt, Peter Tschaikowsky u. a..
Es entstanden auch zahlreiche Parodien
des Mignon-Gedichts, die ebenfalls dessen Popularität belegen. Schon zu Goethes
Lebzeiten wurde es oft bearbeitet. Viele der Umtextierungen zeigen im übrigen,
dass Parodien keineswegs immer ihre Vorlage kritisieren, sondern sie zu sehr
unterschiedlichen Zwecken verwenden: „zur Unterhaltung und zum Spaß ebenso
wie zur Erbauung, zur Demaskierung und zur politischen Propaganda oder zur
Werbung, freilich auch zur Gesellschaftskritik und Literatursatire“ (Segebrecht
1982).
Goethe äußerte seinen Ärger über
Parodien, als er 1824 an Zelter schrieb, er sei „ein Todfeind von allem Parodieren
und Travestieren, weil dieses garstige Gezücht das Schöne, Edle, Große herunterzieht,
um es zu vernichten“ (Segebrecht 1982). Doch änderten sämtliche Parodien nichts
an der Tatsache, dass das Mignon-Lied zu den schönsten deutschen Gedichten
zählt. „Ist überhaupt das Schöne ernsthaft verletzbar durch irgendeinen Gebrauch,
den man von ihm macht? Oder gilt vielleicht gar das Gegenteil, so daß Parodien
das Schöne nicht vernichten, sondern es erst sichtbar machen, gerade im Gegenentwurf,
durch die Negation, trotz der aggressiven Kritik oder der Komik“ (Segebrecht
1982).
Es gibt u. a. viele politische Parodien
des Mignon-Liedes. Dazu gehört Kästners Umdichtung, die im Hinblick auf die
Jahre nach 1933 geradezu hellseherisch erscheint. Das Grundgefühl des Goetheschen
Mignon-Gedichts, die Sehnsucht nach einem schönen fernen Land, ist bei Kästner
restlos getilgt. Das Land, das an dessen Stelle rückt, ist gekennzeichnet
durch militärischen Drill, Lieblosigkeit, einen Mangel an Phantasie und Geist
– obgleich das Land (gemeint ist Deutschland) günstige
Voraussetzungen für ein glückliches Dasein bietet. Kästners Text endet mit
einer Zeile, die angesichts der späteren politischen Ereignisse wie eine düstere
Prophezeiung klingt: „Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!“
3. „Surabaya-Johnny II“
entstand 1932. Musik: Bert Grund.
Es handelt sich um eine Parodie auf
Bertolt Brechts bekannten Song von „Surabaya-Johnny“, den Kate Kühl in Werner
Fincks Kabarett „Katakombe“ vortrug. Kate Kühl hatte auch Brecht/Weills originales
Lied in ihrem Repertoire.
Bertolt Brechts Vorlage für dieses
Lied war die Übersetzung eines Gedichts von Rudyard Kipling. Kipling war ein
englischer Schriftsteller, der vor allem durch die „Dschungelbücher“ (1894/95)
bekannt wurde. Musik zu Brechts „Surabaya-Johnny“ schrieben Franz S. Bruinier,
Hanns Eisler und Kurt Weill. Brecht baute „Das Lied vom Surabaya-Johnny“,
das zunächst für die „Dreigroschenoper“ vorgesehen war, in sein Stück „Happy
End“, das 1929 uraufgeführt wurde, ein.
Das Lied wurde schnell populär –
was u. a. die 1930 entstandene Parodie von Erich Kästner beweist. Sie enthält
Anspielungen auf das englische Vorbild, attackiert Brechts Arbeitsweise, Stücke
zu übernehmen, und macht sich über die Exotik des Originals und seine Darstellung
des „Macho“ lustig.