Lieder des 19. Jahrhunderts

(Seminar Probst-Effah, Sommersemester 2007)

(Das Skript, das einige ausgewählte Lieder thematisiert, basiert inhaltlich auf einem Teil der im Folgenden genannten Literatur sowie Beiträgen zum Seminar.)

 

Inhalt

Das „Lied der Deutschen“

Die „Internationale“

Die „Marseillaise“

Friedrich Silcher; „Der Lindenbaum“; „Loreley

La Paloma

Weberlieder („Das Blutgericht“; Heinrich Heine: „Die schlesischen Weber“)

Auswanderung

Lieder der Revolution von 1848/49

 

Das „Lied der Deutschen“

Literatur (Auswahl)

Enzensberger, Ulrich (1986): Auferstanden über alles. Fünf Erhebungen. Berlin: Rotbuch-Verlag

Glaner, Birgit: Art. „Nationalhymnen“. In: MGG

Greve, Uwe (1982): Einigkeit und Recht und Freiheit. Kleine Geschichte des Deutschlandliedes. Heidelberg

Günther, Ulrich (1966): „...über alles in der Welt“? Darmstadt, Neuwied

Hansen, H. J. (1978): Heil Dir im Siegerkranz. Die Hymnen der Deutschen. Heidelberg / Oldenburg

Knopp, Guido / Kuhn, Ekkehard (1988): Das Lied der Deutschen. Schicksal einer Hymne. Berlin, Frankfurt am Main

Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz

Nationalhymnen (1982). Texte und Melodien. Stuttgart

Nationalhymnen (1988). 21 neue Arrangements. Mainz etc.: Schott

Otto, Till / Otto, Uli (2007): „Deutschland, Deutschland über Alles“. Die deutsche Nationalhymne – ein „fragwürdiges Lied“. Ausführungen zur Entstehung, Rezeptionsgeschichte und Gegenwart der deutschen Nationalhymne. Regensburg (unveröffentlichte Hausarbeit)

Ragozat, Ulrich (1982): Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon. Freiburg i.Br.

Rumler, Fritz (1999): Wigwam, Walstatt, Walhall. Die bizarre Welt der Nationalhymnen. Spiegel Spezial 6/1999. S. 66

Sievritts, Manfred (1984): Politisch Lied, ein garstig Lied?. Wiesbaden

Trümmler, Hans (1979): Deutschland, Deutschland über alles. Köln

Tonträger (Auswahl)

Deutschlandlied, gesungen von Heino und Chor. EMI Electrola GmbH 1978 (unverkäufliche Sonderauflage)

Geschichte in Liedern. Deutschland im 20. Jahrhundert. CD + Buchpublikation. Stuttgart 1997 (RAAbits Geschichte)

10 Jahre Schlagerparade 1941–1950. 10 LP. Deutsche Grammophon Gesellschaft mbH / Polydor Mono 2630137 (auf LP 8 „Trizonesien-Song“)

CD „Hymnen der Deutschen“. Stimmen des 20. Jahrhunderts. Deutsches Historisches Mu­seum, Deutsches Rundfunkarchiv 1998

Filme (Auswahl)

Das Lied der Deutschen. Vom Umgang mit unserer Hymne. Dokumentation von Ekkehard Kuhn. ZDF, 19.05.1986

 

Nationalhymnen

Definition (vgl. Glaner, in: MGG)

„Die Nationalhymne ... ist ein in der Regel mit Text unterlegtes Musikstück, das durch staatliches Dekret zum nationalen Symbol erhoben wird ... Zusammen mit der Staatsflagge und dem Staatswappen repräsentiert sie die nationale Souveränität eines Landes. Die Nationalhymne wird bei staatlichen, sportlichen und anderen öffentlichen Anlässen gesungen bzw. gespielt“ (Glaner, MGG, Sp. 16). Oft erklingen Nationalhymnen zum Sendeschluss der Rundfunkanstalten, in manchen Ländern auch am Ende von Theater- und Kinovorstellungen.

Geschichte

Der Begriff „Hymne“ bedeutet ursprünglich den rituellen Opfer-, Fest- und Lobgesang zu Ehren einer Gottheit. Später gab es auch säkularisierte Hymnen (oder Oden), die Volkshelden oder weltliche Herrscher priesen. Mit dem beginnenden Nationalismus im 19. Jahrhundert „wird schließlich auch das Vaterland zum quasi-göttlichen Gegenstand der gesungenen Verehrung“ (Glaner, MGG, Sp. 16). Das erste deutschsprachige Lied, das die Ehre des Vaterlandes verherrlicht, wird Walther von der Vogelweide zugeschrieben („Ir sult sprechen: willekomen“, um 1200). Vorläufer der Nationalhymne sind auch religiöse Kampflieder wie Luthers reformatorisches „Ein feste Burg“ (1529). Die älteste bekannte Nationalhymne Europas ist „Wilhelmus von Nassouwe“ (1568), die seit 1932 offizielle Staatshymne der Niederlande ist. Sie entstand als Kampflied der Geusen in ihrem Befreiungskampf gegen die Spanier unter ihrem Anführer Wilhelm von Oranien. Als die älteste Hymne der Welt gilt die japanische, deren Text bereits im 12. Jahrhundert verfasst wurde, jedoch erst 1876 Nationalhymne wurde; sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erst 1999 wieder offiziell zur Nationalhymne erklärt.

Neben den Nationalhymnen sind es Wappen und Flaggen, die eine besondere symbolische Bedeutung haben und denen mit Respekt begegnet werden soll. Nationalhymnen werden häufig stehend gesungen, sie sind Teil eines Ritus und verlangen Ehrfurchtsgesten wie die Abnahme der Kopfbedeckung und militärische „Habacht-Stellung“. Dementsprechend wird die Verunglimpfung von Nationalhymnen in vielen Ländern – auch in der Bundesrepublik Deutschland – unter Strafe gestellt.

Nationalhymnen sind eng verbunden mit der Geschichte des Staates, den sie repräsentieren. Sich verändernde Machtverhältnisse spiegeln sich häufig in wechselnden Nationalliedern. Die meisten offiziellen Staatslieder waren einmal Gesänge, die in kriegerischen Auseinandersetzungen und Erhebungen eine Rolle gespielt haben: Die französische „Marseillaise“ stammt aus dem 1. Koalitionskrieg während der Französischen Revolution, die amerikanische Hymne „Star Spangled Banner“ aus dem amerikanischen Krieg 1812–14 gegen England, die „Internationale“, lange Zeit Nationalhymne der Sowjetunion, aus den revolutionären Kämpfen der Pariser Kommune; die meisten südamerikanischen Hymnen entstanden in den Unabhängigkeitskriegen gegen die Kolonialmächte Spanien und Portugal. Durch die Verbundenheit mit Kriegen und Revolutionen sind die Textinhalte oft aggressiv und nationalistisch.

Als wegweisend bei der weltweiten Verbreitung von Nationalhymnen gelten die französische „Marseillaise“ und das englische „God Save the King / Queen“. Die englische Hymne, die erstmals 1745 in der Öffentlichkeit erklungen sein soll, wurde sehr populär und in der ganzen Welt von zahlreichen anderen Staaten adaptiert. Sie wurde u. a. Vorlage für das 1793 von Balthasar Gerhard Schumacher gedichtete „Heil Dir im Siegerkranz“ (erstmals veröffentlicht 1793). Die französische „Marseillaise“ gilt als Prototyp der Revolutionshymne. Daher diente sie zahlreichen Ländern in der Phase nationaler Selbstbehauptung als Vorbild. Viele Länder wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts staatlich unabhängig – so die ehemaligen Kolonien oder die Länder des zerbrochenen „Ostblocks“ – und wollten nun ihre eigenen musikalischen Staatssymbole. Allerdings ist bemerkenswert, dass außereuropäische Nationalhymnen nicht auf der musikalischen Tradition des jeweiligen Landes basieren, sondern mit wenigen Ausnahmen westeuropäische Melodietypen adaptieren. Prägend war dabei oft der Stil der durch die ehemalige Kolonialmacht importierten Militärmusik.

 

Das „Lied der Deutschen“

Im Januar 1797 entstand die österreichische Kaiserhymne. Joseph Haydn (1732–1809) schrieb sie, als napoleonische Truppen auf Wien vorrückten. Die Melodie imitiert den Stil der englischen Hymne, die Haydn auf seiner Londonreise (1790–1795) kennengelernt hatte. Ein Freund Haydns, Baron Gottfried van Swieten, leitete die bereits als Nationalhymne konzipierte Komposition an den Wiener Hof weiter, wo Innenminister Graf Franz von Saurau den Theologieprofessor Lorenz Leopold Haschka mit der Textdichtung beauftragte. Am 12. Februar 1797 wurde die Hymne anlässlich des Geburtstages von Kaiser Franz II. am Wiener Hoftheater uraufgeführt. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 wurde die Kaiserhymne obsolet.

Joseph Haydn erweiterte 1797/98 die von ihm komponierte Hymne zu dem Variationensatz (Adagio) seines „Kaiserquartetts“ in C-Dur op. 76, Nr. 3.

Später verband sich im „Lied der Deutschen“ Haydns Melodie mit dem Text von Hoffmann von Fallersleben.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874)

Das „von Fallersleben“ war kein Adelstitel, sondern diesen Zusatznamen hatte Hoffmann sich selbst gegeben, und zwar nach seinem Geburtsort, wo er am 2. April 1798 zur Welt gekommen war: Fallersleben ist ein Städtchen in der Nähe von Braunschweig. Möglicherweise war diese Namensgebung auch „eine Persiflage auf den Adel, der immer noch das Sagen hatte und die Bürger niederzuhalten versuchte“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 21).

Hoffmann studierte zunächst in Göttingen, dann in Bonn und Berlin. Nach Anfängen in Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte wandte er sich dem Studium der deutschen Philologie zu. Seit 1823 lebte er in Breslau (Schlesien). Er hatte dort seit 1830 eine Professur für Germanistik – ein damals noch neues Fach, begründet von Jakob Grimm. Hoffmann hatte sich nach einer Begegnung mit Grimm dem Studium der deutschen Literatur und Sprache zugewandt. Er gehört zu den „Vätern“ der Germanistik und eines systematischen Deutschunterrichts an den Schulen. Die Germanistik war in dieser Anfangsphase ein Fach, dessen Wissenschaftlichkeit vielfach angezweifelt wurde und das sich im Universitätsfächerkanon nur schwer durchsetzen konnte.

Hoffmann von Fallerleben sammelte auch Volkslieder. 1841 gab er gemeinsam mit Ernst Richter die regionale Volksliedsammlung „Schlesische Volkslieder“ heraus. Er arbeitete längere Zeit mit Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme, den Herausgebern des „Deutschen Liederhorts“, zusammen. Hoffmann sammelte nicht nur deutsche, sondern auch ausländische (belgische und polnische) Lieder. Er folgte damit dem universalistischen Wahrnehmungshorizont Herders und ließ sich durch dessen Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“ inspirieren.

Hoffmann gilt als einer der produktivsten „Liedermacher“ des 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche politische Lieder und schrieb Verse in einem einfachem, „volksnahen“ Ton, z. B. Kinderlieder wie „Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald“, „Alle Vögel sind schon da“, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, „Winter, ade! Scheiden tut weh“.

Als Mitglied der Burschenschaften engagierte sich Hoffmann leidenschaftlich für eine Demokratisierung Deutschlands und für mehr Rechte und Freiheiten der Bürger. In den Burschenschaften hatten sich seit 1815 Studenten und Professoren zusammengeschlossen, die in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gekämpft hatten und von den Beschlüssen des Wiener Kongresses enttäuscht waren. Ein zentrales Ereignis war das Wartburgfest (1817). Gefordert wurden nationale Einheit und Freiheit und Gleichheit aller Bürger. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 wurden die Burschenschaften verboten. Trotz des Verbots gab Hoffmann im selben Jahr gemeinsam mit Ernst Moritz Arndt, der aus politischen Gründen seine Professur verloren hatte, die „Bonner Burschenlieder“ heraus.

Seinem Wunsch nach nationaler Einheit gab Hoffmann u. a. im „Lied der Deutschen“ Ausdruck; er ersehnte die Vereinigung der Staaten des Deutschen Bundes in einem Nationalstaat. Seit 1815 waren die deutschen Staaten zu einem lockeren föderativen Bund zusammengeschlossen, obgleich die deutschen Patrioten in ihrem Kampf gegen die Truppen Napoleons u. a. für die deutsche Einheit gekämpft hatten. Der Deutsche Bund, zu dem es durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses gekommen war, hatte diese Einheit nicht gebracht. Mit den Zeilen „Deutschland, Deutschland über alles“ strebte Hoffmann keinesfalls eine aggressive, expansionistische Politik oder imperialistische Herrschaft an – mit denen die Hymne vor allem seit der Nazi-Zeit in Verbindung gebracht wurde. Es wird in der Literatur immer wieder betont, dass Hoffmann von Fallersleben Republikaner und Demokrat gewesen sei. „Sein Gedicht war nie ein chauvinistischer Fanfarenstoß, sondern stets ein leidenschaftlicher Appell an die zersplitterten Partikularstaaten des deutschen Bundes gewesen – ein Aufruf zur inneren Einigung“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 12).

Die dritte Strophe des „Liedes der Deutschen“ nennt die erstrebten bürgerlichen Rechte („Einigkeit und Recht und Freiheit“) – Forderungen wie sie seit der Französischen Revolution von 1789 laut geworden waren („liberté, égalité, fraternité“).

1840 veröffentlichte Hoffmann eine Gedichtsammlung bei dem Hamburger Verlag Hoffmann und Campe, der auch der Verleger Heinrich Heines und anderer Vormärzliteraten war. Ihr Titel – „Unpolitische Lieder“ – war eine bewusste Irreführung der Zensur. Hoffmann verlieh in diesen Versen seinem Wunsch nach gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und vor allem nach der nationalen Einheit Deutschlands Ausdruck.

Im August 1841 reiste Hoffmann zu einer Kur nach Helgoland. Sein Arzt hatte ihm Seeklima empfohlen, die Nordseeinsel, die seit 1806 in britischem Besitz war, war damals ein bekannter Badeort. Während dieses Aufenthalts schrieb er passend zu Haydns Melodie, die damals schon sehr bekannt war, drei Strophen mit dem Textanfang „Deutschland, Deutschland über alles“. Obgleich August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ insgesamt über fünfzig Mal vertont wurde (Knopp / Kuhn 1988, S. 32), bevorzugte der Textdichter Haydns Melodie.

Am 28. August 1841 kam der Verleger Campe gemeinsam mit dem Stuttgarter Buchhändler Paul Neff nach Helgoland. Er brachte Hoffmann das erste fertige Exemplar des zweiten Teils der „Unpolitischen Lieder“ mit. Bei diesem Besuch bot der dem Verleger für vier Louisdor das „Lied der Deutschen“ an, das schon wenige Tage später als Einzeldruck erschien, wobei Haydns Melodie für Singstimme, Klavier und Gitarre arrangiert war.

Mit dem „Lied der Deutschen“ und den „Unpolitischen Liedern“ galt Hoffmann als ein „aufmüpfiger“ Dichter und Staatsfeind. In vielen deutschen Staaten wurden seine Gedichte und Lieder verboten, er verlor seine Professur 1842 und wurde des Landes verwiesen.

Mit seiner Amtsenthebung begannen für Hoffmann Jahre der Flucht und Verfolgung. Er war gezwungen umherzuziehen, konnte sich nirgendwo niederlassen, wurde immer wieder ausgewiesen. Unterdessen wurde sein „Lied der Deutschen“ populär. 1843 erschien es in einem Kommersbuch mit dem Titel „Deutsche Lieder“; 1844 wurde es in Ludwig Bechsteins „Deutschem Dichterbuch“ und im „Allgemeinen deutschen Lieder-Lexikon“ abgedruckt.

1848 gerieten viele europäische Länder in Aufruhr. Vorreiter der politischen Bewegung war Frankreich. Vom 31. März bis zum 3. April 1848 tagten in der Frankfurter Paulskirche 574 Abgeordnete aus ganz Deutschland. Ihr Wortführer, Heinrich von Gagern, formulierte ihr Programm: „Freiheit, Volkssouveränität, Monarchie“. Auf Vorschlag von Gagerns wurde am 28. Juni der österreichische Erzherzog Johann, der jüngste Bruder Kaiser Franz I., zum „Reichsverweser“ gewählt. Doch es zeigte sich schnell, dass Österreich und Preußen nicht gewillt waren, sich einer Zentralgewalt unterzuordnen. Die politischen Lager spalteten sich in „Großdeutsche“ und „Kleindeutsche“. In einer Abstimmung vom März 1849 wurde die „kleindeutsche“ Lösung bevorzugt. „Die Chance, alle Deutschen in einem Staat zu vereinen, war am Verhalten Österreichs gescheitert“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 43). Die deutschen Einigungsbemühungen, denen auch Hoffmanns Lied Ausdruck verlieh, scheiterten.

Erst im Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich proklamiert. Dass es über den Krieg mit Frankreich zur deutschen Einigung kam, erlebte Hoffmann noch, allerdings hätte er sich den Anschluss Österreichs gewünscht.

Nach unstetem Wanderleben verbrachte Hoffmann seit 1860 seine letzten Lebensjahre als Bibliothekar des Herzogs von Ratibor in Corvey – das Schloss Corvey liegt an der Weser. Dort starb er am 19. Januar 1874.

Aufführungen des „Liedes der Deutschen“

Erstmals wurde das „Deutschlandlied“ im Oktober 1841 von der von Albert Methfessel gegründeten „Hamburger Liedertafel von 1823“ in Anwesenheit des Textdichters gesungen. Außer den Burschenschaften sangen es nur wenige politisch Interessierte. Die zahlreichen deutschen Kleinstaaten hatten jeweils eigene Hymnen. Noch bei der Proklamation des Deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 wurde „Heil Dir im Siegerkranz“ (auf die Melodie der englischen Nationalhymne) gesungen. „Heil Dir im Siegerkranz“ blieb bis zum Ende des Wilhelminischen Reiches 1918 inoffiziell nationales Repräsentationslied bei patriotischen Feiern; es gab aber – trotz vieler Bemühungen – keine Reichshymne, statt dessen zahlreiche regional begrenzte Volks- und Landeshymnen. Langlebig ist die „Bayernhymne“ „Gott mit dir, du Land der Bayern“, die bis in die Gegenwart bekannt ist und bei offiziellen Anlässen oft gespielt wird.

Schon vor 1900 erklang das „Lied der Deutschen“ öfter bei feierlichen Anlässen. Im August 1890, bei der Feier der Übergabe der bislang zu Großbritannien gehörenden Insel Helgoland an Deutschland (sie war gegen Sansibar eingetauscht worden), wurde es zum ersten Mal bei einem offiziellen Staatsakt gesungen (Knopp / Kuhn 1988, S. 55). 1901 erklang es erstmals in Anwesenheit des deutschen Kaisers. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte das „Lied der Deutschen“ mit der Melodie von Haydn zum festen Bestand der deutschen Schulbücher. „Wegen der Bedenken von Pädagogen, die jugendlichen Sänger die deutsche Frau und den deutschen Wein hochleben zu lassen, wurden gelegentlich Hoffmanns Verse verändert. Statt ‚Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang‘ hieß es dann: ‚Deutsche Sitte, deutsche Treue, deutscher Mut und deutscher Sang‘“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 55 f.).

Das „Lied der Deutschen“ im Ersten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs wurde die erste Strophe des Liedes populär. „‚Wenn es stets zu Schutz und Trutze, brüderlich zusammenhält‘ – das entsprach dem deutschen Grundgefühl in jenen Tagen, ‚gegen eine Welt von Feinden‘ ganz allein auf sich gestellt zu sein“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 59). Bei Siegesmeldungen und in Augenblicken patriotischer Begeisterung wurde das „Lied der Deutschen“ oft angestimmt. Im Krieg fungierte es als Soldatenlied und diente u. a. als Erkennungssignal: „Die Soldaten, die auf den Feldern Flanderns im Herbstnebel umherirrten, signalisierten damit: ‚Hier sind Deutsche, nicht schießen‘“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 60).

In der Schlacht von Langemarck in Belgien (1914) erlangte das Lied Berühmtheit – zumindest glorifizierende, heroisierende Darstellungen behaupten dies: Hier sollen deutsche nationalistische Studenten, die sich als Kriegsfreiwillige gemeldet hatten, am 11. November 1914 zu Tausenden mit dem Vers „Deutschland, Deutschland über alles“ auf den Lippen im gegnerischen Maschinengewehrfeuer gestorben sein.

Es entstanden während des Ersten Weltkriegs auch zahlreiche Umdichtungen – darunter „wehrkraftzersetzende“ wie die folgende, die im Mainzer Karneval 1916 entstand:

Deutschland, Deutschland schwer im Dalles*

Schwer im Dalles in der Welt,

wenn die Marmelad nit alles

brüderlich zusammenhält.

Eier, Butter, Wurscht und Schinke

Sin nur für die Reiche da

Nur mir arme, arme Schlucker

Gucke zu und kreische: Hurra

(Knopp / Kuhn 1988, S. 68)

* Dalles (jiddisch) = Armut, Not

Seit dem Ersten Weltkrieg betrachteten die Entente-Mächte den Text Hoffmanns als Ausdruck imperialer Machtgier und Selbstüberheblichkeit der Deutschen. In den nach 1918 besetzten Gebieten war das Lied verboten.

Es gab Anzeichen dafür, dass das „Lied der Deutschen“ die eigentliche Hymne des Reiches geworden war – „so sehr bereits, daß selbst Kaiser Wilhelm II. bei Truppenbesuchen mitunter nicht, wie es der Majestät gebührte, mit ‚Heil Dir im Siegerkranz‘ empfangen wurde, sondern mit dem Deutschlandlied“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 70).

Nach 1918

Nach 1918 verstummte die monarchische Hymne, und neben der linken „Internationale“ u. a. Kampfliedern der deutschen Arbeiterbewegung setzte sich Hoffmann von Fallerslebens Deutschlandlied durch, vor allem bei den politisch Rechten. Ragozat berichtet: „Als die neugewählten Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung 1919 über die Friedensbedingungen der Alliierten debattierten, unterbrach der Vorsitzende der Zentrumsfraktion die Sitzung und stimmte ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ an. Der sozialdemokratische Abgeordnete Hugo Haase rief daraufhin: ‚Kriegstreibereien.‘“ (Ragozat 1982, S. 61). Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs gehörten die Sozialdemokraten zu den strikten Gegnern des Liedes.

Auch jetzt entstanden wieder viele Umdichtungen. Bekannt wurde die folgende des Münchener Schriftstellers Albert Matthäi, der im Sommer 1919 schrieb:

Deutschland, Deutschland über alles

Und im Unglück nun erst recht.

Nur im Unglück kann die Liebe

Zeigen, ob sie stark und echt.

Und so soll es weiterklingen

Von Geschlechte zu Geschlecht:

Deutschland, Deutschland über alles

Und im Unglück nun erst recht.

(Knopp / Kuhn 1988, S. 74)

Diese Zeilen wurden als sog. „Trutzstrophe“ sehr populär. „Sie entsprachen der allgemeinen Überzeugung, daß den Deutschen in und nach Versailles ein historisches Unrecht widerfahren sei“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 74).

In den Nachkriegsjahren gab es viele Kontroversen um nationale Symbole, z. B. die Flagge. Die nationale Rechte wollte eine Fortsetzung des Schwarz-Weiß-Rot, die Kommunisten die rote Fahne; Zentrum, SPD und linke Liberale wollten Schwarz-Weiß-Rot durch Schwarz-Rot-Gold ersetzen. Die Parteien der Mitte, der „Weimarer Koalition“, konnten sich durchsetzen: Schwarz-Rot-Gold wurde Reichsflagge, doch blieb Schwarz-Weiß-Rot für die Handelsflagge bestehen. (Im „Dritten Reich“ war die Flagge wieder schwarz-weiß-rot, sie wurde gemeinsam mit der Hakenkreuzfahne gehisst.) Als es um die neue Hymne ging, ließen sich die SPD-Fraktion im Reichstag und der Reichspräsident Friedrich Ebert schließlich davon überzeugen, dass das „Lied der Deutschen“ geeignet sei – trotz seiner „Belastung“ durch „rechte Interpretatoren“.

Offiziell wurde das Lied am 11. August 1922, am Verfassungstag der Weimarer Republik, anerkannt, als Reichspräsident Friedrich Ebert, ein Sozialdemokrat, in seiner Ansprache die dritte Strophe mit „Einigkeit und Recht und Freiheit“ als Leitgedanken hervorhob: „Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; es soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten... Sein Lied ... soll nicht Mißbrauch finden im Parteikampf...; es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung“ (Ragozat 1982, S. 61).

„Eberts Absicht war es, mit der Hoffmann-Haydn-Hymne dazu beizutragen, die Gegensätze zwischen rechts und links wenn nicht auszugleichen, so doch allmählich zu versöhnen“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 78). Doch bei den Linken blieb das Lied diskreditiert, weil die Rechte es für sich beanspruchte. Gegen Ende der zwanziger Jahre stand es in allen Liederbüchern der Rechtsparteien und der NSDAP. Die linken Sozialdemokraten hingegen akzeptierten es nicht; im sozialistischen „Jugendliederbuch“ fehlte es. Kurt Tucholsky mokierte sich über „Deutschland über alles“: „jenen törichten Vers eines großmauligen Gedichts“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 81). Es handele sich um ein ‚wirklich schlechtes Gedicht‘, „das eine von allen guten Geistern verlassene Republik zu ihrer Nationalhymne erkor“ (Günther 1966, S. 126).

Das „Dritte Reich“

Am 19. Mai 1933 erklärte Adolf Hitler im „Reichsgesetz zum Schutz nationaler Symbole“ das nationalsozialistische „Horst-Wessel-Lied“ („Die Fahne hoch“, von Horst Wessel 1927 als Sturmlied der SA verfasst) zum offiziellen Zusatz des Deutschlandliedes. Seit 1940, nach dem Frankreichfeldzug, mussten beide Lieder gemeinsam aufgeführt werden. Vom Deutschlandlied „durfte fortan nur die erste Strophe gesungen werden. Die dritte Strophe, das lag auf der Hand, passte rein politisch nicht mehr ins Konzept“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 88). Die Doppelhymne Deutschlandlied / Horst-Wessel-Lied wurde – wie auch viele andere nationalsozialistische oder nationalsozialistisch belastete Lieder – am 14. Juli 1945 durch den alliierten Kontrollrat verboten.

Es kursierten auch während des „Dritten Reiches“ – sowohl affirmative als auch kritische – Parodien des Deutschlandliedes. „Mit dem Anschluß Österreichs und der Besetzung, Dänemarks und der Niederlande hatte auch das Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt erneut seinen Status geändert. Aus der Utopie war ... Realität geworden, die Sehnsucht schien erfüllt“ (Kurzke 1990, S. 48 f.). Deshalb sangen deutsche Soldaten:

Von der Maas bis an die Memel,

Von der Etsch bis an den Belt

Stehen deutscher Männer Söhne

Gegen eine ganze Welt

(aus: Soldatenliederbuch, hg. vom Generalkommando des VII Armeekorps, 2. Aufl. München 1940; zit. nach Kurzke 1990, S. 49)

 

1942 kursierte im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ die folgende Version:

Deutschland, Deutschland nimmt sich alles

nimmt sich alles in der Welt

Ohne Maß bis an den Kreml

Bis es dann zusammenfällt

(zit. nach Knopp / Kuhn 1988, S. 91).

Nach 1945

Nach der Niederlage Deutschlands verboten die Alliierten das Spielen und Singen des Horst-Wessel- und des Deutschlandliedes.

Als problematisch galten und gelten nicht nur die ersten zwei Zeilen der ersten Strophe, sondern vor allem auch die Grenzziehung: Maas, Etsch und Belt markierten 1841 die Grenzen eines Staatenpaktes namens „Deutscher Bund“, wobei die Memel schon außerhalb dieser Grenzen lag, aber zu Preußen gehörte. Dieser historische Bezug wird aber überlagert durch die Erinnerung an Hitlers aggressive Expansionspolitik. „Dies wäre wohl vermieden worden, wenn die verpönte erste Strophe nur die Nachkriegsgrenzen beider deutscher Staaten nennen würde. Warum nicht ‚von der Maas bis an die Oder, von den Alpen bis zum Belt‘?“ (Knopp Kuhn 1988, S. 14). Leider fanden solche pragmatischen Überlegungen nach 1945 nicht statt, allzusehr wollte man den „authentischen“ Text bewahren. „Andere Nationen hatten da weniger Skrupel. Die französische Hymne wurde mehrfach umgedichtet – ebenso wie die sowjetische, die argentinische, die bulgarische, die belgische, die chilenische oder die chinesische“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 14).

Schon von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 20. September 1949 gab es viele Diskussionen und Dispute um das „Deutschlandlied“ als Staatssymbol des neuen demokratischen Staates. Im Artikel 22 des Grundgesetzes vom 25. Mai 1949 ist nur die Bundesflagge Schwarz-Rot-Gold festgelegt; die Frage der Nationalhymne wurde ausgespart. Im September 1949 stellte eine Gruppe von Abgeordneten des Deutschen Bundestages den Antrag, die Bundesregierung möge ein Gesetz über die Anerkennung des Deutschlandliedes „in seiner ursprünglichen unveränderten Form als Bundeshymne für die Bundesrepublik Deutschland“ vorlegen. „Der Text von Heinrich Hoffmann von Fallersleben ist nicht überheblich und will nicht ein anderes Volk oder einen anderen Staat als zweitrangig degradieren, sondern entspringt einem natürlichen selbstverständlichen Volksbewusstsein“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 95). Dieser Antrag Nr. 112 wurde an den „Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht“ überwiesen; ein Entschluss blieb aus (Ragozat 1982, S. 62). „Für die meisten Parlamentarier war das ‚Deutschland über alles‘ – trotz aller gutgemeinten Deutungen – zu mißverständlich, um die junge Republik mit einer solchen ‚Bundeshymne‘ zu belasten“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 96). Auch der Rechtsausschuss wollte keinen Beschluss fassen, weil dies Angelegenheit des Bundespräsidenten sei.

Im Archiv des Bundespräsidialamtes finden sich viele Aktenordner mit Bürgerbriefen, in denen zahlreiche Neufassungen des Textes vorgeschlagen werden.

Es gab starke Einwände gegen das „Lied der Deutschen“, weil es schlimme Erinnerungen an die NS-Zeit hervorrief. Ein ehemaliger Häftling, der Publizist Axel Eggebrecht, erinnerte sich: „Im KZ mußten wir die heiligen Worte Recht und Freiheit nach Kommando herausbrüllen. Wächter mit Knüppeln umstanden uns, brüderliche Gesangslehrer. Und da sollen wir nun wieder singen, als sei nichts gewesen?“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 108).

Dass eine Nationalhymne nach 1945 fehlte, machte sich vor allem bei internationalen Sportveranstaltungen bemerkbar. Offiziell vorgesehen war für solche Gelegenheiten Schiller / Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“. Es kam aber auch vor, dass der Kölner Karnevalsschlager von 1948 „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ gespielt wurde oder aber „In München steht ein Hofbräuhaus“ und bei Auftritten Adenauers „Heidewitzka, Herr Kapitän“.

In der BRD setzte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer für das „Lied der Deutschen“ als Nationalhymne ein, ebenso der Vorsitzende der SPD Kurt Schumacher – im Gegensatz zu den meisten SPD-Mitgliedern. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) jedoch hatte Bedenken. Er ließ im August 1950 mitteilen, „daß Professor Heuss entschieden hat, daß bis zum Vorliegen einer neuen deutschen Nationalhymne das schöne Lied ‚Ich hab mich ergeben‘ zu singen ist“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 104).

Heuss wünschte sich eine neue Nationalhymne. In einem Schreiben vom September 1950 an Carl Orff (den Heuss als Komponist einer neuen Hymne auserkoren hatte, der lehnte aber ab) äußerte er u. a. die folgenden Bedenken gegenüber dem Text von Hoffmanns Lied:

„... die erste Strophe paßt nicht mehr in die geschichtliche Landschaft, die zweite ist zu trivial und immer trivial gewesen, die dritte allein für sich wenig. Die mannigfaltigen Versuche, auf die Haydnsche Melodie einen neuen Text zu stülpen, halte ich für aussichtslos. Ich glaube, die Deutschen genug zu kennen, um zu wissen, daß dann die ‚loyalen‘ Patrioten den sogenannten amtlichen Text, die ‚militanten‘ Patrioten ... den Hoffmannschen Text singen, und wir kommen aus dem ewigen Sängerwettstreit der stärkeren Stimmen nicht heraus“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 105).

Die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Annemarie Renger, erinnerte sich in einem Fernsehinterview von 1980 an ein Treffen zwischen Heuss und Schumacher am zweiten Weihnachtsfeiertag 1949. Damals schlug Heuss ein Lied als neue Nationalhymne vor, dessen Text von Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) gedichtet und dessen Melodie von Hermann Reutter (1900–1985) komponiert worden war. Heuss überzeugte Schumacher nicht – wohl auch, weil das Lied so schlecht gesungen wurde (Renger: „der betreffende Herr konnte nicht besonders gut singen“; siehe Ragozat 1982, S. 62, Knopp / Kuhn 1988, S. 107). Schröders „Hymne an Deutschland“ lautete:

Land des Glaubens, deutsches Land,

Land der Väter und Land der Erben,

Uns im Leben und im Sterben

Haus und Herberg, Trost und Pfand.

Sei den Toten zum Gedächtnis,

den Lebendgen zum Vermächtnis,

Freudig von der Welt bekannt,

Land des Glaubens, deutsches Land

(Knopp / Kuhn 1988, S. 104).

Bundeskanzler Adenauer rief heftige Reaktionen im In- und Ausland hervor, als er am 18. April 1950 anlässlich eines Besuchs in Berlin bei einer Kundgebung im Titania-Palast die dritte Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ anstimmte. Vermutlich wollte er eine Entscheidung in der Hymnenfrage erzwingen (Ragozat 1982, S. 62). Adenauer forderte die Versammlung zum Mitsingen auf. Der Parteivorstand der SPD verließ den Raum, während die drei Westberliner Kommandanten sich von ihren Sitzen erhoben. Im Ausland gab es Kritik an Adenauers Vorgehen.

Heuss gab nicht nach. Er wollte das o. g. Lied von Rudolf Alexander Schröder und Hermann Reutter „Land des Glaubens“ (der Dichter hatte dem Bundespräsidenten diese Verse gewidmet) als Bundeshymne durchsetzen. Es erklang zum Jahreswechsel 1950/51 nach der Rundfunkansprache des Staatsoberhauptes über alle westdeutschen Sender. Doch die Öffentlichkeit blieb reserviert. Der Dichter Gottfried Benn schrieb: „Und nun die neue Nationalhymne. Der Text ganz ansprechend, vielleicht etwas marklos. Der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichsflagge“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 107). Die „Frankfurter Rundschau“ sah sich erinnert an Gesänge der Hitlerjugend zu Morgenfeiern und Sonnwendfeiern, anscheinend auch, weil Rudolf Alexander Schröder eine NS-Vergangenheit hatte (Knopp / Kuhn 1988, S. 107 f.).

In seinem Brief an Adenauer vom 2. Mai 1952 gab Heuss schließlich nach: „Als mich die Frage nach einer Nationalhymne bewegte..., glaubte ich, daß der tiefe Einschnitt in unserer Volks- und Staatsgeschichte einer neuen Symbolgebung bedürftig sei... Ich weiß heute, daß ich mich täuschte... Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis unterschätzt...“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 110). Der Bundespräsident erklärte sich bereit, unter Verzicht auf eine feierliche Proklamation der Bitte der Bundesregierung um Wiedereinführung des ‚Deutschlandliedes‘ als Staatssymbol der Bundesrepublik Deutschland zu entsprechen (Ragozat 1982, S. 63; Knopp /Kuhn 1988, S. 110). Als Stunde der Wiedergeburt gilt der 6. Mai 1952. An diesem Tag veröffentlichte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung eine Erklärung (Wortlaut siehe Ragozat 1982, S. 63). Es wurde darin betont, dass bei staatlichen Veranstaltungen die dritte Strophe gesungen werden solle, obgleich alle Strophen des Liedes als Nationalhymne anerkannt seien.

Diese Regelung führte immer wieder zu Irritationen; immer wieder war es die erste Strophe, die Anstoß erregte.

In den langjährigen Diskussionen wies die parlamentarische Opposition auf die unangenehmen Erinnerungen hin, die das Deutschlandlied durch seine Verwendung im „Dritten Reich“ bei vielen hervorrief, doch ging die SPD nach und nach dazu über, die Hymne zu tolerieren. Im Ausland waren die Reaktionen geteilt. Vor allem die Urteile im Ostblock waren vernichtend. „Die drei Hohen Kommissare in Bonn erklärten übereinstimmend, es sei ‚deutsche Angelegenheit, die Nationalhymne zu bestimmen‘. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy meinte: ‚Es ist nicht entscheidend, was die Völker singen, sondern wie sie handeln‘“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 113 f.).

Bei den Olympiaden in Rom 1960 und Tokio 1964 mussten Kompromisse gefunden werden. Es gab damals noch keine getrennten Olympiamannschaften der BRD und der DDR, sondern eine gesamtdeutsche Mannschaft. Die deutschen Sportler wurden damals mit Beethovens Hymne „An die Freude“ geehrt. Erst seit 1968 traten auf Beschluss des Olympischen Komitees die Sportler aus der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit eigener Flagge und Hymne an.

Ein erneuter Briefwechsel zwischen Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl vom August 1991 legte für das wiedervereinte Deutschland fest, dass seit dem 3. Oktober 1990 die Nationalhymne der bisherigen Bundesrepublik – reduziert auf ihre dritte Strophe – „für das vereinte deutsche Volk gilt“ (Glaner, MGG, Sp. 18). Die erste Strophe ist nicht verboten, jedoch bei staatlichen Anlässen verpönt. „Weder gibt es ein Gesetz noch einen staatlichen Erlaß, sondern nur den Adenauer-Heussschen Briefwechsel. Juristisch sind durch diese Übereinkunft allenfalls staatliche Behörden gebunden. Bei ‚nichtstaatlichen Anlässen‘, so wird im Kommentar zum Grundgesetz von Düring, Herzog, Maunz betont, können ‚alle drei Strophen‘ gesungen werden, und zwar ‚als Nationallied‘“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 13).

Auch nachdem das Deutschlandlied seit 1952 offizielle Hymne war, gab es zahlreiche Auseinandersetzungen darum. Das zeigt z. B. seine Behandlung in den Funkhäusern der einzelnen ARD-Anstalten. Anfang 1974 erklang die dritte Strophe nur noch am Sendeschluss im Bayerischen und Hessischen Rundfunk und im Sender Freies Berlin. Der Westdeutsche Rundfunk hatte zu dieser Zeit die Ausstrahlung der Hymne eingestellt, nahm sie bald aber wieder im dritten Programm auf (Knopp / Kuhn 1988, S. 124). 1977 regte Bundespräsident Walter Scheel an, im Fernsehen an vier herausgehobenen Tagen des Jahres das Deutschlandlied zu spielen: am 23. Mai, dem Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes (Verfassungstag); am 17. Juni, dem Tag der deutschen Einheit; am 20. Juli, dem Gedenktag für die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime; am Volkstrauertag (Knopp / Kuhn 1988, S. 125). Am 8. März 1985 votierte der Fernsehrat des ZDF einstimmig für die tägliche Ausstrahlung der Nationalhymne zum Programmschluss; kurz darauf folgte die ARD (Knopp / Kuhn 1988, S. 136, 138).

Auch die Behandlung des Deutschlandliedes in der Schule ist kontrovers. Im Frühjahr 1978 gab es in Baden-Württemberg einen Parteienstreit. Der damalige Ministerpräsident Filbinger wollte an alle Schulen des Landes eine mit allen drei Strophen besungene Schallplatte, dargeboten von dem Sänger Heino, schicken, Kultusminister Hahn protestierte daraufhin. Auch in Berlin gab es Ärger, als der Charlottenburger Volksbildungsstadtrat Roeseler die drei Strophen des Deutschlandliedes an die Lehrer mit der Anweisung schickte, den Text allen Kindern des Bezirks in den vierten Klassen bekannt zu machen. Es gab Proteste von SPD- und FDP-Stadträten, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft reichte Klage ein (Knopp / Kuhn 1988, S. 126 f.). Stein des Anstoßes war die belastete erste Strophe.

Um etwas über das Verhältnis der Bundesbürger zu ihrer Hymne zu erfahren, führte das EMNID-Institut eine Meinungsumfrage durch. Aus den Ergebnissen, die im April 1986 vorlagen, ging u. a. hervor, dass nur 26% der Befragten den Text der dritten Strophe auswendig kannten; 47% wussten ihn nicht, 27% nur fehlerhaft. Eine aktuellere, allerdings nur klein dimensionierte Umfrage ergab ebenfalls, dass gegenüber dem „Lied der Deutschen“ Ignoranz vorherrscht – obgleich die Fußballweltmeisterschaft 2006 und die Handballweltmeisterschaft 2007 in Deutschland nationalen Symbolen wie der schwarz-rot-goldenen Flagge und der Nationalhymne großen Auftrieb gegeben haben (Otto 2007, S. 5).

Doch nicht erst seit den Kriegen des 20. Jahrhunderts und der Nazi-Zeit galt das „Lied der Deutschen“ einigen als suspekt. Schon Nietzsche hatte geäußert: „...die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist“ (Ragozat 1982, S. 61; Knopp / Kuhn 1988, S. 11). Der Text rief – unterschiedlichen politischen Standorten entsprechend – die vielfältigsten Reaktionen und Assoziationen hervor: Ganz im Gegensatz zu dem verbreiteten Vorwurf der Aggressivität nannte ihn der Historiker Golo Mann „zarteste Lyrik“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 7) und er betont, dass andere Hymnen vergleichsweise viel aggressiver seien. „Die vielgerühmte Marseillaise, ein strammes Marschlied, strotzt geradezu vor Militarismus. Da wird ‚zu den Waffen‘ gerufen, da spritzt Blut ‚Qu’un sang impur abreuve nos silons‘ (‚Das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen‘), da wird den Feinden Frankreichs Rache angedroht. Und in der US-Hymne lässt Autor Francis Scott Key das Sternenbanner wehen – ‚hoch und tapfer‘, ‚unter den Blitzen der Schlacht‘...“ (Knopp / Kuhn 1988, S. 15).

Das Deutschlandlied, so resümiert Kurzke, „ist ein Paradebeispiel dafür, daß es keinen Text an sich gibt, sondern nur einen Text, der von ganz bestimmten Lesern (Sängern) mit einem ganz bestimmten Erwartungshorizont verwendet wird ... Jede Epoche der deutschen Geschichte sang mit denselben Worten ein anderes Lied“ (Kurzke 1990, S. 50).

 

Die „Internationale“

 

Literatur (Auswahl)

Dithmar, Reinhard (1993): Arbeiterlieder 1844 bis 1945. Neuwied, Kriftel, Berlin

Kurzke, Hermann (1990): Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz

Lammel, Inge (1975): Das Arbeiterlied. Leipzig

Lammel, Inge (1984): Arbeitermusikkultur in Deutschland 1844–1945. Leipzig

Moßmann, Walter / Schleuning, Peter (1978): Alte und neue politische Lieder. Reinbek

Tonträger (Auswahl)

CD „Dem Morgenrot entgegen“. Edition BARBArossa 1995

100 Jahre Deutsches Arbeiterlied. Eine Dokumentation. 2 LPs + Textheft. Eterna 810015-016

 

Die „Internationale“ entstand zur Zeit der Pariser Kommune im Juni 1871 bzw. unmittelbar nach deren Sturz. Die Pariser Kommune, eine revolutionäre, antimonarchistische Bewegung, war am 18. März 1871 proklamiert worden. Sie unterlag im Mai 1871, ca. 25 000 „communards“ wurden getötet.

Textverfasser der „Internationale“ war Eugène Pottier (1816–1887). Pottier war Packer, Dekorationsmaler und Stoffmusterzeichner, Chansonnier, Verfasser von Revuen, Schlagern und Singspielen für Vorstadttheater. Er engagierte sich in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Nach der Niederschlagung der Kommune flüchtete er ins Ausland (nach London und Boston), kehrte aber nach der Amnestie 1880 nach Paris zurück und arbeitete dort weiterhin politisch. Pottier gilt als der produktivste Liedermacher der Kommune. Viele seiner Lieder wurden bzw. werden in der französischen Arbeiterbewegung gesungen. 1908 wurde auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise unter großer Anteilnahme der Bevölkerung sein Denkmal enthüllt. 1887, kurz vor Pottiers Tod, erschien unter dem Titel „Chants Révolutionnaires“ eine Auswahl seiner Gedichte aus den Jahren 1848 bis 1887, unter ihnen auch die „Internationale“.

Die französischsprachige Urfassung (Kurzke 1990, S. 109 f.) hatte sechs Strophen; eine deutsche (wörtliche, nicht poetische) Übersetzung findet sich bei Moßmann / Schleuning 1978, S. 178 ff. und Kurzke 1990, S. 120 f. Der Text des Liedes ist hochexplosiv, er benennt die Feinde und politischen Ziele unmissverständlich.

Der Titel des Liedes ist eine Kurzform der Bezeichnung einer Organisation der Arbeiterbewegung: der 1864 in London gegründeten „Internationalen Arbeiterassoziation“, deren Gründungsmanifest und Statuten Karl Marx verfasst hatte. Mitglieder der „Internationalen Arbeiterassoziation“ waren vor allem englische und französische Arbeiter, aber auch Vertreter aus Deutschland, Italien, Polen und der Schweiz. Pottier gehörte zu den französischen Sektionen. In ganz Frankreich hatte die Internationale 245 000 Mitglieder (Moßmann / Schleuning 1978, S. 180).

Die Melodie der „Internationale“ ist mit der der „Marseillaise“ verwandt. Ihr Komponist ist Pierre Degeyter (1848–1932), von Beruf Drechsler und tätig als Chormeister eines Arbeitergesangvereins in Lille. Die Vertonung soll im Juni 1888 erstmals öffentlich erklungen sein (Lammel 1975, S. 229).

Moßmann / Schleuning charakterisieren die Melodie folgendermaßen: Sie „trägt wirklich alle Anzeichen des Außerordentlichen. Sie ist lang und differenziert, aus einem Guß, ohne schwache Stellen und verlegene Wendungen! Es ist, als ob hinter dieser Melodie ein erfahrener, feuriger Komponist stände, ein Verdi in seinen besten Jahren!“ Sie sehen Einflüsse französischer und italienischer Freiheitslieder, wie sie auch in vielen Opern der damaligen Zeit vorkamen (Mossmann / Schleuning 1978, S. 198 f.).

Im Laufe der Zeit entstanden zahlreiche melodische Varianten, die z. Tl. die differenzierte Melodie vereinfachten (s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 208 f.). Zu den Vereinfachungen gehört u.a. eine chromatische Wendung im Refrain, die in vielen Liederbüchern eliminiert wurde. Inge Lammel deutet Varianten in einem positiven Sinn: „Die Wirkung dieses Kampfrufes in absteigender Chromatik wurde durch die Herabsetzung einer Note um nur einen halben Ton beträchtlich erhöht... Auch die Schlußtakte der ‚Internationalen‘ konnten durch die Vereinfachung der Melodieführung und die Verschärfung des Rhythmus in ihrer Aussage verstärkt werden“ (s. Lammel 1975, S. 30 f.). Moßmann / Schleuning hingegen kritisieren diese Glättung: „Das ist die Sprache der Produktionsberichte: Das Soll konnte durch Einführung einer neuartigen Rationalisierungsmethode übererfüllt werden! Zackzack! Immer schön unpersönlich zum Fortschritt! ... Könnte nicht auch an der alten Melodieführung etwas Gutes sein, etwas Besseres vielleicht sogar? Könnte nicht die heutige Fassung durch Faulheit entstanden sein oder durch die musik-machistische Meinung, Chromatik sei für das Proletariat zu weichlich, nicht geradlinig genug?“ (Moßmann / Schleuning 1978, S. 209).

Die „Internationale“ wurde zunächst in den Pariser Sektionen der „Internationalen Arbeiterassoziation“ gesungen. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde sie in ganz Frankreich bekannt und verdrängte bei den Sozialisten den Gesang der „Marseillaise“.

Die weltweite Karriere der „Internationale“ begann um die Jahrhundertwende. Mitte der neunziger Jahre wurde das Lied in Deutschland bekannt und erschien kurz nach 1900 erstmalig in deutschen Arbeiterliederbüchern – „um von den Polizeibehörden sofort konfisziert zu werden! Auch Gefängnisstrafen wurden für das öffentliche Singen der Internationale verhängt“ (Lammel 1975, S. 229).

In der Sowjetunion wurde die „Internationale“ nach der Oktoberrevolution Staatshymne. 1935 verschwand auf Druck Moskaus die fünfte Strophe aus der französischen Fassung (Einzelheiten dazu s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 182 u. 185). „Man fürchtete offenbar, die Aufforderung, auf die eigenen Generäle zu schießen, könnte auf eine unerwünschte Weise konkretisiert werden“ (Kurzke 1990, S. 112). 1943 erhielt die Sowjetunion eine neue Hymne, die kein Revolutionslied mehr war, sondern ein Preislied der Heimat und des Vaterlandes mit einer choralartigen Melodie (Verfasser der Melodie: Alexander Alexandrow). Als Parteihymne blieb die „Internationale“ bestehen. „Wenn eine Revolution ihr Ziel erreicht hat, werden die Formen, Gesten und Gesänge aus der Kampfzeit unbrauchbar, und herrschaftsstabilisierende Formen setzen sich allmählich an ihre Stelle“ (Kurzke 1990, S. 114; hier könnte man jedoch einwenden: Hatte die Revolution tatsächlich ihr Ziel erreicht? War es nicht eher notwendig, nicht erreichte Ziele zu verschweigen und aus der Erinnerung zu verbannen?)

 „Mit dem Vordringen der Internationale in andere Länder um 1900 ergab sich das Problem der Übersetzungen. Meist stellen die Übersetzungen Bearbeitungen dar, schon durch die häufige Reduzierung der Strophenzahl“ (Moßmann / Schleuning 1978, S. 183).

In Deutschland erschienen seit 1901 verschiedene Textdrucke und Übersetzungen, darunter zwei von Franz Diederich (1901 und 1908), eine von Rudolf Lavant (1902) und eine von Emil Luckhardt (1910). 1910 erschien der erste Notendruck, und zwar in einer Chorfassung (mit der Übersetzung Luckhardts) des für die Arbeiterchorbewegung wichtigen Komponisten und Dirigenten Adolf Uthmann. Übertragungen von Ernst Toller und Erich Mühsam entstanden 1920 im Gefängnis. Die Version von Sigmar Mehring erschien erstmalig in der von seinem Sohn Walter herausgegebenen Sammlung (Mehring 1924). „Auf, ihr Verdammte des Planeten“ schrieb Erich Weinert 1937, als er am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm.

Die verschiedenen Fassungen bestanden eine Zeitlang nebeneinander, doch setzte sich allmählich die Version von Emil Luckhardt durch, die erstmalig im „Arbeiter-Liederbuch für Massengesang“ (1910) veröffentlicht wurde. Dieses Liederbuch konnte zunächst unzensiert in mehreren Auflagen erscheinen und fand schnell Verbreitung, es wurde jedoch bereits im August 1910 verboten.

Wacht auf, Verdammte dieser Erde,

die stets man noch zum Hungern zwingt!

Das Recht wie Glut im Kraterherde

Nun mit Macht zum Durchbruch dringt.

Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!

Heer der Sklaven, wache auf!

Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger,

alles zu werden, strömt zuhauf!

Völker, hört die Signale!

Auf zum letzten Gefecht!

Die Internationale

Erkämpft das Menschenrecht!

Es rettet uns kein höh’res Wesen,

kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun.

Uns aus dem Elend zu erlösen,

können wir nur selber tun!

Leeres Wort: des Armen Rechte!

Leeres Wort: des Reichen Pflicht!

Unmündig nennt man uns und Knechte,

duldet die Schmach nun länger nicht!

Völker, hört...

In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute,

wir sind die stärkste der Partei’n.

Die Müßiggänger schiebt beiseite!

Diese Welt muß unser sein;

Unser Blut sei nicht mehr der Raben

Und der nächt’gen Geier Fraß!

Erst wenn wir sie vertrieben haben,

dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlaß!

Völker, hört...

Die Veröffentlichung dieser Nachdichtung von Luckhardts wurde bereits im August 1910 untersagt, der Verlag ersetzte sie durch Franz Diederichs Fassung („Nun reckt empor des Elends Stirnen“). Sowohl in Luckhardts als auch in Diederichs Nachdichtung fehlt Pottiers fünfte Strophe, in der er u. a. davon spricht, „daß unsere Kugeln für unsere eigenen Generäle bestimmt sind“.

Es wird öfter konstatiert, dass bei der Übersetzung der „Internationale“ ins Deutsche von Anfang an eine starke Tendenz zur Abschwächung bestanden habe. „Gegenüber dem Urtext kommt es einer Aufweichung der aggressiven Frontstellung im Sinne einer Verallgemeinerung, einer Romantisierung und einer Verbürgerlichung. Die radikalsten Partien fehlen“ (Kurzke 1990, S. 116). „Eine solche Romantisierungstendenz zeigt auch die gleichwohl sehr effektvolle Übersetzung des Refrains. Ein ‚letztes Gefecht‘ erinnert metaphorisch an vorindustrielle Treffen mit Degen und Säbel... Auch die im französischen Text fehlenden ‚Signale‘ (wohl Trompeten- oder Hornsignale) erinnern eher an Feldzüge der Feudalzeit als an moderne Arbeitskämpfe. Außerdem schwingt immer etwas Apokalyptisches mit bei der Vorstellung eines ‚letzten Gefechts‘, als werde danach endgültig die Heilszeit ausbrechen... Das ‚Menschenrecht‘ im deutschen Text ist eine Forderung der bürgerlichen, nicht speziell der proletarischen Revolution“ (Kurzke 1990, S. 116 f.).

Die Fassung von Luckhardt wurde in den Liederbüchern meist unverändert beibehalten. Die wichtigste und häufigste Variante ist die folgende – dritte – Strophe; der früheste Beleg dafür ist ein 1910 erschienenes Liederbuch (Kurzke 1990, S. 124):

Gewölbe, fest und stark bewehret,

Die bergen, was man dir entzog.

Dort liegt das Gut, das dir gehöret,

Und um das man dich betrog!

Ausgebeutet bist du stets worden,

Ausgesogen dein bestes Mark!

Auf Erden rings, in Süd' und Norden

Das Recht ist schwach, die Willkür stark.

Völker, hört...

(Kurzke 1990, S. 124)

Die Fassung von Luckhardt hat viele altertümliche sprachliche Wendungen. Es gab mehrere Versuche, die „Internationale“ neu zu übersetzen, sie zu aktualisieren und zugleich dem Original wieder anzunähern, so etwa von Erich Weinert (1890–1953). Als Weinert 1937 am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm, schrieb er eine sechsstrophige Neufassung (s. Mossmann / Schleuning 1978, S. 191 f.); hier der Refrain:

Zum letzten Kampf! Ihr alle,

Ihr Völker im Verein!

Die Internationale

Wird alle Menschheit sein!

Mossmann / Schleuning halten diese Übersetzung für „hervorragend“, allerdings erfordere sie eine neue Melodie, denn sie passe schlecht auf die alte.

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts erklang die „Internationale“ bei vielen Demonstrationen der Linken, im allgemeinen begleitet von einer Schalmeienkapelle. Mit dem Erstarken des Faschismus bzw. Nationalsozialismus gab es Versuche, durch Umtextierungen das ursprüngliche Lied zu verdrängen, aber ohne Erfolg: so etwa eine „Hitlernationale“ aus dem Jahr 1930 (gedruckt in „Deutschland erwache. Das kleine Nazi-Liederbuch“. 23. Auflage, Sulzbach [1931]):

Auf Hitlerleute, schließt die Reihen,

zum Rassenkampf sind wir bereit.

Mit unserem Blut wollen wir das Banner weihen,

Zum Zeichen einer neuen Zeit.

Auf rotem Grund in weißem Felde

Weht unser schwarzes Hakenkreuz.

Schon jubeln Siegessignale

Schon bricht der Morgen hell herein,

Der nationale Sozialismus

Wird Deutschlands Zukunft sein!

Wir sind die wahren Sozialisten,

Wir wollen keine Reaktion.

Wir hassen Juden und Marxisten,

Ein Hoch der deutschen Revolution.

Wir sind die wahren Arbeitsmänner,

Wir woll’n ein freies Vaterland.

Schon jubeln...

Drum Bürger auf die Barrikaden,

Wenn Hitler ruft, so folget gleich!

Die Reaktion hat uns verraten,

Aber dennoch kommt das dritte Deutsche Reich.

Aus Werkstatt und aus den Kontoren

Folgt unsre Freiheitskämpferschar.

Schon jubeln...

(Kurzke 1990, S. 124 f.)

Die Glanzzeit der „Internationale“ in Deutschland waren die Jahre nach der Oktoberrevolution bis 1933, als die Nationalsozialisten das Lied verboten. Wer es dennoch wagte, es zu singen, wurde mit Haft bestraft.

Eine wichtige Rolle spielte die „Internationale“ als Erkennungslied der internationalen Brigaden während des Spanischen Bürgerkriegs. 1938 erschien das von Ernst Busch herausgegebene Liederbuch des Spanischen Bürgerkriegs „Canciones de las Brigadas Internacionales“. Der Band enthielt Strophen der „Internationale“ in 14 verschiedenen Sprachen (s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 254 ff.). Die 3. Strophe der Urfassung („Der Staat unterdrückt...“) wurde weggelassen – Absicht oder Zufall?

In den Liederbüchern aus der DDR fehlte die „Internationale“ nie. Allerdings, so Mossmann / Schleuning, sei sie nicht mehr lebendig und „aktiv“ gewesen, sondern nur „aufgeführt“ worden. So entstand z. B. die Fassung auf der Schallplatte „100 Jahre deutsches Arbeiterlied“ mit großem Rundfunkchor und -orchester. „Pottiers und Degeyters Bombe liegt entschärft in der Vitrine, und der Museumswärter sagt: ‚Bitte sehr, da können Sie sie sich anschauen. Sie können ruhig nahe herangehen. Aber bitte nicht berühren!‘“ (Moßmann / Schleuning 1978, S. 265).

In der Bundesrepublik Deutschland wurde die „Internationale“ von der KPD und DKP tradiert. Eine Renaissance erlebte sie während der Studentenbewegung der 1960er Jahre. Die „Internationale“ findet sich aber auch etwa im Liederbuch des Bundes deutscher Pfadfinder (Frankfurt 1976, S. 22 f.) und in der „Kunterbund-edition“ (3. Aufl. 1972, 9. Aufl. Köln 1982); in letzterer findet sich ein Fehler: „Herr der Sklaven“ anstatt „Heer der Sklaven“.

Wurde in der DDR die „Internationale“ zelebriert, so war es in der Bundesrepublik nicht ganz ungefährlich, sie zu singen: Die Zeitschrift „Stern“ (17/1976) berichtete von einem Beamten, Bibliotheksdirektor im Bonner Verteidigungsministerium, der bei einer stupiden Arbeit vor sich hinpfiff: zuerst die „Marseillaise“, dann die „Internationale“. Drei Tage später erhielt er einen Brief seines Vorgesetzten, in dem er aufgefordert wurde, das Pfeifen der „Internationale“ zu unterlassen. Ihm wurde von einigen sogar mit „Rausschmiss“ gedroht (ausführliche Version s. Moßmann / Schleuning 1978, S. 285 f.).

Zu einer „erstaunlichen Wiederbelebung“ der „Internationale“ kam es 1989. Die Hunderttausende, die im Oktober 1989 in Leipzig demonstrierten, sangen die „Internationale“ – nicht für, sondern gegen den kommunistischen Staat. „Die singende Menge mißt den kommunistischen Staat an seiner eigenen Tradition und wendet sich gegen ihn. Der Bedränger ist nicht mehr der Kapitalist, sondern die Nomenklatura, und als Heer der Sklaven versteht sich das der Theorie nach längst befreite Volk. Wieder einmal ... zeigt sich, wie leicht sich die alten revolutionären Lieder gegen die zur Herrschaft gekommene Revolution wenden können“ (Kurzke 1990, S. 118).

Die „Internationale“ hat auch in verschiedene Kompositionen Eingang gefunden. So etwa bei Karl Amadeus Hartmann, der sich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung aus der Öffentlichkeit zurückzog und „für die Schublade“ komponierte. Obgleich er im Verborgenen blieb, griff er kompositorisch den Faschismus an, nicht offen, sondern in einer „verdeckten Schreibweise“: Unter einer scheinbar konformen Oberfläche konnte der (zwischen 1933–45 nur fiktive) kritische Hörer bestimmte Zitate und Anspielungen, die eine subversive Bedeutung hatten, wahrnehmen (s. Heister in: Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, hg. v. B. Sonntag, H.-W. Boresch, D. Gojowy, Köln 1999. S. 237 ff., 318 ff.).

Karlheinz Stockhausen hat die „Internationale“ in seiner Komposition „Hymnen“ (1967/68) verarbeitet. Die sehr umfangreiche, ca. 2 Stunden dauernde Komposition unternimmt den Versuch, ein größeres Werk elektronischer, vokaler und instrumentaler Musik mit den Nationalhymnen aller Länder zu komponieren. Sie ist unterteilt in vier Regionen, von denen jede um bestimmte Hymnen zentriert ist: die erste Region um die Internationale und die Marseillaise. Die zweite verarbeitet u. a. die Hymne der BRD, das „Horst-Wessel-Lied“ als Hymne deutscher Vergangenheit, afrikanische Hymnen, die russische Hymne etc. Die vierte Region hat ein doppeltes Zentrum: die Hymne der Schweiz und eine Hymne, die dem utopischen Reich der „Hymnunion“ in der „Harmondie“ unter „Pluramon“ zugehört. Die Komposition „Hymnen“ stellt eine Transformation unterschiedlichster Klänge dar: Außer den Nationalhymnen wurden u. a. Sprachfetzen, Ereignisse aus Kurzwellenempfängern, Aufnahmen von öffentlichen Veranstaltungen verwendet.

 

Die Marseillaise

 

Literatur (Auswahl)

Ragozat, Ulrich (1982): Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon. Freiburg i. Br.

„Marseillaise“. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (Stand: 04.05.2005)

„Rouget de Lisle“ (1963). In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG). Bd. 11. Kassel etc. Sp. 1000 f.

Sievritts, Manfred (1984): Lied – Song – Chanson. Band 2: „Politisch Lied, ein garstig Lied?“ Wiesbaden. S. 425 ff.

Zweig, Stefan: Das Genie einer Nacht. In: Sternstunden der Menschheit. 14 historische Miniaturen.

 

Text und Musik der „Marseillaise“ schrieb Claude-Joseph Rouget de Lisle (1760–1836). Er absolvierte eine militärische Laufbahn und war zugleich künstlerisch produktiv: spielte Violine, schrieb Verse, Theaterstücke und Libretti. Rouget de Lisle engagierte sich stark für die 1789 beginnende Französische Revolution.

1792 bis 1797 fand der 1. Koalitionskrieg statt, in dem sich Österreich und Preußen gegen Frankreich verbündeten. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1792 (Ragozat nennt die Nacht zwischen dem 24. und 25.) verfasste Rouget de Lisle nach der Kriegserklärung Frankreichs an Österreich im elsässischen Straßburg, wo er sich damals aufhielt, sechs Strophen und die Melodie eines Liedes für die rheinwärts ziehenden Truppen: eine Hymne auf die Ideale der Französischen Revolution. Im Haus des Straßburger Bürgermeisters Dietrich wurde das Lied erstmals aufgeführt. Es wurde zunächst „chant de guerre pour l’armée du Rhin“ („Kriegslied für die Rheinarmee“) genannt und war dem Oberbefehlshaber und Gouverneur von Straßburg, dem Marschall Luckner, gewidmet. Das Lied verbreitete sich mit großer Geschwindigkeit und gelangte über Montpellier nach Marseille, wo es sehr bald gedruckt erschien. Am 30. Juli 1792 wurde es von einem Bataillon republikanischer Soldaten aus Marseille beim Einzug in Paris gesungen und erhielt daher den Namen „Marseillaise“. Der republikanische Kriegsminister sorgte zusätzlich für die Verbreitung des schlagkräftigen und schnell populären Liedes in der Armee. Die „Marseillaise“ erklang seitdem bei allen großen Veranstaltungen der Revolution und wurde auf den Schlachtfeldern und bei Siegesfeiern oft gesungen – und auch bei vielen Hinrichtungen während der Revolution. Stefan Zweig erwähnt, dass der Straßburger Bürgermeister Dietrich, „der Pate der Marseillaise“, und General Luckner, dem sie gewidmet war, später ebenfalls guillotiniert wurden.

Nur sechs Strophen des Liedes stammen von Rouget de Lisle; eine siebte Strophe („Nous entrerons dans la carrière“), deren Autorschaft anscheinend nicht ganz erklärt ist, wurde später hinzugefügt.

In zahlreichen Publikationen wurde die Melodie modifiziert. Am 14. Juli 1795, dem dritten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, billigte der Nationalkonvent der „Marseillaise“ die Vorrechte eines Nationalgesangs zu. Im Empire, der napoleonischen Kaiserzeit, und während der Restauration wurde sie verboten. Zunächst verwendete Napoleon sie innerhalb der Armee. Als ein Relikt der Revolution wollte er sie jedoch als offizielles Staatslied nicht beibehalten, und Rouget de Lisle sollte in seinem Auftrag ein neues „kriegerisches Lied“ komponieren. Die Ersatzhymne „Chant des Combat“ fand jedoch keinen Anklang.

In der Julirevolution von 1830 erklang die „Marseillaise“ wieder. Dem 1830–1848 regierenden „Bürgerkönig“ Louis-Philippe war sie jedoch zu revolutionär. Der Komponist François Auber schrieb die Musik zu einer Gegenhymne, der „Parisienne“, die sich aber nicht durchsetzte. Louis-Philippe duldete weiterhin die „Marseillaise“ und ließ deren Verfasser sogar eine Pension zukommen (s. u.).

Rouget de Lisle wurde am 25. August 1792 seiner militärischen Funktionen enthoben und fristete eine bescheidene Existenz. Seine Karriere in der Armee erlebte viele Unterbrechungen: Er wurde mehrmals entlassen und anschließend rehabilitiert. Weil „der Dichter der Revolution“ – so Stefan Zweig – sich den Jakobinern, den Tyrannen und Despoten im Konvent, nicht unterordnen wollte, wurde er als „Konterrevolutionär“ gefangengesetzt.

Stefan Zweig nennt Rouget einen meist erfolglosen Künstler, einen Dilettanten, dessen Texte und Musik nicht gedruckt und gespielt worden seien. Er habe nur eine „Sternstunde“, einen „wirklich schöpferischen Tag“ in seinem Leben gehabt: als er die „Marseillaise“ verfasste. Zweig beschreibt die Entstehung der Hymne als Mysterium: „Eine Exaltation, eine Begeisterung, die nicht die seine ist, sondern magische Gewalt, zusammengeballt in eine einzige explosive Sekunde, reißt den armen Dilettanten hunderttausendfach über sein eigenes Maß hinaus und schleudert ihn wie eine Rakete – eine Sekunde lang Licht und strahlende Flamme – bis zu den Sternen. Eine Nacht ist es dem Kapitänleutnant Rouget de Lisle gegönnt, Bruder der Unsterblichen zu sein...“

Jahrelang lebte Rouget in ärmlichen Verhältnissen. Erst unter König Louis Philippe (1830–1848) wurde ihm eine jährliche Pension von 1500 Francs zuerkannt, und man verlieh ihm das Kreuz der Ehrenlegion. 1836 starb er in Choisy-le-Roi. Sein Begräbnis wurde wenig beachtet. Am französischen Nationalfeiertag (14. Juli) 1915 jedoch, wurden seine sterblichen Überreste unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in den Dôme des Invalides nach Paris überführt. Dabei sangen Mitglieder der Oper und des Konservatoriums die „Marseillaise“, und der Präsident Poincaré hielt die Festansprache.

In den revolutionären Ereignissen von 1848 gewann die „Marseillaise“ erneut an Bedeutung, Verboten wurde sie wieder unter Napoleon III., der von 1852 bis 1870 Frankreich als Kaiser regierte (Second Empire). Eine Wiedergeburt erlebte sie im September 1870, als die Republik ausgerufen wurde. Sie wurde dann auch das Lied der Pariser Kommune, des von Sozialisten und Kommunisten am 28. September 1871 gebildeten Gemeinderats. In den folgenden Jahren gab es viele leidenschaftliche Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern der „Marseillaise“. 1879 wurde sie zur französischen Nationalhymne erklärt.

Es gibt mehrere Orchesterfassungen, u. a. von Ambroise Thomas, Jules Massenet und Léo Delibes. Die Version von Ambroise Thomas wurde favorisiert, dann auch eine Orchesterbearbeitung von Hector Berlioz. Die verschiedenen Präsidenten Frankreichs hatten beim Singen bzw. Abspielen der „Marseillaise“ unterschiedliche Vorlieben. Giscard d’Estaing z. B. wünschte sich das Lied feierlich und würdevoll und wenig kämpferisch vorgetragen (Ragozat 1982, S. 93).

Schon im Entstehungsjahr der „Marseillaise“ wurde deren Melodie von den Deutschen für ein Schlachtenlied gegen Frankreich übernommen. 1798 wurde sie mit einem Text versehen, der König Friedrich Wilhelm III. huldigte. Es gab außerdem eine Textfassung des demokratisch gesinnten Dichters Johann Heinrich Voß (1751–1826).

Im 19. Jahrhundert wurde die „Marseillaise“ die Hymne vieler Freiheitsbewegungen. 1849 schrieb Ferdinand Freiligrath „Frischauf zur Weise von Marseille“. Auch die Arbeiterbewegung annektierte das Lied. Die deutschen Sozialdemokraten sangen die „Arbeiter-Marseillaise“; in Hamburg dichtete Jakob Audorf 1864 anlässlich der Beisetzungsfeierlichkeiten für den Arbeiterführer Ferdinand Lassalle den Text dazu („Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet“). Erst als die „Marseillaise“ zur Nationalhymne Frankreichs avancierte, wurde sie als Lied der internationalen Arbeiterbewegung von der „Internationale“ abgelöst.

Bereits 1792 war die „Marseillaise“ in Polen bekannt, dann auch in Griechenland, Ungarn und Serbien, in der Türkei und in Spanien. Aufgegriffen wurde sie immer in Zeiten des politischen Umbruchs. Die belgische Nationalhymne, die „Brabançonne“, ist durch die Marseillaise beeinflusst.

Es gibt weitere Fassungen der „Marseillaise“: u. a. einen Text für die Bewohner der ehemaligen Kolonien („La Marseillaise des Citoyens des Couleurs“); eine „Marseillaise“ aus der Mainzer Republik („Lied der freien Wollsteiner“); eine antideutsche Version von 1914; eine pazifistische Fassung („La Marseillaise pour le désarmément“). Die „Marseillaise“ war mit einem eigenen russischen Text während der Zeit der Provisorischen Regierung Kerenskis nach der Februarrevolution 1917 einige Monate lang auch russische Nationalhymne.

Die Hymne regte bildende Künstler an: 1830 schuf der Maler Eugène Delacroix eine Illustration dazu; der Maler Pils malte ein Bild mit dem Titel „Rouget de Lisle singt zum ersten Mal beim Straßburger Maire Dietrich die französische Nationalhymne“, das 1849 ausgestellt wurde und sehr populär wurde, obgleich es nicht der historischen Überlieferung entspricht.

Die „Marseillaise“ fand in viele Werke der Kunstmusik Eingang. Bei Robert Schumann taucht sie mehrfach auf: 1839 komponiert er in Wien den „Faschingsschwank“ op. 26. In den ersten Satz (Allegro) schmuggelt er etwa in der Mitte Bruchstücke der „Marseillaise“ im Dreivierteltakt ein – eine Provokation der kaiserlichen Zensurbehörde, denn das Lied war in Wien verboten. In der selten gespielten Ouvertüre zu „Hermann und Dorothea“ findet sich die „Marseillaise“ ebenfalls; ebenso in der 1840 komponierten Ballade „Die beiden Grenadiere“ auf einen Text von Heinrich Heine. Denselben Text vertonte Richard Wagner unter Verwendung des „Marseillaise“-Themas. Tschaikowsky verarbeitete die Hymne in seiner zur Einweihung der Moskauer Erlöserkirche im Jahr 1878 komponierten Sinfonischen Dichtung „Ouverture solennelle – 1812“ (op. 49), die das Kampfgeschehen zwischen Russen und Franzosen an der Beresina im Jahr 1812 thematisiert. Die französischen Truppen sind durch die „Marseillaise“ charakterisiert, die russischen durch eine Zarenhymne. Verwendung findet die „Marseillaise“ auch bei Franz Liszt in der Sinfonischen Dichtung „Héroïde funèbre“ und in seiner Klavierkomposition „La Marseillaise“.

 

Friedrich Silcher

Literatur (Auswahl)

Brusniak, Friedhelm (2006): Silcher, Philipp Friederich. In: MGG. Personenteil Bd. 15. Kassel u. a. Sp. 794–798

Brusniak, Friedhelm (1990): „Herr Silcher und das Volkslied“. Friedrich Silcher als Sammler, Schöpfer und Bearbeiter von Volksliedern. In: Symposium zu Friedrich Silchers 200. Geburtstag. Eine Dokumentation in Verbindung mit dem Silcher-Archiv. Trossingen. S. 27–50 (Bundesakademie für Musikalische Jugendbildung, Schriftenreihe, Bd. 7)

Dahmen, Hermann Josef (1989): Friedrich Silcher. Komponist und Demokrat. Eine Biographie. Stuttgart, Wien

Dahmen, Hermann Josef (1965): Silcher, Philipp Friederich. In: MGG, Bd. 12. Kassel u.a. Sp. 701 ff.

Silcher-Album. Fünfzig beliebte Volkslieder für Männerchor von Friedrich Silcher. Hg. von Heinrich Pfeil. Leipzig: Edition Peters, o. J.

 

Am 27. Juni 1789 wurde Friedrich Silcher in Schnait im Remstal (Württemberg) geboren.

Von 1803–1809 Lehrerausbildung in Geradstetten, Fellbach und Schorndorf

Durch Nikolaus Ferdinand Auberlen, Schulmeister in Fellbach, erhielt er eine gründliche Lehrerausbildung und viele musikalische Anregungen. Er kam damals mit den volkspädagogischen Gedanken Pestalozzis in Kontakt. Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) war ein Schweizer Pädagoge und Sozialreformer. Seine pädagogische Grundidee war Bildung für alle. Pestalozzi wurde zum Wegbereiter der Volksschule und Lehrerbildung.

Eine für Silcher als Musiker wichtige Begegnung war die mit Carl Maria von Weber in Ludwigsburg, der damals als Geheimschreiber und Hauslehrer des Prinzen von Württemberg im Ludwigsburger Schloss wirkte.

1809 Lehrer an einer Mädchenschule in Ludwigsburg. Weitere Kontakte mit Pestalozzi-Anhängern, die ihn in seinem Wunsch nach einer musikalischen Volkserziehung bestärkten.

1815 entschied sich Silcher dazu, den Lehrerberuf aufzugeben und als Privatmusiklehrer nach Stuttgart zu gehen, wo er auch Klavier- und Kompositionsunterricht nahm.

Seit 1817 Universitätsmusikdirektor in Tübingen, zugleich Musiklehrer am Evangelischen Stift sowie am Katholischen Wilhelmsstift in Tübingen.

1829 Gründung der Akademischen Liedertafel, eines Männerchors

1839 Gründung des Oratorienvereins, eines gemischten Chors

Am 26. August 1860 starb Silcher in Tübingen.

„Als liberaler Demokrat setzte er sich im Sinne Johann Gottfried Herders für die Volksliedpflege und nach dem Vorbild Pestalozzis und H. G. Nägelis, die er persönlich kennenlernte, für eine breit angelegte musikalische Bildung in Schule, Kirche und Haus sowie im öffentlichen Leben ein“ (Brusniak 2006, Sp. 794).

Mit der Akademischen Liedertafel, die er bis zum Wintersemester 1859/60 leitete, dem Oratorienverein und dem Stiftsorchester schuf Silcher die Voraussetzungen zur Pflege u. a. von Werken Haydns, Mozarts, Webers und Mendelssohns. Die Liedertafel entwickelte sich für das Musik- und Gesellschaftsleben Tübingens zu einem Mittelpunkt. Zu Silchers Freundes- und Bekanntenkreis zählten Ludwig Uhland, Justinus Kerner, Gustav Schwab, Heinrich Hoffmann von Fallersleben und die Komponistin Josephine Lang. In Anerkennung seines Einsatzes für das Laienchorwesen wurde Silcher schon zu Lebzeiten vielfach geehrt.

Silcher war einer der bedeutendsten Volksmusikerzieher im Sinne Heinrich Pestalozzis. Er arbeitete mit dem Schweizer Hans Georg Nägeli zusammen, der als erster die Ideen Pestalozzis auf die praktische Volksmusikerziehung anwandte. In Tübingen bereitete Silcher den Boden für eine vorbildhafte bürgerliche Musikkultur; darüber hinaus engagierte er sich landesweit für eine Verbesserung der Schul- und Kirchenmusik.

Silcher gilt als einer der bedeutendsten Volksliedsammler, -komponisten und -herausgeber des 19. Jahrhunderts. Im Volkslied sah er das geeignete Musiziergut für breite Schichten des Volkes. Er sammelte nicht nur deutsche, sondern auch ausländische Lieder. Wie einige seiner Zeitgenossen wollte er ältere Lieder vor dem Vergessen bewahren – u. a. mit dem pädagogischen Ziel, die unter dem Volk verbreiteten „schlechten Zotenlieder“ zu verdrängen.

Über seine Motivation, Volkslieder in sein Schaffen aufzunehmen, schrieb Silcher in einem Brief vom 18. August 1825 an den Stuttgarter Verleger J. B. Metzler: „Ich habe seit geraumer Zeit angefangen, die besten alten Volkslieder mit ihren Melodien, theils aus dem Wunderhorn, Herder u. anderen Sammlungen theils aus dem Munde des Volks selbst, u. zwar nicht ohne große Mühe, zu sammeln, um auch dieses Bedürfnis, das sich überall laut ausspricht, so zu befriedigen, wie es bis jetzt noch nicht geschehen ist, nämlich die Melodien dem Volke wieder veredelt, 4 stimmig u. zwar eben so einfach in ihren Mittelstimmen zu geben. Daß ich mich hinsichtlich der Wirkung derselben nicht getäuscht habe, beweist der Enthusiasmus, mit welchem diese Lieder, so oft ich sie bis jetzt habe singen lassen, von den Gebildetsten sowohl als von den unteren Volksklassen, aufgenommen worden sind“ (zitiert nach Dahmen 1989, S. 219).

Silcher entnahm die von ihm bearbeiteten Lieder zum Teil anderen Sammlungen: z. B. Herders „Stimmen der Völker in Liedern“ (1778/79) und Arnim / Brentanos „Des Knaben Wunderhorn“ (1806–08). Einige Lieder gingen auf mündliche Überlieferung zurück. Einige Melodien zu übernommenen Texten komponierte Silcher selbst – was ihm Kritik einbrachte. Dazu äußerte er sich folgendermaßen: „Manche Texte, die mich besonders ansprachen, deren Melodie ich jedoch nicht auffinden konnte, versuchte ich selbst zu komponiren. Wohl fühlend, was ich wagte, verschwieg ich meinen Namen und überliess diese Melodien nicht ohne Sorge ihrem Schicksal. Indess fanden sie zu meiner Freude in kurzer Zeit überall in Deutschland Eingang und selbst ausserhalb des Vaterlandes freundliche Aufnahme. Da kamen andere Sammler und Herausgeber von Volksliedern, welche auf eine schonungslose Weise nicht nur viele der von mir gesammelten, sondern auch eine grosse Anzahl der von mir komponirten Volksmelodien abdrucken liessen. Ich sah mich desshalb genöthigt, von l e t z- ­   t e r e n in meinem 8ten vierstimmigen Heft ein Verzeichnis zu geben... Aber ungeachtet jener Veröffentlichung fahren diese Sammler dennoch fort, sich immer wieder an meinem Eigenthum zu vergreifen. Zu beklagen habe ich hiebei auch noch die Verstümmelung und geschmacklose Bearbeitung vieler Nummern, welche in derlei Werken oft unter meinem Namen vorkommen“ (Brusniak 1990, S. 31; Brusniak vergleicht in diesem Aufsatz einige Kompositionen Silchers mit hier genannten späteren „verstümmelnden“ Bearbeitungen.).

Obwohl die Qualität von Silchers Kompositionen heftig umstritten ist und die Meinungen darüber höchst kontrovers sind, gehören viele seiner Liedsätze bis heute zum Standardrepertoire in Anthologien deutscher Volkslieder des In- und Auslandes, u. a.:

„In einem kühlen Grunde“ (Joseph v. Eichendorff)

„Ännchen von Tharau“ (Simon Dach)

„Ich hatt’ einen Kameraden“ (Ludwig Uhland)

„Muss i denn zum Städele hinaus“

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ („Loreley“ von Heinrich Heine)

„Am Brunnen vor dem Tore“ („Der Lindenbaum“ von Wilhelm Müller)

Die „Loreley“ findet sich 1884 in japanischen Schulliederbüchern (Brusniak 2006, Sp. 796)

Die Lauppsche Buchhandlung in Tübingen gab 12 Hefte der „XII Volkslieder, gesammelt und für vier Männerstimmen gesetzt“ heraus. Zwischen 1826 bis 1860 veröffentlichte Silcher in diesen Heften 144 deutsche und ausländische Volkslieder in der Bearbeitung für vier Männerstimmen.

Zwischen 1835 bis 1860 veröffentlichte er außerdem in einem anderen Tübinger Verlag acht Hefte „XII deutsche Volkslieder mit Melodien, gesammelt und für eine oder zwei Singstimmen mit Begleitung des Pianoforte oder der Gitarre“. Mit dieser Ausgabe, deren Inhalt der o. g. Sammlung weitgehend entsprach, kam er dem Wunsch entgegen, die Liedsätze auch als Hausmusik aufzuführen.

1835 veröffentlichte Silcher das erste Heft seiner „Ausländischen Volksmelodien  mit deutschen, zum Teil aus dem Englischen etc. übertragenen Text, gesammelt und für eine oder zwei Singstimmen mit Begleitung des Pianoforte und der Gitarre“ (op. 23). Bis 1840 erschienen in dieser Sammlung vier Hefte. – 1846 und 1855 folgten zwei Hefte „Stimmen der Völker in Liedern und Weisen. Deutsche und ausländische Volkslieder mit je zwölf Volksliedern“, von Silcher bearbeitet für eine oder zwei Singstimmen mit Klavier- oder Gitarrenbegleitung; der Titel war angeregt durch die Volksliedsammlung Herders.

Außerdem veröffentlichte Silcher u. a. Kinderlieder und Gesänge für die Jugend.

Silchers Volksliedwerk umfasst insgesamt über 320 deutsche und ausländische Volkslieder, deren Melodien er bearbeitete: für vier Männerstimmen; für gemischten Chor, für ein bis zwei Stimmen mit Klavier- oder Gitarrenbegleitung.

Silcher verfasste auch musiktheoretische und -wissenschaftliche Schriften: eine „Kurzgefasste Gesanglehre für Volksschulen und Singchöre (1845), eine Harmonie- und Compositionslehre“ (1851) und eine posthum veröffentlichte „Geschichte des evangelischen Kirchengesangs“ (1862). Auch schrieb er weitere Kompositionen, die aber weniger bekannt sind: Klavierwerke, meist Variationen über bestimmte Themen; einige Instrumentalkompositionen, Sololieder mit Klavierbegleitung, Kirchenmusik.

Als Kuriosa erscheinen uns heute Silchers Bearbeitungen von Themen aus Ludwig van Beethovens Klaviersonaten und Sinfonien, denen er Texte unterlegte. Auch diese verfolgten pädagogische Ziele: Kompositionen berühmter Komponisten sollten durch Bearbeitungen breiteren Kreisen zugänglich gemacht werden. Während des 19. Jahrhunderts entfaltete sich ein bürgerliches Musikleben, das neue Darbietungsformen förderte und forderte. Viele Kompositionen wurden für die Verwendung als Hausmusik bearbeitet. In einer Zeit, in der viele Menschen keinen Zugang zu Konzerten, Opernaufführungen u. dgl. hatten, eröffneten Arrangements für Hausmusik die Möglichkeit, Werke durch eigenes Musizieren kennenzulernen. Bei der Verbreitung von Kompositionen spielten Arrangements für kleine Besetzungen im 19. Jahrhundert daher eine wichtige Rolle.

Seit 1912 besteht im ehemaligen Schulhaus in Schnait, Silchers Geburtshaus, das Silcher-Museum, dem 1956 das Silcher-Archiv (gegründet und lange Zeit geleitet von H. J. Dahmen) als wissenschaftliche Forschungsstelle angegliedert wurde.

„Die Verkitschung und Verklärung Silchers und seiner Volkslieder erreichten im Zuge einer zunehmend nationalistischen Interpretation seiner Werkes zur Zeit der Reichsgründung ihren ersten Höhepunkt und hielten sich bis in die Jahre des Nationalsozialismus. Sentimentale Interpretationen insbes. durch Männergesangvereine trugen mit dazu bei, dass Silcher-Sätze wegen ihrer angeblichen ‚gefälligen Gefühlsseligkeit‘ bereits in jugendbewegten Kreisen auf Ablehnung stießen und auch später noch Anlaß zur Diskussion über ‚gute‘ und ‚Trivialmusik‘ boten“ (Brusniak 2006, Sp. 796 f.). Laut Dahmen waren es vor allem die sogenannten Freunde und Verehrer, die ein Zerrbild von Silcher aufbauten und pflegten. „Hier könnte man sagen, man sollte Friedrich Silcher vor seinen Freunden schützen, die ihm mehr schaden als nützen!“ (Dahmen 1989, S. 13).

 

Der Lindenbaum („Am Brunnen vor dem Tore“)

Literatur (Auswahl)

Dahmen, Hermann Josef (1989): Friedrich Silcher. Komponist und Demokrat. Eine Biographie. Stuttgart, Wien

Sievritts, Manfred (1982): Lied – Song – Chanson. Band 1: Lieder erzählen. 2 Bände (Grundband u. Schülerband). Wiesbaden

Silcher-Album (o. J.). Fünfzig beliebte Volkslieder für Männerchor von Friedrich Silcher. Hg. von Heinrich Pfeil. Leipzig: Edition Peters

Wilhelm Müller. URL: http://gutenberg.spiegel.de/autoren/muellerw.htm (Stand: 07.06.2005)

 

Den Text des Liedes verfasste Wilhelm Müller 1822, Franz Schubert vertonte ihn 1827. Silchers Bearbeitung entstand 1846.

(Johann Ludwig) Wilhelm Müller wurde 1794 geboren und starb 1827. Er lebte überwiegend in Dessau. Seine Gedichte wurden im 19. Jahrhundert häufig vertont; ein Teil davon nahm Volksliedcharakter an („Der Lindenbaum“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“). Franz Schubert vertonte seine Gedichtzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“.

Wilhelm Müller wurde auch „Griechen-Müller“ genannt, weil er in den 1820er Jahren zahlreiche Gedichte zum griechischen Freiheitskampf gegen die Fremdherrschaft der Osmanen verfasste.

Innerhalb des Zyklus „Die Winterreise“ stellt „Der Lindenbaum“ einen dramatischen Höhepunkt dar. Das Gedicht besteht in Müllers Version aus sechs vierzeiligen Strophen, wobei die zweite und vierte Zeile jeweils durch Endreim miteinander verbunden sind. Schubert veränderte die durch das Gedicht vorgegebene Strophenfolge: Er fasste die Strophen 1 / 2 und 3 / 4 jeweils zu einer musikalischen Einheit zusammen. Die erste musikalische Strophe steht in Dur, die zweite wechselt in die gleichnamige Molltonart. Die fünfte Strophe der Textvorlage („Die kalten Winde bliesen“), die den dramatischen Höhepunkt des Gedichts enthält, durchbricht die Geschlossenheit des Strophenschemas und schiebt sich zwischen die drei Strophen als ein eigenständiger musikalischer Abschnitt. Die sechste Strophe des Gedichts kehrt musikalisch zur Strophenform zurück, wobei der kürzere Text (nur eine Strophe anstatt zwei) durch echoartige Verswiederholungen auf die Länge der Musikstrophe gedehnt wird. Die Textwiederholungen haben jedoch mehr als eine formale Funktion; durch sie erscheint der Ausdruck der Sehnsucht intensiviert.

Friedrich Silcher erhielt die Anregung zu einer populären Version von Schuberts „Lindenbaum“ durch Otto Elben (1823–1899), einen über die Grenzen Württembergs hinaus bekannten Politiker und Journalisten. Er war ein Schüler Silchers und tat sich vielfach auf musikalischem Gebiet hervor. Elben war Mitbegründer und erster Präsident des „Schwäbischen Sängerbundes“ und verfasste das Buch „Der volkstümliche deutsche Männergesang“.

Silcher vereinfachte Schuberts Lied, formte es zu einer – wie er selbst sich ausdrückte – „Volksmelodie“ um mit einigen melodischen Änderungen gegenüber dem Original. Die veränderte Version bearbeitete er für vier Männerstimmen. Während in Schuberts Vertonung der Klavierpart nicht nur als „Begleitung“ fungiert, sondern wesentlicher Ausdrucksträger ist, entfällt bei Silcher der Klavierpart vollständig. Text und Musik sind in Silchers Vertonung einem strengen Strophenschema unterworfen. Eine Entsprechung zu dem dramatischen Höhepunkt („Die kalten Winde bliesen“) fehlt. So wirkt das Lied vergleichsweise statisch und wenig dramatisch – zudem es aus dem zyklischen Zusammenhang der „Winterreise“ herausgelöst ist. Die verkleinerte und vereinfachte Fassung des „Lindenbaums“ eignete sich jedoch besser zum Nachsingen und damit zur Popularisierung. Sie fand breite Resonanz und gilt vor allem im Ausland als Inkarnation des romantischen „typisch deutschen“ Volksliedes.

 

Loreley („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“)

Literatur (Auswahl)

Bodsch, Ingrid (2004): eine wundersame, gewaltige Melodei. Die Loreley in der Musik des 19. Jahrhunderts. In: Kramp, Mario (Hg.): Die Loreley. Ein Fels im Rhein – Ein deutscher Traum. Mainz. S. 74–81

Cepl-Kaufmann, Gertrude (2004): „ergreift es mit wildem Weh“. Kritik, Parodie und literarische Rezeption im 20. Jahrhundert. In: Kramp, Mario (Hg.): Die Loreley. Ein Fels im Rhein – Ein deutscher Traum. Mainz. S. 130–139

Dahmen, Hermann Josef (1989): Friedrich Silcher. Komponist und Demokrat. Eine Biographie. Stuttgart, Wien

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ (2000). In: Erlebniswelt Musik. Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I. Hg. von Günther Noll. Bröcker, Marianne / Noll, Günther / Rutha, Klaus / Tiedt, Wolfgang (Hg.): Singen – Tanzen – Spielen. Lehrerkommentar. Mainz

Kramp, Mario (Hg.) (2004): Die Loreley. Ein Fels im Rhein – Ein deutscher Traum. Mainz

Kross, Siegfried (Hg.) (1989): Musikalische Rheinromantik. Bericht über die Jahrestagung 1985. Kassel (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte; H. 140)

Kruse, Joseph A. (2004): „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“. Heine und die Folgen. In: Kramp, Mario (Hg.): Die Loreley. Ein Fels im Rhein – Ein deutscher Traum. Mainz. S. 66–73

„Loreley“. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (http://de.wikipedia.org/wiki/Loreley)

Park, Eun-Kyoung (2004): und das hat mit ihrem Singen die Lore-Lay getan. Zur Loreley-Rezeption in Asien. In: Kramp, Mario (Hg.): Die Loreley. Ein Fels im Rhein – Ein deutscher Traum. Mainz. S. 180–187

Silcher-Album. Fünfzig beliebte Volkslieder für Männerchor von Friedrich Silcher. Hg. von Heinrich Pfeil. Leipzig: Edition Peters, o. J.

 

Loreley oder Lorelei heißt ein 132 Meter hoher Felsen im Rhein oberhalb von Sankt Goarshausen. Er springt sehr weit vor, so dass der Strom in einem großen Bogen um ihn herumfließen muss. An dieser Stelle ist der Rhein nur ca. 130 Meter breit und wegen des felsigen Flussbettes schwer befahrbar. Daher werden die Schiffe an dieser Stelle von Lotsen gesteuert. Von der Spitze des Loreleyfelsens hat man einen herrlichen Rundblick auf das Rheintal. So gehört dieser Ort zu den größten touristischen Attraktionen in Deutschland. Die Phantasie wurde vermutlich auch angeregt durch das durch den Felsen bedingte vielfache Echo, das an dieser Stelle Reisende immer wieder dazu ermunterte, zu rufen, zu singen etc. Das Echo wurde u.a. gedeutet als geheimnisvolle Stimme eines im Felsen wohnenden Berggeistes.

Die bekannte Rheinsage ist nicht so alt, wie es zunächst scheint. Sie geht auf die 1801 (oder 1802?) entstandene Ballade „Die Lore Lay“ von Clemens Brentano zurück. Doch war der Loreleyfelsen schon viel früher ein sagenumwobener Ort, und wahrscheinlich wurde Brentano durch ältere Rheinsagen beeinflusst. Brentanos Ballade erzählt von einem Mädchen mit Zauberkräften, das auf dem Schieferfelsen im Rhein sitzt und die Schiffer ins Verderben reißt, weil sie von ihrer Schönheit fasziniert sind und nicht mehr auf die gefährlichen Stromschnellen achten. Brentanos Gedicht endet damit, dass sich Lore Lay in den Rhein stürzt, um ihrem Fluch zu entkommen.

Heinrich Heine griff das Thema auf: Sein Gedicht „Loreley“ („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“) verfasste er 1823 im Alter von 25 Jahren. Es erschien in den Liedern der „Heimkehr“ (1823/24), die im „Buch der Lieder“, in dem Heines frühe Gedichte zusammengefasst sind, 1827 veröffentlicht wurden. In Heines Version ist es der Gesang der Loreley – „eine wundersame, gewaltige Melodei“ –, der die Schiffer in den Abgrund reißt.

Heines „Loreley“-Text regte zahlreiche Komponisten zu Vertonungen an: Der italienische Komponist Alfredo Catalani (1854–1893) schrieb eine Oper „Loreley“, die 1890 uraufgeführt wurde; George Gershwin ließ 1932 in dem in Deutschland spielenden Musical „Pardon My English“ die Loreley als „leichtes Mädchen“ besingen. Liedvertonungen gibt es auch von Franz Liszt, Johanna Kinkel, Joachim Raff und Clara Schumann. Liszt komponierte außerdem ein Klavierstück mit dem Titel „Die Lorelei“. 1981 hatte die Gruppe „Dschinghis Khan“ großen Erfolg mit dem Schlager „Loreley“.

Am populärsten wurde jedoch Friedrich Silchers Vertonung von Heines „Loreley“. Silcher lernte den Text anscheinend aus einer Zeitschrift kennen, einige Jahre vor dem Erscheinen von Heines „Buch des Lieder“, das 1827 publiziert wurde. Silcher veröffentlichte seine Vertonung erstmals 1838 im 3. Heft seiner „XII Deutschen Volkslieder für 1–2 Singstimmen“ (op.28, Nr. 7) und 1839 im 6. Heft seiner „XII Volkslieder für vier Männerstimmen“. Letzteres widmete Silcher dem renommierten und erfolgreichen „Kölner Männer-Gesang-Verein“, der zur Verbreitung der „Loreley“ u. a. Lieder – auch durch Konzerte im Ausland – wesentlich beitrug. 1852 wurde Silcher Ehrenmitglied des „Kölner Männer-Gesang-Vereins“.

Die „Loreley“ wurde bald weltweit bekannt, nicht nur im europäischen, sondern auch im außereuropäischen Ausland. Sie gilt als eines des beliebtesten deutschen Volkslieder. Dies ist einer der Gründe, weshalb der Loreleyfelsen zu den von Touristen am meisten aufgesuchten Orten in Deutschland gehört.

Seit 1884 gehört Silchers „Loreley“ „zum festen Bestand der japanischer Schulliederbücher“ und wird von jedem Japaner in einer Übersetzung auswendig gesungen (Dahmen 1989, S. 145). Aber auch in anderen Ländern ist die „Loreley“ populär. Der Chordirigent Hermann Josef Dahmen berichtet von einer Konzertreise nach Bombay im Jahr 1980. Zum Schluss eines Konzerts in einer indischen Tanzschule wurde von allen gemeinsam die „Loreley“ gesungen. „Obwohl die Stimmung inzwischen sehr lustig geworden war, trat plötzlich eine überraschende Stille ein. Der Leiter der Schule kam auf mich zu, drückte mir die Hand und sagte: ‚Das Lied ist bei uns das bekannteste und beliebteste deutsche Volkslied. Nach diesem Lied darf man nicht klatschen; danach geht man wie nach einem Gottesdienst nach Hause.’“ (Dahmen 1989, S. 143).

Eun-Kyoung Park berichtet, dass sowohl Heine als auch Goethe in China, Japan und Korea berühmt seien (Park 2004, S. 181). Von Goethe sei vor allem der „Werther“-Roman dort bekannt, von Heine die „Loreley“ in der Vertonung von Friedrich Silcher. Die „Loreley“ wirkt in Ostasien u. a. exotisch (die singende Blondine auf dem Felsen im Rhein) und sie trug dort zu einer einseitig romantisierenden Heine-Rezeption wesentlich bei. In Japan, wo seit 1889 Heines Gedichte in übersetzter Version bekannt wurden, wird der Dichter bis in die Gegenwart hauptsächlich als sentimentaler Liebeslyriker geschätzt. Von der „Loreley“ entstanden mehrere Übersetzungen; diejenige von Sakufu Kondo (1908) in der Vertonung von Silcher wurde in ganz Japan populär (Park 2004, S. 182). – In Korea setzte die Heine-Rezeption in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein; Heine war der am meisten ins Koreanische übertragene Dichter. Er wurde überwiegend als ein romantischer Liebeslyriker rezipiert; es gab jedoch auch eine sozialistisch geprägte Heine-Interpretation, die den revolutionären, sozialkritischen Schriftsteller in den Vordergrund rückte. Die Rezeption des Loreley-Gedichts erfolgte in Korea zunächst über dessen japanische Version. Vom Text gibt es mehrere Übersetzungen. Silchers Vertonung gilt als die schönste; sie taucht auch im offiziellen Lehrbuch für den Musikunterricht in der Mittelschule auf. – In China war Heine einer der ersten deutschen Dichter, die am Anfang des 20. Jahrhunderts ins Chinesische übersetzt wurden. Prägend war zunächst die japanische Rezeption Heines als Liebeslyriker. Seit den 1940er Jahren wurde einseitig der revolutionäre und politische Charakter von Heines Dichtung herausgestellt. Inzwischen scheint das Heine-Bild in China komplexer geworden zu sein und nicht mehr einseitig geprägt vom Verständnis Heines als einem Kampfgefährten von Marx und Engels. Heines „Loreley“ gehört zum Unterrichtsprogramm der Peking-Universität (Park 2004, S. 185). Trotz aller Bemühungen in Ostasien, das Heine-Bild zu korrigieren, unterliegt die „unbelehrbare Touristen-Masse“ aus Asien noch immer dem „Charme einer romantisch-tragischen Liebesgeschichte“ (Park 2004, S. 185). „Für die nach Deutschland reisenden asiatischen Touristen ist die Rheinfahrt zum Loreley-Felsen ein Muss“ (Park 2004, S. 185).

Es gibt Übersetzungen der „Loreley“ in verschiedene Fremdsprachen. Und selbstverständlich reizte die Popularität des Liedes zu zahlreichen parodistischen Versionen: z. B. „Die verpfuschte Loreley“, in der das Lied völlig schräg und fehlerhaft gespielt wird und Lachstürme hervorruft; oder eine komische Variante im sächsischen Dialekt („Ich weeß nich, mich isses so gomisch, Und ärchendwas macht mich verstimmt“). Weitere Parodien des Heine-Gedichts stammen von Paul Weber („Pythagoreischer Lehrsatz“, 1909), Erich Kästner („Der Handstand auf der Lorelei“, 1932), Dieter Höss („Das Lied von den Kunst-Liebhabern“, 1967), Jürgen Werner („Die Lorelei 1973“, die die Rheinverschmutzung anprangert) und Eugen Roth („Rheinfahrt“, 1968). Im Internet finden sich unter dem Suchwort „Loreley-Gedichte“ viele weitere Gedichte: z. B. „Waldgespräch“ von Joseph von Eichendorff; „In der Sonnengasse“ von Arno Holz; „Ars poetica“ von Ulla Hahn; „Hochseil“ von Peter Rühmkorf; „Die Toreloreliese“ von Cornelis Buddingh.

Oftmals wird fälschlicherweise behauptet, Heine / Silchers „Loreley“ sei wegen Heines jüdischer Herkunft in der NS-Zeit mit dem Hinweis „Dichter unbekannt“ erschienen. Tatsächlich jedoch erreichte Heines Ballade einen Beliebtheits- und Bekanntheitsgrad, dem selbst das „Dritte Reich“ nicht grundsätzlich etwas anhaben konnte (Kruse 2004, S. 69).

 

La Paloma

Literatur (Auswahl)

Alonso, Celsa: Art. „Iradier Salaberri, Sebastián“. In: MGG Personenteil, Bd. 9. Sp. 663

Bloemeke, Rüdiger (2005): La Paloma – Das Jahrhundert-Lied. Hamburg: Voodoo Verlag

„Ferdinand Maximilian von Mexiko“. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (Stand: 3. Juli 2007)

„La Paloma“. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (Stand: 13.07.2007)

Rodriguez, Olavo Alén: Art. „Kuba“. In: MGG Sachteil, Bd. 5 (zu „Habanera“ s. Sp. 807 f.)

Schumann, Coco (1997): Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt. München. Kap. „La Paloma“, S. 79 ff.

Tonträger (Auswahl)

Laar, Kalle (Hg.): La Paloma. One Song for All Worlds. 4 CDs + Booklets. München: Trikont, CD 1 1995; CD 2 1996; CD 3 1997; CD 4 2000

Liedmonographisches Material

Archiv Dr. Susanne Igler, Universität Marburg

 

„Kein Lied oder Musikstück der Welt ist jemals so oft gesungen, gespielt, interpretiert, arrangiert, vervielfältigt und auf diversen Tonträgern festgehalten worden wie ‚La Paloma’. Im westlichen Kulturkreis dürfte es kaum jemanden geben, der dieses Lied nicht kennt... es hat sich etabliert als eine Art von Volkslied, unspektakulär präsent seit über einhundert Jahren. Das mag daran liegen, dass es durch die ungezählten Versionen billig produzierter Tanzmusik diskreditiert wurde und sich immer wieder als sentimentales Vehikel der Seemannsromantik missbrauchen ließ. Interpreten aller möglichen Genres haben ‚La Paloma‘ neu belebt. Es war und ist ein Bravourstück der meisten Opernsänger, es wurde als Tango, Walzer oder Marsch gespielt, tauchte auf im Jazz, Surf, Twist, Rock, Reggae, Country, war mehrfach ein Schlagererfolg und ist auch als Filmmusik bis heute beliebt“ (Laar, Booklet zu CD 1, S. 2).

2003 wurde „La Paloma“ von Fernsehzuschauern zum „Lied des Jahrhunderts“ gewählt. Seitdem spielte der NDR 90,3 täglich eine neue Fassung (s. http://www1.ndr.de/ndr). So sang u. a. der Soweto Gospel Chor eine südafrikanische Version in Zulu. „Viele NDR 90,3-Hörer waren dabei und haben sich zu den Trommeln Afrikas warm geschunkelt“ (ebd.). Der „La Paloma“-Kult treibt bzw. trieb gelegentlich seltsame Blüten: Es wird berichtet, dass 2004 anlässlich des 815. Hamburger Hafengeburtstages unter der Anleitung von Freddy Quinn 88 600 Menschen „La Paloma“ sangen. Dieses Ereignis, das der NDR 90,3 gemeinsam mit dem „Hamburg Journal“ und dem „Hamburger Abendblatt“ organisiert hatte, fand Eingang in das Guiness-Buch der Rekorde (http://www1.ndr.de/ndr).

Der Komponist von La Paloma war Sebastián de Iradier (der sich, nachdem er prominent geworden war, „Yradier“ schrieb), der zu seinen Lebzeiten eine gewisse Berühmtheit erlangte, aber bald in Vergessenheit geriet. Über sein Leben gibt es nur spärliche Nachrichten. 1809 wurde er in Lanciego in Spanien (Provinz Alava / Baskenland) geboren. 1827 wurde er Organist an der Pfarrkirche von Salvatierra. 1833 ging er nach Madrid, wo er am Konservatorium Gesang lehrte. Er verkehrte dort in den wichtigsten Musiksalons. 1850 reiste er nach Paris. 1857 unternahm er angeblich eine Reise in die Karibik, bei der er sich u. a. mit kreolischen Rhythmen, insbesondere mit der Habanera, auseinandersetzte.[1]La Paloma“ komponierte Iradier während eines Aufenthaltes auf Kuba. Die Reise in die Karibik lässt sich jedoch nicht belegen, und es ist nicht auszuschließen, dass sie lediglich Iradiers Phantasie entsprang (Auskunft von Dr. Susanne Igler).

Die Habanera war eine spezielle Gattung kubanischer Musik im 19. Jahrhundert, als deren Charakteristika der MGG-Artikel „Kuba“ nennt: binäre Struktur, festes rhythmisches Schema; kurze Einleitung mit zwei nachfolgenden acht- oder sechzehntaktige Phrasen; starke Synkopierungen. Iradiers Kompositionen „La Paloma“ und „El Arreglito“ spielten eine wichtige Rolle bei der Einführung der Habanera in den europäischen Salons.

Nach seiner Rückkehr nach Paris veröffentlichte Iradier verschiedene Liedsammlungen. 1865 kehrte er nach Spanien zurück, wo er im selben Jahr starb. Die internationale Berühmtheit seines Liedes „La Paloma“ erlebte er nicht mehr.

Mit mehr als 150 Titeln ist Iradier einer der wichtigsten Vertreter des spanischen Liedes. In seine Kompositionen nahm viele Elemente spanischer Volksmusik auf: z. B. „andalusische“ Tonleitern, modale Harmonien, Melismen, Koloraturen, übermäßige Sekunden, bestimmte Rhythmen etc.

1874 suchte Bizet in der Pariser Bibliothèque Nationale für seine Oper „Carmen“ spanische Gesänge. Dabei stieß er auf die Liedsammlung „Fleurs d’Espagne“ von Iradier. Diese beim Verlag Heugel in Paris erschienene Sammlung enthielt u. a. „La Paloma“ und „El Arreglito ou la promesse du mariage“. Dem Verleger Heugel entging nicht, dass die Habanera aus Bizets „Carmen“ eine Bearbeitung von „El Arreglito“ war, so dass Bizet in deren Klavierauszug anmerkte: „Einem spanischen Lied nachempfunden, das Eigentum der Herausgeber von ‚Le Ménestrel’[2] ist“ (Laar, Booklet zu CD 1, S. 4). Die „Carmen“ wurde bald ein Welterfolg und mit ihr die Habanera populär. Es gab damals insgesamt einen starken modischen Trend zu (u. a. spanischen) Exotismen. So wurden Iradiers Lieder in allen Salons gesungen.

„La Paloma“ ist neben der Arie Carmens die berühmteste Vertreterin der Habanera. Ungewiss ist der Autor des Originaltextes, und das genaue Entstehungsdatum lässt sich nicht mehr rekonstruieren. In den 1860er Jahren gab es bereits eine deutsche Version mit dem Titel „Mexikanisches Lied“ und eine französische mit dem Titel „La colombe“.

Besonders populär war und ist bis in die Gegenwart „La Paloma“ in Mexiko. Immer wieder entstehen dort neue Kontrafakturen, oft mit aktuellen politischen Bezügen. Vermutlich wurde das Lied um 1863 im Teatro Nacional de Mexiko zum ersten Mal gesungen („La Paloma“, in: Wikipedia). „La Paloma“ war das Lieblingslied von Erzherzog Ferdinand Maximilian und seiner Frau Charlotte. Ferdinand Maximilian von Österreich war gegen den Widerstand des mexikanischen Volkes in den Jahren 1864–1867 Kaiser von Mexiko. Dort konnte er sich jedoch nicht lange gegen den abgesetzten mexikanischen Präsidenten Benito Juárez behaupten. Er wurde am 1. Mai 1867 entmachtet, von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt und am 19. Juni 1867 standrechtlich erschossen. Es kursiert die – durch neuere Untersuchungen widerlegte – Legende, sein letzter Wunsch vor der Hinrichtung sei es gewesen, zu den Klängen von „La Paloma“ zu sterben. Seine Gemahlin Charlotte entging der Exekution; sie überlebte Maximilian um sechzig Jahre, verfiel aber nach dessen Tod dem Wahnsinn.

„La Paloma“ wurde bei der Ausschiffung des Sarges von Maximilian am Anlegesteg von Schloss Miramare gespielt. Zum Andenken an dieses traurige Ereignis beschlossen die anwesenden Marineoffiziere, dass dieses Lied von nun ab auf österreichischen Kriegsschiffen nie mehr erklingen solle. Diese Tradition wird bis heute von traditionsbewussten österreichischen Seglern eingehalten (s. „Ferdinand Maximilian von Österreich“, in: Wikipedia).

Vor der Ära der elektronischen Massenmedien zeigte sich die Popularität eines Musikstückes u.a. in der Anzahl seiner Bearbeitungen: Bis 1910 verzeichneten die Kataloge der Musikverlage auf der ganzen Welt etwa 2000 „La Paloma“-Fassungen für die verschiedensten Besetzungen (Laar, Booklet zu CD 1, S. 11). Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zahlreiche Vokalfassungen. „La Paloma“ fand bzw. findet sich im Repertoire zahlreicher Opernsänger – oft als effektvolle Zugabe.

Ein Indiz für die Universalität von „La Paloma“ ist u. a. eine Aufnahme, die 1988 auf dem Bahnhof von Harbin in der Mandschurei gemacht wurde. „Die erste Großstadt auf chinesischem Gebiet begrüßt nach den Lautsprecherdurchsagen die Reisenden mit La Paloma“ (Laar, Booklet zu CD 2, S. 23).

Von der Insel Sansibar stammt eine Aufnahme, gespielt auf Tontrommeln. „La Paloma“ gehört auf Sansibar – mit verändertem Titel und Text – traditionell ans Ende jeder Hochzeit und es gilt dort als ein „seit Menschengedenken“ heimisches Lied (Laar, Booklet zu CD 4, S. 5).

Einen Modetrend löste zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Tango aus, der mit der Habanera rhythmisch verwandt ist. Viele der damals aus dem Boden schießenden Tango-Orchester hatten „La Paloma“ im Repertoire.

Auch bei Schlagersängern wurde „La Paloma“ sehr beliebt. In den 1930er Jahren war die aus Chile stammende Sängerin Rosita Serrano damit sehr erfolgreich. Sie ist u. a. im Soundtrack der Verfilmung von Isabel Allendes Roman „Das Geisterhaus“ (1993) zu hören. Nach dem Zweiten Weltkrieg war „La Paloma“ mehrmals die Nummer eins in deutschen Hitparaden. Von Freddy Quinn, dem aus Österreich gebürtigen Sänger mit dem „’Lonesome-Sailor‘-Image“ (s. „Freddy, die Gitarre und mehr“. In: Kölner Stadt-Anzeiger vom 25.09.2001), gibt es mindestens acht verschiedene Einspielungen.

„La Paloma“ regte auch verschiedene Filme und Musicals an. Besonders bekannt wurde der Film „Große Freiheit Nr. 7“ mit Hans Albers. Regisseur war Helmut Käutner, der auch die Songtexte – darunter eine deutschsprachige „La Paloma“-Fassung – schrieb. Der Film wurde 1943 – mitten im Krieg – am Hamburger Hafen gedreht. „Neben der Anweisung Käutners, keine Hakenkreuzfahnen aufzunehmen, war eine der Hauptschwierigkeiten, die erheblichen Zerstörungen aus dem Bild zu lassen. Als das Filmatelier ausgebombt wurde, zog die Produktion um nach Prag, wo der Film auch fertiggestellt wurde“ (Laar, Booklet zu CD 1, S. 19). Wegen vermeintlicher Verunglimpfung Hamburgs und des deutschen Seemanns, „der sich natürlich nicht betrinkt“, wurde der Film in weiten Teilen des Reiches verboten. Er hatte 1944 in Prag Premiere und konnte auch im Ausland gezeigt werden. Nach 1945 war er in einer „verstümmelten Fassung“ unter dem Titel „La Paloma“ zu sehen (Laar, Booklet zu CD 1, S. 21). Weitere Filme mit dem Titel „La Paloma“ entstanden, und das Lied fand darüber hinaus Eingang in die Musik zu zahllosen Filmen.

Es gibt verschiedene Adaptionen von „La Paloma“ durch Jazzmusiker (siehe Laar, CD 1). Bedrückende Erinnerungen an seine KZ-Haft ruft „La Paloma“ in dem Jazzmusiker Coco Schumann hervor. Als „Halbjude“ wurde er 1943 im Alter von 19 Jahren nach Theresienstadt deportiert. Dort war er Mitglied der „Ghettoswingers“, einer Gruppe jüdischer Musiker, die Anfang 1944 nach Auschwitz verschleppt wurde. Dort gehörte es zu ihren Aufgaben, beim Abtransport von Häftlingen ins Gas „La Paloma“ zu spielen (Schumann 1997, S. 79 ff.). Auf die Frage eines Interviewers, ob er nach diesen Erlebnissen „La Paloma“ noch hören und spielen könne, antwortete Coco Schumann: „Was kann die Musik dafür, dass sie von den Nazis vergewaltigt wurde. Wenn ich ‚La Paloma‘ nie wieder gespielt hätte, dann hätten die Nazis doch gewonnen. Nee, das lass’ ich mir von denen nicht nehmen“ (Coco Schumann in einem Interview. In: „jetzt“: Das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung. H. 19 vom 8.5.2000. S. 28 ff.).

Auch von Pop- und Rockmusikern wurde „La Paloma“ übernommen, z. B. von der Gruppe „Amon Düül II“, deren Fassung aus den siebziger Jahren sich gegen die Verkitschung des Liedes durch Schlager- und Operettensänger richtete. Und wie jedes populäre Lied hat auch „La Paloma“ zu Parodien provoziert.

Es gibt viele verschiedene Textfassungen von „La Paloma“ in vielen verschiedenen Sprachen – einige davon zu finden im Internet: http://ingeb.org/songs/lapaloma.html; s. auch Laar, Booklet zu CD 2, S. 6 ff.)

Den bekanntesten deutschsprachigen „La Paloma“-Text schrieb Helmut Käutner für Hans Albers. Es gibt jedoch eine weitere Version mit dem Textanfang „Mich rief es an Bord“ (s. Laar, Booklet zu CD 2, S. 6 f.), die eine fast wörtliche Übersetzung der französischen Fassung ist (s. Booklet zu CD 2, S. 7; eine andere französischsprachige Fassung s. http://ingeb.org/songs/lapaloma.html). Sie stammt von dem 1946 verstorbenen Albert Stadthagen, einem Physiker und Chemiker, der auch Couplettexte für Operetten schrieb. Stadthagens Version wird von allen deutschsprachigen Opernsängern (unter ihnen Richard Tauber) unter Auslassung der zweiten Strophe verwendet. Eine weitere deutschsprachige Fassung: s. http://www1.ndr.de/ndr

Der spanische Originaltext, der wahrscheinlich vom Komponisten Iradier selbst verfasst wurde, hat einen ganz anderen Wortlaut (s. Laar, Booklet zu CD 2, S. 8 f.). Er ist weit entfernt vom schwermütigen Charakter der französischen und deutschen Fassungen.

 

Weberlieder

Literatur (Auswahl)

Buhmann, Heide / Haeseler, Hanspeter (Hg.) (1983): Das kleine dicke Liederbuch. Lieder und Tänze bis in unsere Zeit. Schlüchtern 3. erweiterte Auflage. S. 530 ff.

Dithmar, Reinhard (1993): Arbeiterlieder 1844 bis 1945. Neuwied u.a. S. 1 ff.; S. 213 ff.

„Gerhart Hauptmann“. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie

„Junges Deutschland“. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie (Stand: 29. Mai 2007)

Otto, Uli / König, Eginhard (1999): „Ich hatt’ einen Kameraden...“ Militär und Kriege in historisch-politischen Liedern in den Jahren von 1740 bis 1914. Regensburg

Stern, Annemarie (1972): Lieder gegen den Tritt. Politische Lieder aus fünf Jahrhunderten. Oberhausen S. 79 f.

RAFFINIERT.CH – Literatur – Gerhart Hauptmann (1862–1946). http://www.raffiniert.ch/shauptmann.html (Stand: 13.06.2005)

Steinitz, Wolfgang (1954): Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Bd. I. S. 230 ff., S. 245

„Die Weber“. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hauptwerke der deutschen Literatur, Bd. 2. Vom Vormärz bis zur Gegenwartsliteratur. München 1994. S. 180 ff.

 

Zum historischen Hintergrund

„In den verschiedensten Gegenden Deutschlands hatte sich im 17. und 18. Jh. eine ausgedehnte ländliche Hausweberei entwickelt, die auf dem Verlagssystem beruhte.[3] Nachdem England schon Ende des 18. Jhs. Mit der Mechanisierung der Textilindustrie vorangegangen war, folgte Deutschland seit dem zweiten Viertel des 19. Jhs. immer schneller nach. Die Produktion der Textilindustrie vergrößerte sich von 1800 bis 1848 etwa um das Zehnfache, und die Textilindustrie nahm hinsichtlich ihrer Arbeiterzahl, ihrer Mechanisierung und ihrer Produktion die wichtigste Stellung in der Industrie ein. Die große Zahl der ländlichen Hausweber, auf denen auch noch feudale Lasten ruhten, wurde durch diese Entwicklung in einen völligen Ruin gestoßen. Ihre Erbitterung entlud sich in den 40er Jahren in mehreren spontanen Aufständen, die sich – ebenso wie in England Jahrzehnte früher – gegen die Maschinen als die vermeintliche Quelle ihres Elends richteten und die ersten größeren Massenaktionen der sich herausbildenden deutschen Arbeiterklasse darstellten. Bekannt ist der schlesische Weberaufstand im Eulengebirge (Langenbielau und Peterswaldau); wenige Wochen später brach auf der anderen Seite des Riesengebirges, bei den Webern des Kreises Reichenberg, ein Aufstand aus“ (Steinitz 1954, S. 229). Diese Aufstände fanden 1844 statt; sie wurden mit militärischer Gewalt niedergeschlagen. Weitere Weberaufstände gab es 1841 in Ronneburg / Thüringen und 1830 und 1842 in Seifhennersdorf in der Oberlausitz, bei denen die gerade erst aufgestellten Maschinen zerstört wurden (ebd.).

Im Zusammenhang dieser Revolten entstanden auch mehrere Lieder, in denen sich Not, Erbitterung und Verzweiflung der Weber ausdrücken (s. z. B. Steinitz 1954, S. 230 ff.; Buhmann / Haeseler 1983, S. 530 ff.; Dithmar 1993, S. 1 ff.). Am bekanntesten wurde „Das Blutgericht“. Es wurde u. a. überliefert in Gerhart Hauptmann fünfaktigem Drama „Die Weber“, wo es ein Leitmotiv bildet.

Aus einem Bericht der „Kölnischen Zeitung“ vom 18. Juni 1844

„Bekanntlich begannen jene Auftritte bei dem Baumwollenfabrikanten Zwanziger und Söhne in Peterswaldau, der noch vor 30 Jahren ganz mittellos, sich jetzt ein Vermögen von 230 000 Thlr. erworben, und dessen Härte in Bedrückung der Weber sprichwörtlich geworden. Besonders wird über einen Sohn desselben geklagt. Die Veranlassung zu den zerstörenden Auftritten wird nun folgendermassen angegeben: Am 3. d.M. zog ein Haufe Weberburschen vor das Wohnhaus des Zwanziger und sang dort ein die Handlungsweise gedachter Herren darstellendes Lied, das sie schon vorher an die Thüren angeheftet hatten, von wo es durch Zwanziger wieder entfernt worden war. Das Lied ist aus dem Bewusstsein des Contrastes zwischen der üppigen, sich breitmachenden Herrlichkeit der Fabrikherren und der elenden Lage der Arbeiter hervorgegangen. Bei dieser Gelegenheit gelang es den Fabrikherren, einen der tumultuarischen Sänger in Haft zu bekommen“ (zit. nach: RAFFINIERT.CH – Literatur – Gerhart Hauptmann).

 

Gerhart Hauptmann: „Die Weber“

Biographische Daten

15. November 1862 geboren in Obersalzbrunn, Schlesien (heutiges Polen)

1878/79 landwirtschaftliche Ausbildung

1880–85 Studium an den Kunstakademien von Breslau und Dresden; Studium der Geschichte, Naturwissenschaften und Philosophie in Jena und Berlin

1883/84 Mittelmeerreise mit längerem Aufenthalt in Rom

1885 Heirat mit Marie Thienemann, mit der er drei Söhne bekam

1885–1901 freier Schriftsteller in Erkner bei Berlin, später in Charlottenburg, Schreiberhau (Schlesien) und Hiddensee (Ostsee)

1901 Übersiedlung nach Agnetendorf (Riesengebirge), das im Wechsel mit Berlin, Hiddensee und später Italien zum ständigen Wohnsitz wurde

1904 zweite Heirat (mit Margarete Marschalk)

1912 Nobelpreis für Literatur

Ab 1933 zog sich Hauptmann weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück. Seine Werke wurden jedoch weiterhin veröffentlicht, aufgeführt und verfilmt. 1942 wurde er anlässlich seines 80. Geburtstages in Breslau und Wien geehrt.

Am 6. Juni 1946 starb er.

Hauptmann gilt als der bedeutendste Dramatiker des Naturalismus. Sein Schaffen umfasst ca. vierzig Dramen, ein umfangreiches Prosawerk sowie Versepen und Gedichte. Absicht naturalistischer Dramen war es, „die Menschen und ihre Umgebung glaubwürdig, und das heißt vor allem ‚ungeschönt‘ darzustellen. Dies betraf hauptsächlich Figuren der unteren Gesellschaftsschichten. Dazu wurde auf Verse verzichtet und Umgangssprache (etwa Dialekt) verwendet. Es wurden scheinbar banale Themen mit gesellschaftskritischen Zielsetzungen auf die Bühne gebracht. Die Romantheorie von Emile Zola gab dazu einen wesentlichen Anstoß... Die genaue Menschenbeobachtung sollte zu einer präzisen Wiedergabe ihrer Lebensumstände und ihres Verhaltens führen. Anton Pawlowitsch Tschechow, Maxim Gorki, Gerhart Hauptmann oder Henrik Ibsen haben naturalistische Theaterstücke verfasst“ (s. „Naturalismus“, in: Wikipedia).

Gerhart Hauptmann: „Die Weber“

Die Erstpublikation dieses „sozialen Dramas“ fand 1892 als Buchveröffentlichung statt, die Uraufführung am 26. Februar 1893 als private Veranstaltung im Neuen Theater in Berlin, die erste öffentliche Aufführung am 25. September 1894. Neben der dem Hochdeutschen angenäherten Fassung erschien gleichzeitig eine Fassung im schlesischen Dialekt mit dem Titel „De Waber“.

Seinem Drama legte Hauptmann geschichtliche Ereignisse zugrunde: Die Aufstände der von ihren Arbeitgebern ausgebeuteten Leineweber, die mit militärischer Gewalt niedergeschlagen wurden, kannte er u. a. aus Erzählungen, darüber hinaus betrieb er detaillierte historische Studien und reiste 1891 zweimal in das schlesische Webergebiet. Eines der Geschichtswerke, das die Ereignisse von 1844 genau dokumentierte und auf dem Hauptmann u. a. basierte, war Wilhelm Wolffs „Das Elend und der Aufruhr in Schlesien“ (1845); es enthält auch das „Weberlied“. Ebenso stützte sich Hauptmann auf A. Zimmermanns „Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien“, 1885 (Steinitz 1954, S. 233 ff.; S. 243).

Zur dramatischen Handlung

Im ersten Akt liefern die Weber im Haus des Fabrikanten Dreißiger (dessen historisches Vorbild ein zu Reichtum gelangter Unternehmer namens Zwanziger war) ihren Parchent[4] ab und nehmen dafür einen Hungerlohn in Empfang. Der junge Weber Bäcker wagt es als einziger, laut zu protestieren. Der Fabrikant Dreißiger erkennt in ihm einen derjenigen, die am Vorabend das aufrührerische Lied vom „Blutgericht“ gesungen haben. – Im zweiten Akt wird das Elend der Weber am Beispiel der Familie Baumert vorgeführt. Der in die Heimat zurückgekehrte Moritz Jäger erzählt u. a. von seinem besseren Leben in der Stadt und liest der Familie das „Dreißicherlied“ vor:

Hier im Ort ist ein Gericht,

noch schlimmer als die Vehmen[5],

wo man nicht erst ein Urteil spricht,

das Leben schnell zu nehmen.

Hier wird der Mensch langsam gequält,

hier ist die Folterkammer,

hier werden Seufzer viel gezählt

als Zeugen von dem Jammer.

Die Herren Dreißiger die Henker sind,

die Diener ihrer Schergen,

davon ein jeder tapfer schind’t,

anstatt was zu verbergen.

Ihr Schurken all, ihr Satansbrut,

ihr höllischen Kujone[6],

ihr fresst der Armen Hab und Gut,

und Fluch wird euch zum Lohne.

Hier hilft kein Bitten und kein Flehn,

umsonst ist alles Klagen.

„Gefällt’s euch nicht, so könnt ihr gehen

am Hungertuche nagen.“

Nun denke man sich diese Not

und Elend dieser Armen,

zu Haus oft keinen Bissen Brot,

ist das nicht zum Erbarmen?

Erbarmen, ha! Ein schön Gefühl,

euch Kannibalen fremde,

ein jedes kennt schon euer Ziel,

’s ist der Armen Haut und Hemde.

Die zunehmende Unruhe unter den Webern veranlasst die Behörden, das Lied, das quasi leitmotivisch als Gesang der sich steigernden Revolte erklingt, zu verbieten. Im vierten Akt schlägt die aufrührerische Stimmung in Aktion um: Die Aufständischen dringen in Dreißigers Villa ein, plündern und zerstören sie und zwingen die Besitzer zur Flucht. Der Schlussakt zeigt aus der Perspektive der Familie Hilse im Nachbardorf den eskalierenden Aufstand, dessen Niederlage man ahnt, als der alte Hilse, der aus religiöser Überzeugung eine Beteiligung am Aufruhr ablehnt, von einer verirrten Kugel tödlich getroffen wird.

Zur Rezeption von Hauptmanns „Die Weber“

Die Wilhelminische Zensurbehörde versuchte, die Aufführung der „Weber“ zu verhindern, „mit der Begründung, die im Drama enthaltenen Schilderungen seien dazu angetan, Klassenhaß zu erzeugen und könnten zu ‚einem Anziehungspunkt für den zu Demonstrationen geneigten Teil der Bevölkerung Berlins‘ werden. Es bedurfte langer gerichtlicher Auseinandersetzungen, ehe das Kgl. Preußische Oberverwaltungsgericht das Verbot der Weber aufhob, was Wilhelm II. nicht hinderte, wegen der ‚demoralisierenden Tendenz‘ der Weber die kaiserliche Loge im Deutschen Theater zu kündigen“ („Die Weber“. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. S. 182).

 

Das Lied „Das Blutgericht“

Der Text des Liedes existiert in mehreren Fassungen mit zahlreichen Varianten (siehe Steinitz 1954, S. 230 ff.; vgl. auch Stern 1972, S. 79 f.; Textanfang bei Buhmann / Haeseler 1983, S. 544: „Die Welt, die ist jetzt ein Gericht“). Das Lied besteht aus mehr als zwanzig Strophen (s. Steinitz 1954, S. 231 f.). Sieben davon wählte Gerhart Hauptmann aus. Er stützte sich dabei auf zwei schriftliche Quellen: die von Wolff und Zimmermann überlieferten Versionen. Außerdem änderte Hauptmann Namen (vgl. oben): u. a. benannte er die zu seiner Zeit noch bestehende Firma Zwanziger um in Dreißiger.

Es ist belegt, dass die Weber – so wie Hauptmann es darstellt – das Lied während des Aufstandes „zu ihrer Aufreizung“ sangen (Steinitz 1954, S. 238). Über die Verwendung des „Weberliedes“ durch Hauptmann schreibt Steinitz: „Die Rolle des ‚Weberliedes’ bei der Auslösung des Weberausstandes ist von Gerhart Hauptmann in den ‚Webern’ meisterhaft gestaltet worden“ (Steinitz 1954, S. 240).

Die Polizeiakten berichten aber auch, dass das Lied bereits vor dem Weberaufstand wiederholt von den Arbeitern vor dem Haus des Fabrikanten Zwanziger angestimmt worden sei. Der Fabrikant ließ am 3. Juni 1844 einen Sänger verhaften. „Da die Bitte um Freilassung des Sängers ungehört blieb, zerstörten die Weber am 4. Juni das Haus des Fabrikanten und am nächsten Tag seine Fabrik, um dann von Peterswaldau nach Langenbielau zu ziehen und dort zwei Fabriken zu verwüsten“ (Dithmar 1993, S. 213).

Das Lied findet sich in verschiedenen Abschriften in den Untersuchungs- und Prozessakten über den schlesischen Weberaufstand 1844. Wie Steinitz herausfand, wurde es nach dem Aufstand mit allen Mitteln unterdrückt, aber es lebte dennoch an verschiedenen Orten weiter, und noch Jahrzehnte später erinnerten sich Zeitzeugen daran. Auch von späteren Generationen wurde es tradiert. Nach dem Verfasser des Textes wurde vergeblich gefahndet, mehrere Personen gerieten in Verdacht, doch blieb der Autor (man vermutet, dass es mehrere Autoren gegeben habe) unentdeckt (Steinitz 1954, S. 237 ff.).

Aufgezeichnet wurde das Lied u. a. von Wilhelm Wolff, den Steinitz einen „Kampfgefährten von Karl Marx und Friedrich Engels“ nennt (Steinitz 1954, S. 240). Wolff stammte aus Schlesien, er weilte unmittelbar vor dem Aufstand im Gebiet der Weber und schrieb unter dem Titel „Das Elend und der Aufruhr in Schlesien“ für das von Hermann Püttmann herausgegebene „Deutsche Bürgerbuch von 1845“ einen Bericht über den Aufstand; „das Lied wurde nach ihm ‚gleichsam die Marseillaise der Notleidenden‘“ (Steinitz 1954, S. 240), die auch in späteren Zeiten – vor allem angesichts von Not und Unrecht – gesungen wurde (Steinitz 1954, S. 237).

Arbeiterliederbücher der 1920er Jahre enthalten meist Kurzfassungen des Liedes in Hauptmanns Version und geben Gerhart Hauptmann als Autor an (Dithmar 1993, S. 214).

„Das Blutgericht“ wird vor allem auf die Melodie von „Es liegt ein Schloss in Österreich“ gesungen. Es wurden jedoch auch andere Melodien verwendet (s. etwa Steinitz 1954, S. 235). „Es liegt ein Schloss in Österreich“ hat ursprünglich den folgenden Text, dessen Märchenhaftigkeit einen schroffen Gegensatz zu dem Elend und der Aggressivität des „Blutgerichts“ darstellen: „Es liegt ein Schloss in Österreich, das war so schön gebauet von Silber und von rotem Gold, von Edelstein gemauert.“

Steinitz nennt weitere Lieder aus den Weberunruhen des Jahres 1844 (Steinitz I, S. 244 ff.). Viele Lieder, die von der Armut der Weber handeln, finden sich auch bei Buhmann / Haeseler 1983, S. 530 ff.; ebenso bei Dithmar 1993, S. 1 ff.

 

Heinrich Heine: Die schlesischen Weber („Im düstern Auge keine Träne“, 1845)

Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch –
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt –
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt –
Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht –
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!

Heinrich Heine stand zeitweilig der Gruppe „Junges Deutschland“ nahe, die aus Schriftstellern und Publizisten bestand, die sich den Zielen der französischen Julirevolution von 1830 verpflichtet sahen; mit dem Scheitern der Revolution im März 1848 hörte sie auf zu existieren. Ihre wichtigsten Vertreter waren Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Theodor Mundt und Ludolf Wienbarg. Heinrich Heine, Ludwig Börne und Georg Büchner wurden zeitweise dem „Jungen Deutschland“ zugerechnet.

Gemeinsam war diesen Schriftstellern und Publizisten, dass sie sich gegen die restaurative und reaktionäre Politik des österreichischen Staatsmanns Metternich und der Fürsten des Deutschen Bundes wandten. Sie traten für demokratische Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit und die Überwindung überkommener religiöser und moralischer Vorstellungen ein. Nationalpolitisch erhofften sie die Einheit Deutschlands in der Form einer Republik und somit die Überwindung des Feudalismus. Aufgabe der Literatur sollte es nach ihrer Auffassung sein, auf gesellschaftliche und politische Missstände aufmerksam zu machen.

Auf Beschluss des Frankfurter Bundestages wurden im Dezember 1835 die Schriften der Gruppe, zu der „namentlich H. Heine“ gerechnet wurde, in allen Staaten des Deutschen Bundes verboten. In der Begründung hieß es, die Jungdeutschen versuchten „in belletristischen, für alle Klassen von Lesern zugänglichen Schriften die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören“ (zit. nach „Junges Deutschland“, in: Wikipedia). Heine war 1831 nach Paris übergesiedelt. Vor allem wegen politischer Schwierigkeiten besuchte er Deutschland nur noch 1843 und 1844.

Das Lied „Im düstern Auge keine Träne“ mit dem dreifachen Fluch auf Gott, König und Vaterland schrieb Heine wenige Wochen nach dem Weberaufstand 1844 in Langenbielau und Peterswaldau. Es existiert in zwei Fassungen: einer vierstrophigen mit dem Titel „Die armen Weber“ und einer von Heine revidierten fünfstrophigen mit dem Titel „Die schlesischen Weber“ (s. Dithmar 1993, S. 4 f.).

Die erste Version erschien erstmalig im Pariser „Vorwärts“ vom 10. Juli 1844, nachdem die Zeitschrift, an der u. a. Marx, Engels und auch Heine mitarbeiteten, über den Weberaufstand berichtet hatte (Dithmar 1993, S. 214 f.). Aus Polizeiakten über die Beschlagnahmung geht hervor, dass Heines Gedicht in Deutschland auf Flugblättern verbreitet wurde (Dithmar 1993, S. 215). Friedrich Engels übersetzte die Erstfassung aus dem Pariser „Vorwärts“ ins Englische, obwohl er befürchtete, „es könne in England als Gotteslästerung angesehen werden, und verweist auf den Bezug des Textes zum Schlachtruf der Preußen 1813 ‚Mit Gott für König und Vaterland!‘“ (Dithmar 1993, S. 215).

„Der Mythos vom Spinnen der Schicksalsfäden durch die Nornen[7] ist in Heines Gedicht zum visionären Sinnbild für die Macht der Weber geworden. Daß sich ihr dreifacher Fluch nicht nur gegen König und Vaterland, sondern auch und zuerst gegen Gott richtet, war für den Verleger und die meisten Herausgeber der maßgeblichen Anthologien des 19. Jahrhunderts zu revolutionär. Die im Verlag Hoffmann und Campe 1863 erschienene rechtmäßige Originalausgabe der Werke Heinrich Heines enthält das Weberlied ... mit ... einer gravierenden Änderung: ‚Ein Fluch dem Gotte’ wird durch ‚Ein Fluch dem Götzen‘ ersetzt“ (Dithmar 1993, S. 215).

Die gesungenen Versionen innerhalb der deutschen Folkbewegung (die u. a. dieses Lied wiederentdeckte) verwenden anscheinend neukomponierte Melodien.

Der politische Schriftsteller Franz Mehring (1846–1919) schrieb 1893: „Es gibt zwei berühmte ‚Weberlieder‘. Das eine ist von Heinrich Heine verfasst [...]. Dagegen ist das Lied, das die aufständischen Weber sangen, ein echtes Volkslied, roh und ungefüge in der Form, aber um so erschütternder in seinem wie ein Blutstrom aus dem Herzen der Massen brechender Inhalt“ (zitiert nach Dithmar 1993, S. 214).

 

Auswanderung

Literatur (Auswahl)

Assion, Peter (1985): Abschied, Überfahrt und Ankunft. Zur brauchtümlichen Bewältigung des Auswanderungsverlaufs. In: Der große Aufbruch. Studien zur Amerikaauswanderung. Marburg. S. 125–150 (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. NF Bd. 17)

Auerbach, Inge (1985): Auswanderung aus Kurhessen 1832–1866. In: Der große Aufbruch. Studien zur Amerikaauswanderung. Marburg. S. 19–50 (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. NF Bd. 17)

„Auswanderung“. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie (Stand: 29. Juni 2007)

Bade, Klaus J. (1993): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1993

Geschichte lernen. H. 50 (1996). Lieder im Geschichtsunterricht. Heft + Audio-CD. S. 30 ff.

Grether, Andreas / Scheuermann, Sabine (1985): Rückwanderung aus Amerika. Zum Problem der Rückkehr aus der Fremde. In: Der große Aufbruch. Studien zur Amerikaauswanderung. Marburg. S. 215–220 (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. NF Bd. 17)

Greverus, Ina-Maria (1972): Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt am Main

Greverus, Ina-Maria (1973): Auswanderung und Anpassungsbarrieren. In: Günter Wiegelmann (Hg.): Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert. Stuttgart. S. 204–218

Der große Aufbruch (1985). Studien zur Amerikaauswanderung. Marburg (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. NF Bd. 17)

Habenicht, Gottfried (1979): Das Brasilienlied – Monographische Skizze eines rußlanddeutschen Auswandererliedes. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde, Bd. 22. Marburg. S. 227–278

Röhrich, Lutz (1985): Auswandererschicksal im Lied. In: Der große Aufbruch. Studien zur Amerikaauswanderung. Marburg. S. 71–110 (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. NF Bd. 17)

Yoder, Don (1975): Die Volkslieder der Pennsylvanien-Deutschen. In: Handbuch des Volksliedes. Bd. II. S. 221–270

Liedsammlungen / Liederbücher (Auswahl)

Buhmann, Heide / Haeseler, Hanspeter (1983): Das kleine dicke Liederbuch. Lieder und Tänze bis in unsere Zeit. 3. erweiterte Aufl. S. 488 ff.

Erk, Luwig / Böhme, Franz Magnus: Deutscher Liederhort. Bd. 2. Leipzig 1925. S. 596 f.

Hinze, Werner (Hg.) (2002): Lieder der Straße. 2 Bde.: Liederbuch und Lexikon-Lesebuch. Hamburg. Liederbuch S. 103 ff.; Lexikon S. 41 f.

Kröher, Hein & Oss (Hg.) (1977): Das sind unsere Lieder. Frankfurt am Main. Nr. 169 f.; S. 404

Pfälzische Volkslieder (1909). Hg. v. G. Heeger u. W. Wüst. Kaiserslautern. Bd. 2

Schwäbische Volkslieder (1855). Hg. v. Ernst Meier. Berlin

Steinitz, Wolfgang (1956 / 1962): Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. 2 Bde. Bes. Band 1, S. 116

Tonträger (Auswahl)

D’Gälfiäßler: Hat alles nicht das Volk getan? Zeitkritische Lieder von 1474–1984

Grenzgänger: Die Schiffe nach Amerika. Emigrantenlieder. Bremen 1995. CD + Booklet

Hein & Oss: Deutsche Lieder 1848/49

Passepartout GmbH: Lieder aus der anderen Heimat

 

„Unser Jahrhundert ist hellhörig geworden gegenüber der Aus- und Einwanderungsproblematik. Schlagworte wie ‚Gastarbeiter‘ oder die politischen Flüchtlinge in aller Welt, die Rücksiedler nach dem Zweiten Weltkrieg mögen genügen, um uns zu zeigen, wie aktuell diese Probleme noch immer und immer wieder neu sind. In einer Gesellschaft von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, Gastarbeitern und Asylanten haben wir heute besonderes Verständnis für das Mobilwerden von Menschen, für Randgruppen und Minderheiten, für Orientierung auf Heimat“ (Röhrich 1985, S. 106).

Vor dem Höhepunkt der Emigrationswellen im 19. Jahrhundert war Deutschland häufig von Auswanderung betroffen:

Eine starke Emigrationsbewegung ereignete sich nach dem Dreißigjährigen Krieg, als Arbeitsemigranten aus der übervölkerten Schweiz und aus Vorarlberg in den zerstörten, teilweise menschenleeren Gegenden Südwestdeutschlands ansässig wurden und halfen, das verwüstete Land wieder empor zu bringen („Auswanderung“, in: Wikipedia).

Im Zeitraum von 1550 bis 1750 mussten viele Emigranten ihre Heimat aus konfessionellen Gründen verlassen, denn seit dem Ende des 16. Jahrhunderts galt in und außerhalb von Deutschland das Prinzip cuius regio eius religio: Wer nicht zur Konfession seines Landesherren übertreten wollte, musste das Land verlassen. Das betraf z. B. Protestanten in Böhmen, die zwischen 1623 und 1680 in mehreren Wellen auswanderten. Während des frühen 18. Jahrhunderts gab es die Emigration der Hugenotten, einer Minderheit französischer Protestanten, nach England und Preußen. Sie wurden nach der 1685 erfolgten Aufhebung des Ediktes von Nantes (1598), das ihnen freie Religionsausübung garantiert hatte, verfolgt. 1733 wurden die Protestanten aus dem unter bischöflicher Herrschaft stehenden Land Salzburg vertrieben („Salzburger Emigration“) (vgl. „Auswanderung“, in: Wikipedia).

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts emigrierten viele Deutsche nach Ungarn, Rumänien und Russland aus. In manchen Ansiedlungsgebieten blieben die Sprache und Kultur des ursprünglichen Heimatlandes über Jahrhunderte hinweg erhalten, da die Eingewanderten nach außen weitgehend isoliert waren und insbesondere Heiratsverbindungen mit Einwohnern des aufnehmenden Landes fast ausgeschlossen waren („Auswanderung“, in: Wikipedia). Die deutsche Einwanderung nach Russland erfolgte am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Zarin Katharina II. das Land für Siedlungswillige aus Westeuropa öffnete. Den Kolonisten wurden viele Vergünstigungen eingeräumt, z. B. die Selbstverwaltung ihrer Kolonien und Gemeinden, die Freiheit der Sprache, Schule und Religion, die Befreiung vom Militärdienst sowie wirtschaftliche Vorteile. Die Einwanderungszahl betrug in den Haupteinwanderungsjahren 1764–67 ca. 27 000. Die Privilegien wurden aber allmählich beschnitten. Als besonders hart wurde von den Kolonisten die 1874 erfolgte Aufhebung der Militärfreiheit empfunden; sie war wohl die auslösende Ursache einer Auswanderungswelle nach Übersee, insbesondere nach Brasilien (s. Habenicht 1979, S. 228).

Im 18. Jahrhundert zogen religiös motivierte Emigranten in die Vereinigten Staaten, um bei der dort gewährten Religionsfreiheit ohne Repressalien leben zu können. Vor allem der Staat Pennsylvania zog Menschen aller religiösen Richtungen an.

Im 19. Jahrhundert erreichte die Auswanderung im deutschsprachigen Raum einen Höhepunkt. Es kam verschiedentlich zu Massenauswanderungen, die eng mit der konjunkturellen Entwicklung zusammenhingen. Bezogen auf Südwestdeutschland, kann man von drei Phasen der Massenauswanderung sprechen (vgl. „Auswanderung“, in: Wikipedia):

Die größte Migration des 19. Jahrhunderts war die der Iren in den Jahren nach 1845. Sie war Folge einer großen Hungersnot. Die Kartoffel, Hauptnahrungsmittel in Irland, war in den Jahren 1845 ff. von einem Pilz befallen, der einen großen Teil der Ernte vernichtete. Auch andere europäische Länder waren von der Kartoffelfäule betroffen, so Belgien, Teile Frankreichs und der Niederlande, Süd-England und Deutschland. Erst 1849 endete die „Große Hungersnot“ in Irland.

Hauptziel der Auswandererströme waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Als zusätzlicher Anreiz zur Emigration wirkten Nachrichten von Goldfunden in Kalifornien („Goldrausch“). Darüber hinaus gab es politische Gründe für die Auswanderungswelle, in Deutschland vor allem Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen nach der gescheiterten Revolution von 1848 („Forty-eighters“). Nach 1855 ließ die Stärke der Auswanderung nach und kam während des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865) fast vollständig zum Erliegen.

Nicht immer fand die Auswanderung die Zustimmung der Obrigkeit, die durch sie einen Machtverlust und negative Auswirkungen auf die Volkswirtschaft fürchtete. Aus diesen Gründen gab es im 18. Jahrhundert Verbote der Auswanderung (Auerbach 1985, S. 19), die daraufhin oft illegal erfolgte.

Auch als die Auswanderung nicht mehr illegal war, versuchte die staatliche Verwaltung sie zu bremsen – manchmal aus Fürsorge: In den amtlichen Wochenblättern warnte sie vor gewerbsmäßigen Betrügern und unseriösen Unternehmen und veröffentlichte Ratschläge deutscher Hilfsgesellschaften in Amerika. Andererseits gab es viele eigennützige Motive für Abschreckungsmaßnahmen: Den Regierungen war z. B. daran gelegen, dass Wehrpflichtige nicht verschwanden – legale oder illegale Auswanderung, um das Militär zu vermeiden, war eine in allen deutschen Staaten bekannte Erscheinung (Auerbach 1985, S. 21).

Am Ende der 1840er Jahre wurde die Auswanderung oftmals offiziell gefördert, um unerwünschte Personen abzuschieben. Die Heimatgemeinden bezahlten der armen Bevölkerung die Überfahrt; das erschien ihnen billiger als die dauerhafte Sorge für deren Unterhalt (Auerbach 1985, S. 28). Weitere Personenkreise, derer man sich auf diese Weise zu entledigen versuchte, waren Waisenkinder, Geisteskranke und Kriminelle (Auerbach 1985, S. 29). Im privaten Bereich sahen manche Familien eine Chance, untragbar gewordene Familienmitglieder durch Auswanderung loszuwerden.

Als Reaktion auf solche eigennützigen Abschiebepraktiken wurde im amerikanischen Kongress über ein Gesetz zum Verbot der Einwanderung fremder Armer beraten (Auerbach 1985, S. 27).

Mit der Auswanderung verbanden sich in den meisten Fällen Hoffnungen auf ein besseres Leben. Aus der Ferne erschien vor allem Amerika als ein Schlaraffenland. An vielen Orten in Deutschland tauchten Auswanderungsagenten auf und priesen das Leben in Übersee an. Sie profitierten von den Auswanderungswilligen u. a., indem sie ihnen zwar freie Reise und Überfahrt zusicherten, sie jedoch dazu verpflichteten, ihnen sämtliche Kosten zu erstatten, sobald sie Arbeit fanden.

Die Risiken bei der Auswanderung waren hoch: Die Schiffe waren überfüllt. Der Reederei, dem Kapitän und der Besatzung kam es hauptsächlich auf raschen Gewinn an. Ansteckende Krankheiten verbreiteten sich auf den dicht belegten Zwischendecks. Und schließlich war die Seefahrt lange Zeit ein gefährliches Wagnis, Schiffbrüche und Seeräuberei waren keineswegs selten.

Manche Auswanderer überstanden die Torturen der Überfahrt nicht. Und nach der Reise schließlich war man mit skandalösen Zuständen in den Ankunftshäfen konfrontiert. Vielen wurde die Einreise verweigert, sie mussten nach Hause zurückkehren. Dass Amerika darüber hinaus für diejenigen, die dort ankamen und einreisen durften, keineswegs das ersehnte und versprochene Paradies war, zeigte sich u. a. in hohen Rückwanderungsquoten (Hinze 2002, Lexikon-Lesebuch, S. 19).

Im Zusammenhang mit der Auswanderung entstanden Rituale. Auswanderung bedeutete – ähnlich wie Geburt, Hochzeit und Tod – einen tiefen lebensgeschichtlichen Einschnitt. Für die meisten Auswanderer gab es „keine Rückkehr und kein Wiedersehen mit den daheimgebliebenen Verwandten, sondern nur den Start in ein neues Leben“ (Assion 1985, S. 126). Musik, Gesang und Freudenschüsse, Blumenschmuck, Trinkgelage und Abschiedsgeleit wurden dem lokalen Festbrauchtum entlehnt und bildeten Bestandteile neuer Auswandererbräuche (Assion 1985, S. 127). An den Abschiedszeremonien beteiligten sich u. a. Vereine, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu florieren begannen. Die Kirche veranstaltete Abschiedsgottesdienste mit Abendmahl, die evangelische Kirche konfirmierte vorzeitig die Kinder der Auswandernden.

Im Zusammenhang mit der Auswanderung entstanden viele Lieder. Ein großer Teil davon findet sich im Deutschen Volksliedarchiv Freiburg. Die meisten von ihnen sind in Vergessenheit geraten, zu vielen von ihnen fehlen die Melodien; man kann davon ausgehen, dass die meisten Texte zu bekannten Melodien gesungen wurden.

Das verbreitetste, am meisten gesungene Auswandererlied ist „Jetzt ist die Zeit und Stunde da“ (Näheres dazu s. Steinitz I, Nr. 39a), das oftmals bei den Abschiedsritualen erklang (s. Assion 1985, S. 136). Es wurde 1830 von dem württembergischen Lehrer Samuel Friedrich Sautter (Steinitz nennt ihn Sauter, s. Steinitz I, S. 122) geschrieben und 1845 veröffentlicht. Noch im 20. Jahrhundert war es bei der älteren Generation der Pennsylvaniendeutschen bekannt (Röhrich 1985, S. 86). Es wurde auf verschiedene Melodien gesungen, „was auf eine reiche Variantenbildung schließen lässt“ (Röhrich 1985, S. 86). „Jetzt ist die Zeit und Stunde da“ gehört zu den Propagandaliedern für die Auswanderung in die neue Welt, mit der sich naiv-optimistische Erwartungen verbanden.

Ein Lied, das bei der Auswanderung ebenfalls häufig gesungen und weltweit bekannt wurde, war das schwäbische Wanderburschen-Abschiedslied „Muss i denn zum Städtele hinaus“, das in Friedrich Silchers chorischer Vertonung große Popularität erlangte.

Zahlreiche Auswandererlieder beklagen die Situation in Deutschland. Wie dort die Realität um die Mitte des 19. Jahrhunderts für viele Menschen war, stellt eindringlich das „Hungerlied“ dar, das Georg Weerth (1822–1856) ca. 1847 verfasste. Es ist kein Auswandererlied, thematisiert jedoch einen der Hauptgründe für die Auswanderung im 19. Jahrhundert. Der Schriftsteller Georg Weerth engagierte sich sehr für die politischen und wirtschaftlichen Probleme seiner Zeit. Er schloss er sich der kommunistischen Bewegung an (Ausführliches s. „Georg Weerth“, in: Wikipedia).

Der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Trostlosigkeit setzten viele Lieder Hoffnungen auf ein Wohlleben in der „neuen Welt“ entgegen (z. B. „Ihr Freunde, wer will sich noch quälen?“). Die Hoffnungen, die sich mit Amerika verbanden, waren oft utopisch. Hinze weist auf vergleichbare Paradiesvorstellungen in anderen Liedgenres, etwa denen der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, hin (Hinze 2002, Lexikon-Lesebuch, S. 19). „Amerika wird als ein Land geschildert, wo jede Misere des Mutterlands in ihr Gegenteil verkehrt wird. Darum vermitteln diese Lieder kein reales Bild von Amerika“ (Röhrich 1985, S. 89).

Aber nicht in allen Liedern ist der Erwartungshorizont hoch. Die meisten der damaligen Auswanderer ahnten, dass ihr Abschied von der vertrauten Heimat und familiärer Geborgenheit endgültig war. Viele Liedtexte sind keineswegs beschönigend, wenn sie das Elend der Überfahrt: Hitze, Durst, Hunger, Seekrankheit und Tod schildern.

Der optimistische Zug vieler Lieder hing u. a. mit ihrer Funktion zusammen: „Die Emigranten sangen solche Lieder, um sich selbst Mut zu machen und um der Schwierigkeiten Herr zu werden“ (Röhrich 1985, S. 80). So wurden beim Abschied oft Lieder geschmettert, um Angst und Abschiedsschmerz zurückzudrängen. Den frohen Abschiedsszenen folgte beim letzten Blick auf die heimatliche Küste unweigerlich ein Stimmungsumschwung, in dessen Verlauf viele Tränen vergossen wurden. „Erst recht aber dämpfte die Auswanderer-Euphorie, was nun für fünf bis acht Wochen lang – die Zeit einer Atlantik-Überquerung mit dem Segelschiff – den Alltag der Reisenden ausmachte“ (Assion 1985, S. 138 f.): Seekrankheit, Stürme, schlechte Lebensbedingungen, Ausgeliefertsein, Krankheiten, Todesfälle. Assion betont das gemeinschaftsbildende Potential der Lieder, ihre Fähigkeit, in schwierigen Situationen menschliche Distanzen wenigstens zeitweilig zu überwinden. So wurde während der langwierigen und äußerst beschwerlichen Schiffsreisen gelegentlich musiziert und getanzt; „solches ‚Auswandererbrauchtum’ fing den einzelnen in der Auswanderer-Gemeinschaft auf, hielt seinen Fernoptimismus lebendig und bot einen Ausgleich für lange Stunden dumpfer und bewegungsarmer Langeweile“ (Assion 1985, S. 139).

Ein herausgehobenes Ereignis war schließlich auch die Ankunft bzw. der erste Blick auf das amerikanische Festland, womit die ganze strapaziöse Unternehmung ein gutes Ende zu nehmen schien – zumindest solange man sich noch nicht der Bürokratie der Einwanderungsbehörden ausgeliefert sah.

Die Rückwandererquote war hoch. Nicht wenigen wurde bereits die Einreise verweigert. Die jährliche Rückwanderung nach Deutschland schwankt im Verhältnis zur Auswanderung zwischen 4,7 % (1859) und 49,4 % (1875) (Grether / Scheuermann 1985, S. 215). „Mittellosen wurde von einzelnen Bundesstaaten im Osten der Vereinigten Staaten schon seit 1826 die Einreise verweigert. Das erste Bundesgesetz zur Einwanderungsbeschränkung schloss 1875 Prostituierte und Kriminelle von der Einreise aus; seit 1882 galt dieses Gesetz auch für Arme und Geisteskranke. 1891 wurde das Einwanderungsverbot auf angeworbene Kontraktarbeiter, Polygamisten, auf Personen mit ansteckenden Krankheiten und Personenkreise ausgedehnt, denen die Überfahrt bezahlt worden war und die bei der Ankunft nicht mindestens 30 amerikanische Dollar (125 RM) vorweisen konnten“ (Grether / Scheuermann 1985, S. 216). Die befördernden Reedereien wurden dazu verpflichtet, die Abgewiesenen zum Ausgangshafen zurückzubringen.

Aber auch Personen, die einreisen durften, gaben manchmal den Plan einer Ansiedlung in der neuen Welt auf; denn Enttäuschungen blieben dort nicht aus. Manch einer fand sich in der fremden und ungewohnten Umgebung nicht zurecht, hatte nicht den erhofften wirtschaftlichen Erfolg. Die Rückwanderer wiederum hatten große Schwierigkeiten bei der Reintegration. Keineswegs wurden sie in der Heimat immer freundlich aufgenommen, sondern sie sahen sich in der alten Umgebung nicht selten Spott und Schadenfreude ausgesetzt.

Röhrich betont in seinem Aufsatz, dass nur ein Teil der Auswandererlieder spontan gesungen worden sei; die meisten Lieder fungierten als Propagandainstrumente. „Die am Auswanderergeschäft Verdienenden, die Werbeagenturen etc., setzten eigene Flugblattlieder für ihre Zwecke ein. Die auf Melodien getexteten Zeilen erwiesen sich mitunter als äußerst wirksame Propaganda. Das ist die Liedpublizistik, die eine bestimmte Botschaft vermitteln wollte, um für oder gegen die Auswanderung eine Wirkung zu erzielen“ (Röhrich 1985, S. 104).

Die Lieder dienten nicht nur der Propaganda für die Auswanderung, sondern sie sollten ebenso helfen, die Abwanderung einzudämmen oder zu verhindern. Propagandalieder gegen Amerika wurden auf zahlreichen fliegenden Blättern in Umlauf gebracht. Sie sollten Ängste gegenüber der „neuen Welt“ schüren – so z. B. das Lied „Ein stolzes Schiff“ (Hinze 2002, Liederbuch S. 106 f.; Lexikon-Lesebuch S. 41 f.), verfasst von Heinrich Schacht, der auf eine Melodie von Albert Gottlieb Methfessel zurückgriff.

Der Gegenpropaganda diente auch ein sechsstrophiges Lied mit dem Titel „Bleibet im Lande“ von Friedrich Rückert, dessen erste Strophe lautet (vgl. Röhrich 1985, S. 95):

Bleibet im Lande und nähret euch redlich,

Rücket zusammen und füget euch fein.

Machte nur keiner zu breit sich und schädlich,

Wäre das Land nicht für alle zu klein.

Aber wo alle sich drängen und reiben,

Da ist für Menschen im Land nicht zu bleiben,

Flösse das Land auch von Milch und von Wein.

Die Zeile „Bleibe im Lande und nähre dich redlich“ entstammt dem Psalm 37, Vers 3. Sie tauchte als Mahnung in zahlreichen Liedern der gegen die Auswanderung gerichteten Propaganda auf (s. Röhrich 1985, S. 95 ff.). Auch das bekannte deutsche Kinderlied „Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein“ wurde in dieser Weise ideologisiert, wenn es in der letzten Strophe hieß:

Sieh Mama,

ich bin da,

Hänschen aus Amerika.

Geh nicht mehr

fort von dir

bleib nun immer hier (Röhrich 1985, S. 97).

Weitere Lieder im Dienste der Gegenpropaganda waren „Hört mir zu, ihr deutschen Brüder“ und „Havre ist ein schönes Städtchen“.

Der negative Aspekt der Auswanderung beherrschte den Bänkelsang, zu dessen bevorzugten Themen Auswandererschicksale gehörten (Röhrich 1985, S. 97 f.; siehe hier auch die Abbildungen S. 98 ff.): die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Gefahren der Fremde, Überfälle, Schiffbruch, materielle Not in der neuen Welt, Sprachschwierigkeiten, Tod in der Fremde etc. „Fast immer wird das Auswandererschicksal an extremen Einzelbeispielen privater Natur vorgeführt“ (Röhrich 1985, S. 98) – darin vergleichbar mit den Sensationsmeldungen der späteren Yellow Press.

„Der Bänkelsang ... soll die Leute zufrieden machen, die lieber zu Hause geblieben sind, die vielleicht neidisch waren, aber sich jetzt sagen können, sie hätten das alles schon lange kommen sehen und befürchtet... Neben den Schrecknissen der Fremde werden die Vorteile des verlassenen Landes aufgeführt... Die Schlaraffenlandmotivik bekommt ihre Anti-Bilder“ (Röhrich 1985, S. 104).

Bei der Auswanderungswelle nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 verließen Zehntausende von Bauern, Handwerkern, Arbeitern und Intellektuellen Deutschland. Hier ist etwa Friedrich Hecker zu nennen (1811–1881), einer derjenigen, die im April 1848 zum bewaffneten Aufstand in Baden aufgerufen hatten. Nach dessen blutiger Niederschlagung flüchtete Hecker in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Hecker verfasste den Text des Liedes „Beamtenwillkür“. Er nennt hier die Gründe, die ihn zur Auswanderung bewogen: die Beamtenwillkür und die nach den Befreiungskriegen fortbestehende Adelsherrschaft in Deutschland. Heckers Flucht nach Amerika war keine freie Entscheidung; in Deutschland wäre er streng bestraft worden. Der Liedtext, in dem Hecker Amerika als Hort der Freiheit preist, ignoriert aber, dass es damals dort Sklaverei gab.

Auch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), vor allem als Verfasser des Deutschlandliedes bekannt, hatte zeitweilig Auswanderungspläne, die er aber nicht realisierte. Er war seit 1830 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Breslau. Wegen seiner politischen Einstellung wurde er 1842 seines Amtes enthoben und des Landes verwiesen. Hoffmann von Fallersleben verfasste die „Texanischen Lieder“, die den Nöten in der „alten Welt“ ein besseres Leben in der „neuen Welt“ entgegensetzen. Von ihm stammt auch das bekannte „Halleluja, halleluja, wir wandern nach Amerika“, ein Spottlied auf den Obrigkeitsstaat mit seiner aufgeblasenen Bürokratie.

 

Lieder der Revolution von 1848/49

Literatur (Auswahl)

Adamek, Karl (Hg.) (1981): Lieder der Arbeiterbewegung. Frankfurt am Main. S. 190–201

Deutsche Revolution von 1848/49. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie (Stand: 29.06.2007)

Dithmar, Reinhard (1993): Arbeiterlieder 1844 bis 1945.Neuwied, Kriftel, Berlin

Flechsig, Hartmut (1980): Revolution und Romantik in Deutschland. Regensburg

Gruppe „Kölner Volksbücher“ (Hg.): Lieder der Revolution 1848. Frankfurt am Main: Verlag Jugend & Politik

Hippen, Reinhard (1976): Peter Rohland und die Lieder deutscher Demokraten. In: Programmheft des 2. Tübinger Folk- und Liedermacherfestivals. Tübingen S. 20 f.

James, Barbara / Mossmann, Walter (1983): Glasbruch 1848. Flugblattlieder und Dokumente einer zerbrochenen Revolution. Darmstadt, Neuwied

Lammel, Inge (1957): Lieder der Revolution von 1848. Leipzig (Das Lied – im Kampf geboren, H. 1)

Mees, Helga / Mees, Heinz (1979): Peter Rohland. 1933–1966. 2. Aufl. Rüsselsheim (FOLKbuch 6)

Otto, Ulrich (1982): Die historisch-politischen Lieder und Karikaturen des Vormärz und der Revolution von 1848/49. Freiburg i. Br.

Probst-Effah, Gisela (1995): Lieder gegen „das Dunkel in den Köpfen“. Untersuchungen zur Folkbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Essen: Die Blaue Eule (Musikalische Volkskunde – Materialien und Analysen. Schriftenreihe des Instituts für Musikalische Volkskunde der Universität zu Köln. Hg. von Günther Noll und Wilhelm Schepping. Bd. 12)

Steinitz, Wolfgang (1954/62): Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Berlin (Ost) Bd. I 1954, Bd. II 1962. Sonderausgabe in einem Band Frankfurt am Main: Zweitausendeins-Versand, 1979

Tibbe, Monika / Bonson, Manfred (1981): Folk – Folklore – Volkslied. Zur Situation in- und ausländischer Volksmusik in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart

Tonträger (Auswahl)

Hein & Oss (Kröher): Deutsche Lieder 1848/49. Schott Wergo Music Media 1974 / 1997

Matter, Max (Hg.) (1998): „...weil jetzt die Freiheit blüht“: Lieder aus der Revolution von 1848/49. CD + Beiheft. Bad Krozingen

LP „Glasbruch“ 1848. Trikont: München, 1985

Rohland, Peter: Das Gesamtwerk. Thorofon LTHK 151-5

 

Zur geschichtlichen Situation

Aus Unzufriedenheit mit dem Zensuswahlrecht, das an den Nachweis eines Besitzes, Einkommens oder einer Steuerleistung gebunden ist, und der Monarchie überhaupt kam es am 22.–24. Februar 1848 in Paris zur Februarrevolution. Der König Louis Philippe wurde gestürzt, Frankreich war Republik. Es wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt. Im Juni desselben Jahres gab es sozialistisch-kommunistische Aufstände, die in blutigen Straßenkämpfen niedergeworfen wurden. (1847/48 entstand das von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste „Kommunistische Manifest“.) Im Dezember 1848 wurde Prinz Louis Napoleon, ein Neffe Napoleons I., Präsident der Französischen Republik, der 1851 durch einen Staatsstreich die unumschränkte Macht erlangte und sich 1852 zum Kaiser ausrufen ließ.

Von Frankreich ausgehend, breitete sich die revolutionäre Bewegung, die vom Bürgertum getragen wurde, über fast ganz Europa aus. Unter dem Einfluss der Pariser Februarrevolution kam es in den meisten Staaten des Deutschen Bundes zu Unruhen. 1848 fand in Wien ein Aufstand statt. Metternich wurde vertrieben, Ungarn wurde ein selbständiger, mit Österreich verbundener Staat mit einer eigenen Verfassung. Die Tschechen forderten Gleichberechtigung mit den Deutschen, die Italiener erhoben sich gegen Österreich. Im März 1848 gab es Freiheitskämpfe in Berlin und Unruhen in Süddeutschland. Ruf nach nationaler Einheit, einer Verfassung und Pressefreiheit. Im Mai 1848 Zusammentreten der Ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Schaffung einer deutschen Reichsverfassung. In der Nationalversammlung waren viele Dichter und Gelehrte vertreten, unter ihnen Ludwig Uhland und der Schriftsteller, Publizist und Geschichtsprofessor Ernst Moritz Arndt. U. a. Versuch der Schaffung einer Zentralgewalt und einer Einigung Deutschlands, der jedoch mangels finanzieller und militärischer Mittel scheiterte. Nach vielen Fehlschlägen Wiedererstarken der Reaktion.

 

Lieder der Revolution von 1848/49

Trotz alledem

Das Lied wurde im Juni 1848 von Ferdinand Freiligrath verfasst und in der von Karl Marx herausgegebenen „Neuen Rheinischen Zeitung“ abgedruckt. Es übernimmt die Melodie eines schottischen Volkstanzes („Lady Mackintosh’s Reel“), auf die 1795 der schottische Nationaldichter Robert Burns das Lied „Is there for honest poverty“ („Ist es wegen ehrlicher Armut“) verfasste, das auch unter dem Titel „A man’s a man for a’that“ („Ein Mensch bleibt ein Mensch, trotz alledem“) bekannt ist.

Das Lied „Trotz alledem“ bezieht sich auf die politischen Ereignisse von 1848, als die demokratische Bewegung in den deutschsprachigen Ländern ihren Höhepunkt erreichte; Zentren der Volkserhebung waren Wien und Berlin. Die Macht der Fürsten sollte eingeschränkt werden. Verfassungen und ein Parlament wurden zugesagt. Doch spaltete sich das Volk. Während Teile der Bevölkerung auf Demokratisierung drängten, suchte die Bourgeoisie den Kompromiss mit den Fürsten; sie wollten keine grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen mehr, sondern lediglich Teilhabe an der Herrschaft. Das Lied entstand zu einem Zeitpunkt der Niederlage und drückt das auch aus. Jedoch verharrt es nicht in Resignation, sondern es weckt Hoffnung („trotz alledem“).

Seit den 1960er/70er Jahren erlebte „Trotz alledem“ eine „Renaissance“. Nachdem es lange Zeit nicht in den offiziellen Liederbüchern erscheinen durfte, wurde es nun innerhalb der bundesrepublikanischen Folkbewegung populär. In den sechziger Jahren sang es als einer der Ersten Peter Rohland (1933–66), der zu den Initiatoren der deutschen Folkszene gehört.

Es entstanden in diesem Zusammenhang auch viele Parodien bzw. Kontrafakturen, die sich auf aktuelle Ereignisse bezogen und meist bei Demonstrationen und Streiks gesungen wurden. So gibt es u. a. Umtextierungen von Hannes Wader, der einmal äußerte: „Was uns interessiert, ist die Weiterführung der fortschrittlichen und demokratischen Bewegungen...“ Es gehe nicht darum, so betonte er, Volkslieder zu singen, weil es Spaß macht, sondern um sie zu neuem Leben zu erwecken. „Da habe ich Wasser aus dem alten Brunnen genommen, mit neuem gemischt und ein schönes Mixgetränk daraus gemacht“ (Eiserne Lerche Nr. 2/77, S. 13). Der Folkbewegung ging es weniger um Geschichte als Vergangenheit als um die Aktualität im Historischen.

 

Das „Bürgerlied“

Das „Bürgerlied“ („Ob wir rote, gelbe Kragen“) ist eines der Lieder, die Peter Rohland in Wolfgang Steinitz’ Sammlung „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“ fand. Über den Textautor besteht keine Klarheit (s. Steinitz II, S. 157 ff.). Der Text entstand in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, er ist ein Aufruf an die Bürger, „die Gedanken der französischen bürgerlichen Revolution von 1789 auch in Deutschland zur politischen Wirklichkeit werden zu lassen“ (Adamek 1981, S. 94). Steinitz interpretiert das Lied als „Ausdruck des ... erwachenden Selbstbewusstseins der kleinen Handwerker und bald auch der mit ihnen eng verbundenen Arbeiter“ (Steinitz II, S. 162). Die Melodie wurde dem Lied „Prinz Eugen, der edle Ritter“ entlehnt.

Auch dieses Lied erlebte in der deutschen Folkbewegung eine „Renaissance“: Nachdem Peter Rohland es in sein Repertoire aufgenommen hatte, gehörte es bald zum festen Liedbestand bundesrepublikanischer Folksänger. Auch hierzu entstanden in der Folgezeit zahlreiche Kontrafakturen, die aus verschiedenen aktuellen Anlässen verfasst wurden. Fast allen Fassungen gemeinsam sind das Demonstration einer soziale, ideologische und sonstige Schranken überwindenden Zusammengehörigkeit und der Aufruf zu solidarischem Handeln.



[1] Einige Jahreszahlen im Booklet zur CD 1 von „La Paloma. One Song for All Worlds“, auf dem diese Ausführungen großenteils basieren, stimmen nicht überein mit den Angaben im MGG-Artikel „Iradier“.

[2] „Le Ménestrel“ war eine im Verlag Heugel erscheinende Musikzeitschrift.

[3] Die Weber verkauften sich als Heimarbeiter an Verleger, die das Rohmaterial lieferten und die fertige Ware abnahmen. Sie erhielten nur geringen Lohn. Die ganze Familie saß Tag und Nacht am Webstuhl und lebte dennoch in großer Armut.

[4] siehe „barchat“ in: Grimm, Jacob u. Wilhelm (Hg.): Deutsches Wörterbuch

[5] Feme, Femgericht: Gerichte, die in öffentlichen und geheimen Sitzungen Recht sprachen

[6] Kujon: Schuft, Quäler

[7] Nornen sind in der germanischen Mythologie Wesen, die von Göttern, Zwergen oder Elfen abstammen. Sie lenken die Geschicke der Menschen und Götter, indem sie die Fäden des Schicksals spinnen und weben.

(c) Probst-Effah 2007