Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder zwischen 4 und 9 Jahren (GED 4-9)

 

Projektleitung: PD Dr. Tanja Ulrich

Verantwortlich: PD Dr. Tanja Ulrich, Univ.-Prof. i.R. Dr. Hans-Joachim Motsch

Kooperationspartner: Univ.-Prof. Dr. Christian Rietz (damals Universität zu Köln), Univ.-Prof. Dr. Ulrike Lüdtke & FöL/FSL Ulrich Stitzinger (Leibniz Universität Hannover), Prof. Dr. Margit Berg (damals Pädagogische Hochschule Heidelberg)

Laufzeit: 2012 - 2017

Flyer zum Projekt

Hintergrund:

Der Erwerb grammatischer Regelkompetenz ist bei der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten von besonderer Relevanz - der Rückgriff auf morphologische und syntaktische Regeln dient als essentielle Grundlage für die lautsprachliche und schriftsprachliche Produktion korrekter Sätze sowie das Verstehen von Sätzen und Texten. International gelten Störungen und Blockaden beim Erwerb der grammatischen Regeln als bedeutsamer Marker der spezifischen Sprachentwicklungsstörung (Leonard 1998).

Dies impliziert, dass möglichst frühzeitig Fehlentwicklungen im Bereich des Grammatikerwerbs von Kindern festgestellt werden müssen, um geeignete Förder- bzw. Therapiemaßnahmen ergreifen zu können und negative Auswirkungen auf den (schrift-) sprachlichen Entwicklungsbereich sowie negative Folgen auf eine erfolgreiche Sozialisation und die schulische und berufliche Laufbahn zu vermeiden. Voraussetzung dazu wären empirisch belastbare Daten zum normalen Grammatikerwerb.

Diesbezüglich klafft aber eine Lücke in der Spracherwerbsforschung: Es existierte kein ausreichend empirisch gesichertes Wissen über den Erwerb grammatischer Fähigkeiten deutschsprachiger Kinder. Bestehende, aus empirischen Untersuchungen abgeleitete Deskriptionen des Grammatikerwerbs reichten bislang beinahe ausnahmslos lediglich bis in das vierte Lebensjahr (Clahsen 1982, Cron-Boengler 1985) und beriefen sich auf nicht-repräsentative Erhebungen an einer sehr geringen Anzahl von Kindern (z.B. N = 3; Clahsen 1982).

Die daraus resultierende Aussage, dass deutschsprachige Kinder bereits im vierten, spätestens jedoch im fünften Lebensjahr alle wesentlichen grammatischen Regeln erworben hätten (Szagun 2007), wurden durch aktuellere Querschnittsuntersuchungen im Schulalter hingegen widerlegt: So zeigten die Untersuchungen von Popella (2005) und Maiworm (2008) an über 150 sprachunauffälligen, monolingual deutschsprachigen Erstklässlern nach der Einschulung, dass eine Vielzahl der sechs- bis siebenjährigen Kinder weder die Kasusregeln noch die Verbendstellungsregel im Nebensatz erworben hatten (Motsch 2009).

Diese Erkenntnisse unterstreichen, dass sich offenbar einige der bestehenden Annahmen über den vollendeten Grammatikerwerb im Vorschulalter empirisch nicht bestätigen ließen. Darüber hinaus fehlte gesichertes Grundlagenwissen über den Erwerb von grammatischen Strukturen jenseits des vierten Lebensjahres.

Ziel:

Das beschriebene Forschungsdesiderat im Bereich der grammatischen Entwicklung bildete den Ausgangspunkt für das Projekt GED 4-9. Im Rahmen einer großen multizentrischen Studie sollten repräsentative, empirisch zuverlässige Daten bezüglich des Grammatikerwerbs monolingual deutschsprachiger Kinder in der bislang kaum erforschten Lebensspanne zwischen dem vierten und neunten Lebensjahr erhoben werden.

Methode:

Die Datenerhebung war multizentrisch konzipiert und fand im Rahmen von drei koordinierten Teilprojekten in den Bundesländern Baden-Württemberg (GED 4-9 Baden-Württemberg; Leitung: AOR'in Dr. Margit Berg), Nordrhein-Westfalen (GED 4-9 Nordrhein-Westfalen; Leitung: Univ.-Prof. Dr. Hans-Joachim Motsch) und Niedersachsen (GED 4-9 Niedersachsen; Leitung: Univ.-Prof. Dr. Ulrike Lüdtke) statt.

Untersucht wurden die grammatischen Fähigkeiten von N = 968 monolingual deutschsprachigen Kindern. Die Untersuchungen erfolgten von 2013 bis 2014 in Kindertagesstätten und Schulen der drei o.g. Bundesländer.

Um repräsentative Ergebnisse zu erlangen, wurden bei der Stichprobenauswahl die Merkmale Alter, Geschlecht, Stadt/Land und Schulabschluss der Mutter berücksichtigt.

 

Im Zuge der Entwicklung des Erhebungsinstruments zur Überprüfung der grammatischen Fähigkeiten werden vorhandene Subtests des bestehenden Diagnoseinstruments ESGRAF-R (Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten; Motsch 2009) standardisiert und durch projektbezogen entwickelte Diagnostikmaterialien zur Überprüfung einzelner grammatischer Phänomene erweitert. Das daraus entstandene Erhebungsinstrument mit dem Rahmensetting „Zirkus" erlaubt eine umfassende Beurteilung folgender grammatischer Fähigkeiten: Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung im Hauptsatz, Kasusfähigkeiten (Genitiv, Dativ, Akkusativ), (Genussicherheit), Pluralbildung, Verbendstellung im Nebensatz, Passivsätze und Konjunktivsätze.

Das Diagnostikverfahren wird im Rahmen der Voruntersuchung (n = 106) erprobt und hinsichtlich testtheoretischer Parameter, wie z. B. Durchführungsgenauigkeit, Bestimmung des Schweregrads, Festlegung der Itemreihung etc. analysiert und anschließend gegebenenfalls für den Einsatz in der Hauptuntersuchung modifiziert. Die Pilotierung dient zudem der Validierung des Erhebungsinstruments durch ausgewählte Untertests bestehender Testverfahren (u.a. „Entwicklungstest Sprache 4-8 Jahre" (ETS 4-8, Angermaier 2007), „Sprachstandserhebungstest für Fünf- bis Zehnjährige" (SET 5-10, Petermann 2010), „Inventar diagnostischer Informationen bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten" (IDIS, Schöler 1999)).

Studiendesign:

Nutzen der Forschungsergebnisse:

Die erhobenen Daten schaffen erstmalig Vergleichswerte zur Beurteilung der grammatischen Entwicklung im Vorschul- und frühen Schulalter von muttersprachlich deutschen Kindern. Die bereitgestellten Normen erlauben zudem erstmals den Vergleich des grammatischen Erwerbsstandes von Kindern mit Migrationshintergrund mit dem deutschsprachiger Kinder. Das gewonnene Wissen erlangt besondere Bedeutung bei den Übergangssituationen und Schnittstellen unseres Bildungssystems - sowohl bei Sprachstandserhebungen bei Vierjährigen als auch bei Schuleingangsuntersuchungen und der damit verbundenen Entscheidung über Sprachförderbedarf. Durch die Einbindung von Studierenden in alle Phasen des Forschungsprojekts stellt das Projekt „GED 4-9“ zudem ein Beispiel für die gelungene Verzahnung von Forschung und Lehre dar. So waren an der Datenerhebung und –auswertung insgesamt 39 Studierende der Hochschulstandorte Köln, Hannover und Heidelberg beteiligt. Neben der Gelegenheit, auf diese Weise umfangreiche praktische Erfahrungen in der Sprachdiagnostik sammeln zu können, ermöglichte dies einer Reihe von Studierenden, einzelne Teilfragestellungen im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten zu bearbeiten. So entstanden an der Leibniz Universität Hannover 7 Masterarbeiten, an der Universität zu Köln 7 Examens-/ bzw. Bachelorarbeiten sowie an der pädagogischen Hochschule Heidelberg 8 Abschlussarbeiten zu Teilfragestellungen des GED-Projekts. Zwei der an der Universität zu Köln verfassten Bachelor-Arbeiten wurden mit dem dgs-Zukunftspreis 2016 ausgezeichnet (Thater, 2015; Baumeister, 2015, s.u.).



Outcome:

Ulrich, T., Thater, S. (in Vorbereitung): Kasusfähigkeiten mehrsprachiger Drittklässler in deutschen Regelgrundschulen. Eine erste Bestandsaufnahme.

Lüdtke, U., Stitzinger, U., Ulrich, T., Maus, A. & Motsch, H.-J. (in Vorbereitung): Effects of socioeconomic context factors on late grammar acquisition.

Ulrich, T.; Motsch, H.-J. (2018): Der Gebrauch des Genitivs in der deutschen Kindersprache. Forschung Sprache 6 (2), 43-55.

Ulrich, T. (2018): Ist das noch normal? Robuste empirische Daten zum Grammatikerwerb vier- bis neunjähriger Kinder. Sprachförderung und Sprachtherapie in Schule und Praxis, 7 (1), 7-14.

Thater, S. & Ulrich, T. (2018): Pluralmarkierung bei deutschsprachigen Kindern zwischen 4 und 9 Jahren. Forschung Sprache 6 (1), 44-61.

Ulrich, T. (2017): Grammatikerwerb und grammatische Störungen im Kindesalter. Ergebnisse des Forschungsprojekts GED 4-9 und ihre Implikationen für sprachdiagnostische und -therapeutische Methoden. Habilitationsschrift, Universität zu Köln. Online verfügbar unter https://kups.ub.uni-koeln.de/9011/

Baumeister, I. (2016): Genuserwerb und Prinzipien der Genuszuweisung im Deutschen. Sprache Stimme Gehör 40 (4), 193-195.

Ulrich, T., Penke, M., Berg, M., Lüdtke, U., Motsch, H.-J. (2016): Der Dativerwerb - Forschungsergebnisse und ihre therapeutische Konsequenzen. Logos 24 (3), 176-190.

Rietz, C.; Motsch, H.-J. (2016): ESGRAF 4-8. München: Ernst Reinhardt.

Rietz, C.; Motsch, H.-J. (2014): Testtheoretische Absicherung der ESGRAF 4-9. Empirische Sonderpädagogik 4, 300-312.

Motsch, H.-J., Becker, L.-M. (2014): Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder zwischen 4 und 9 Jahren (GED 4-9). Vierteljahresschrift für Heilpädagogik u.i.N. (VHN) 1, 71-73.

Motsch, H.-J. (2013): Grammatische Störungen - Basisartikel. Sprachförderung und Sprachtherapie 2 (1), 2-8.



Studentische Abschlussarbeiten zu Teilfragestellungen des GED-Projekts:
 
A) Masterthesen im GED-Teilprojekt Niedersachsen
 

Böttcher, Julia (2014): Erhebung grammatischer Fähigkeiten deutschsprachiger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren - Eine Analyse der Verbendstellungsregel in subordinierten Nebensätzen.

Gatz, Susanne (2015): Erhebung grammatischer Fähigkeiten deutschsprachiger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren im Fokus des Passivs.

Müller, Carina Marie (2015): Grammatikentwicklung im Fokus des Dativerwerbs - Eine Analyse im Rahmen des multizentrischen Forschungsprojekts „Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder zwischen vier und neun Jahren (GED 4-9)“.

Rathgeber, Katharina (2014): Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren im Fokus der Kasusmarkierung am Substantiv.

Schober, Theresa (2014): Analyse des Genitiverwerbs im Rahmen des multizentrischen Projekts „Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren (GED 4-9)“.

Strickling, Hanna (2015): Erhebung grammatischer Fähigkeiten deutschsprachiger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren im Fokus des Konjunktivs.

Thom, Katja (2014): Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren im Fokus der Pluralbildung.

 

B) Examens-/ Bachelorarbeiten im GED-Teilprojekt NRW

Baumeister, Inga (2015): Genuserwerb und Prinzipien der Genuszuweisung im Deutschen. Eine Analyse bei deutschsprachigen Kindern zwischen vier und neun Jahren.
ausgezeichnet mit dem 2. Platz des dgs-Zukunftspreises 2016

Born, Dorien (2015): Der Erwerb der Verbendstellungsregel im subordinierten Nebensatz unter besonderer Berücksichtigung der „Weil V2-Struktur“ bei deutschsprachigen Kindern zwischen vier und neun Jahren.

Heister, Laura & Kaiser, Romina (2015): Pluralerwerb - Vergleich der Leistungen von sprachunauffälligen Kindern bei Pseudowörtern und Realwörtern.

Heß, Lea Maria (2014): Der Erwerb später grammatischer Fähigkeiten- eine empirische Untersuchung zum Passiv bei vier- bis neunjährigen Kindern.

Mennicken, Sandra (2016): Der Genitiv in Präpositionalphrase und als Attribut bei deutschsprachigen Kindern zwischen 4 und 9 Jahren.

Schneider, Sonja (2015): Das Partizip Perfekt: Korrektheit und Position bei deutschsprachigen Kindern zwischenvier und neun Jahren.

Thater, Sarah (2015): Der Erwerb der Pluralmarkierung im Deutschen bei Kindern zwischen vier und neun Jahren.
ausgezeichnet mit dem 1. Platz des dgs-Zukunftspreises 2016

 

C) Abschlussarbeiten im GED-Teilprojekt Baden-Württemberg

Schneider, Sonja (2015): Das Partizip Perfekt: Korrektheit und Position bei deutschsprachigen Kindern zwischen vier und neun Jahren.

Bosky, Ramona (2016): Differenzierte Betrachtung des Genitiverwerbs bei monolingual deutschsprachigen Kindern im Alter von vier bis neun Jahren im Rahmen der Studie GED 4-9.

Brombach, Maybrit (2016): Verlauf des Genuserwerbs deutschsprachiger Kinder zwischen vier und neun Jahren.

Ezel, Pauline (2016): Der Nebensatzerwerb monolingual deutschsprachiger Kinder: Untersuchung des Zusammenhangs mit ausgewählten Faktoren aus der Studie GED 4-9.

Guhl, Carolin (2015): Differenzierte Betrachtung des Dativerwerbs bei monolingual deutschsprachigen Kindern im Alter von vier und neun Jahren im Rahmen der Studie GED 4-9.

Merz, Sabrina (2015): Der Erwerb der Genus- und Kasusmarkierung bei monolingual deutschsprachigen Kindern mit unauffälliger Sprachentwicklung im Grundschulalter. Eine empirische Untersuchung des Zusammenhanges im Rahmen der Studie GED 4-9.

Seybold, Constanze (2015): Korrektheit der Genusmarkierung als Vorläufer der Kasusmarkierung im Vorschulalter.

Vögele, Carolin (2015): Differenzierte Betrachtung des Akkusativerwerbs bei monolingual deutschsprachigen Kindern im Alter von vier bis neun Jahren im Rahmen der Studie GED 4-9.

Zlatovic, Svijetlana (2015): Qualitative Analyse des Nebensatzerwerbs bei monolingual deutschsprachigen Kindern im Rahmen der GED 4-9 Studie.


Literatur:

Angermeier, M. J. W. (2007): ETS 4-8. Entwicklungstest Sprache 4 bis 8 Jahre. Frankfurt: Pearson Assessment.

Clahsen, H. (1982): Spracherwerb in der Kindheit. Tübingen: G. Narr.

Cron-Boengler, U. (1985): Die Analyse kindlicher Satzstrukturen in den ersten 3 Lebensjahren. In: Gipper, H. (Hrsg.): Kinder unterwegs zur Sprache. Düsseldorf: Schwann, 148-170.

Leonard, L. B. (1998): Children with Specific Language Impairment. Cambridge: MIT Press.

Maiworm, B. (2008): Grammatische Fähigkeiten sprachnormaler Grundschulanfänger - Empirische Überprüfung mit der ESGRAF-Diagnostik. Diplomarbeit: Universität zu Köln.

Motsch, H.-J. (2009): ESGRAF-R. Modularisierte Diagnostik grammatischer Störungen. Testmanual und DVD. München: Ernst Reinhardt.

Petermann, F. (2010): SET 5-10. Sprachstandserhebungstest für Fünf- bis Zehnjährige. Göttingen: Hogrefe.

Popella, M. (2005): Vergleichsstudie zum Erwerb der Kasusmarkierung von Erstklässlern in Grund- und Sprachheilschulen. Diplomarbeit: Universität zu Köln.

Schöler, H. (1999): IDIS. Inventar diagnostischer Informationen bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Szagun, G. (2007): Grammatikentwicklung. In: Schöler, H., Welling, A. (Hrsg.): Sonderpädagogik der Sprache. Göttingen: Hogrefe, 29-41.