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"Sexuelle Bildung, Heterogenität & Inklusion"            

Die Tagung fand statt am 16. und 17. November 2018 an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.

 

 

Gruppenbild einiger Teilnehmer*innen der Tagung "Sexuelle Bildung, Heterogenität & Inklusion" am 16.11.2018 & 17.11.2018

 

 

 

Tagungsbericht

Martina Masurek, Claudia Nikodem

Bereits vor Beginn ließen die Begrifflichkeiten des Titels deutlich werden, dass aktuelle Diskurse der Erziehungs- und Sozialwissenschaften im Fokus der zweitägigen Tagung in Köln stehen würden. Vortragende aus Wissenschaft und Praxis gaben Einblick in (außer-) universitäre Projekte, historische und diskursive Entwicklungen in Bezug auf sexuelle Bildung und sahen sich einem engagierten und interessierten Publikum gegenüber.

Alle waren sie der Einladung von Dipl. Päd. Julia Siemoneit, Prof. Dr. Elke Kleinau, Dr. Karla Verlinden und Prof. Dr. Susanne Völker an die Universität zu Köln gefolgt. Finanziert wurde die Tagung durch die ARCUS Stiftung, einer Bürgerstiftung aus der schwul-lesbischen Community, die sich besonders für gemeinnützige Initiativen zur Akzeptanz- und Selbsthilfeförderung einsetzt, weiter vom Kompetenzfeld VI „Soziale Ungleichheiten und Interkulturelle Bildung“ (SINTER) der Exzellenzinitiative der Universität zu Köln, das seine Aktivitäten auf die interdisziplinäre Erforschung der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten richtet sowie durch die Graduiertenschule „Managing Diversity & Transition“ der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.

In ihrem Eröffnungsvortrag Sexuelle Bildung als eine „Antwort“ auf Heterogenität und Inklusion? unternahm Prof. Dr. Antje Langer (Universität Paderborn) den Versuch, die Begriffe und die dahinterliegende Programmatik von sexueller Bildung, Heterogenität und Inklusion in Korrelation zu setzen. Bezugnehmend auf Foucault stellte sie die Frage, durch welche diskursiven Bezugnahmen sich etwas zu einem ‚Problem‘ konstituiere. Übersetzt auf die Thematik der sexuellen Bildung könne gefragt werden, worauf sexuelle Bildung eine Antwort sei. Betrachte man sexuelle Bildung aus einer professionsgeschichtlichen Perspektive, so wurde sie lange als eine defizitorientierte, sexuelle Aufklärung verstanden. Wenn sexuelle Bildung dem Menschen die Hinwendung zu einer sexuellen Identität ermöglichen möchte, so müsse zum einen die Zielgruppe der sexuellen Bildung erweitert und sich zudem vom Gefahrendiskurs verabschiedet werden. Darüber hinaus bedarf die Bildung einer selbstbestimmten Lust und Sexualität sexuell gebildeter Lehrenden und Pädagog_innen. Weiter diskutierte Langer in ihrem Beitrag die Schwierigkeit, die unterschiedlichen Begrifflichkeiten von Heterogenität und Inklusion zusammenzudenken. Während Heterogenität das Recht auf Unterschiedlichkeit skizziere, sei Inklusion mit dem Recht auf Gleichheit verbunden; beides Themen, die in der sexuellen Bildung höchste Brisanz erführen. Sexuelle Bildung muss sich – so Langer –  bewusst sein, dass Sexualität ein machtbesetzter, in Hierarchien eingebundenes, politisches Phänomen sei und gleichzeitig Menschen die Möglichkeit einer lebenslangen lustvollen Sexualität eröffnen.

Nach diesem Einstieg, der den Titel der Tagung präzise fokussierte, eröffnete der Kieler Professor für Sexualpädagogik Uwe Sielert das erste Panel, in dem die Bildungsgeschichte und theoretischen Zugänge in zwei Beiträgen in den Blick genommen wurden. Sielert führte die Zuhörenden in seinem Vortrag Vom Repressions- zum Bildungsdiskurs: Metamorphosen der Sexualpädagogik durch die Geschichte der Sexualpädagogik. Vor dem Hintergrund eines Lehr-Forschungsprojekt, das er gemeinsam mit Studierenden der Universität zu Kiel durchgeführt hatte, zeichnete er die „gelebte Geschichte“ der Sexualpädagogik, beginnend mit dem ‚Repressionsdiskurs‘ der 50er Jahre, über den ‚Befreiungsdiskurs‘ bis hin zum ‚Bildungsdiskurs‘ der Gegenwart nach. Besonders interessant war dabei zu sehen, in welchen Disziplinen und von welchen Akteur_innen dieser Diskurs mitbestimmt wurde:  Waren es in den 50er Jahren die Leitwissenschaften der Theologie und der Medizin, die sich mit dogmatischen und evangelikalen Antionanie-Netzwerken verbündeten, wurde der Befreiungsdiskurs der späten 60er und 70er Jahre  von sehr differenten Akteur_innen geführt. Das Ziel einer Dekonstruktion der normativ aufgeladenen Sexualität und die Kämpfe um Anerkennung von marginalisierten Sexualitäten war durchaus mit sexuellen Grenzüberschreitungen verbunden, die vor allem in Verbindung zwischen dem Sexualpädagogen Helmut Kentler und der Pädosexuellenbewegung standen.

Prof. Dr. Barbara Rendtorff (Universität Paderborn) zeigte in ihrem inspirierenden Vortrag Sexuelle Bildung und Geschlecht. Blinde Flecken im Diskurs die Anforderungen auf, die unter psychoanalytischen Bezugnahmen an sexuelle Bildung gestellt werden. Herausfordernd sei, dass sexuelle Bildung an der Selbstermächtigung der Individuen anzusetzen habe und mit der Schwierigkeit verknüpft sei, dass eine angemessene verbale Artikulation von Sexualität – ein wahrhaftiges Sprechen über sexuelles Erleben, über Scham, Schuld und sexuelle Gefühle – nahezu unmöglich ist. Vieles bleibe unsagbar. Sexuelle Bildung, so Rendtorff, dürfe die unterschiedlich historisch gewachsenen, körperbezogenen Hierarchien nicht außen vor lassen: Die in das Körpergedächtnis der Individuen eingeschriebenen Vorstellungen über das Sexuelle, die an den weiblichen Körper gebundene Hingabe und sexuelle Lust, die erst durch den Ehemann ‚geweckt‘ werde; das männliche Genital, das den Überlegenheitsimperativ symbolisiere, gleichzeitig aber durch seine ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Vergleichbarkeit‘ offen für Beschämung liege. Rendtorffs Überlegungen lassen sexuelle Selbstermächtigung als eine Illusion erscheinen.

Im Zentrum des zweiten Panels Sexuelle Bildung in pädagogischen Institutionen plädierten zunächst Dr. Jeannette Windheuser und Anna Hartmann (beide Bergische Universität Wuppertal) für eine sexuelle Bildung angehender Lehrer/innen an der Universität. Im Lehramtsstudium müsse zum einen die Auseinandersetzung mit sexueller Bildung als Phänomen mit seiner geschichtlichen Gewordenheit berücksichtigt, zudem Kenntnisse zur Geschlechterforschung und feministischen Theorien bereitgestellt und weiter forschungsgeleitete Bildung ermöglicht werden. Auf diese Weise würden angehende Lehrpersonen dazu befähigt, ihr eigenes pädagogisches Handeln reflektieren und begründen zu können. Der universitäre Professionalisierungsprozess werde insbesondere durch die generationale und geschlechtliche Differenz vor Herausforderungen gestellt. Dies veranschaulichten die Vortragenden anhand einer teilnehmenden Beobachtung, die im Rahmen einer Exkursion mit Studierenden zu Pro Familia angefertigt worden war.

Anschließend stellten Maria Urban (Hochschule Merseburg) und Dr. Sabine Wienholz (Universität Leipzig) das Verbundprojekt SeBiLe – Sexuelle Bildung für das Lehramt vor, das im Februar 2018 unter der Leitung von Prof. Dr. Barbara Drinck (Universität Leipzig) und Heinz-Jürgen Voß (Hochschule Merseburg) startete. Inner- und außeruniversitärer Akteur_innen, gehen hier gemeinsam der Frage nach, wie mit angehenden Lehrpersonen zum Thema sexuelle Bildung gearbeitet werden kann. Zunächst verdeutlichten die Wissenschaftlerinnen die „marginal präventive“ Wirkung von Schule, die trotz rechtlich-politischer Rahmungen zu beobachten sei. Zudem sei das Themenfeld nicht in ihrer Ausbildung von Lehrpersonen zu finden, obschon praktizierende Lehrer_innen einen hohen Bedarf an sexualpädagogischen Kompetenzen formulieren. Hier setzt das Projekt an und hat neben der Entwicklung und Implementierung eines inklusiven Curriculums für alle Lehramtsstudiengänge der Universität Leipzig (mit den Schwerpunkten sexuelle Bildung, Prävention vor sexualisierter Gewalt und Förderung sexueller Selbstbestimmung) ein entsprechendes Weiterbildungsangebot für Lehr- und Führungskräfte in Sachsen und Sachsen-Anhalt zum Ziel.

Unter der Überschrift Forschendes Lernen im Kontext von sexueller Bildung folgten Projektvorstellungen von Prof. Dr. Elke Kleinau, Prof. Dr. Lisa Rosen und Dipl. Päd. Julia Siemoneit (alle Universität zu Köln). Indem sie die angeleitete Reflexion angehender Professioneller in den Fokus nahmen, widmeten sie sich der Schwierigkeit des Selbstermächtigungsdiskurses. In ihrem Projekt „Let´s talk about Sex – Sexuelle Vielfalt, schulische Sexualerziehung und forschendes Lernen in der LehrerInnenbildung“ setzen Elke Kleinau und Lisa Rosen (wissenschaftliche Leitung der "Heliosschulen - Inklusive Universitätsschulen der Stadt Köln") in zwei aufeinanderfolgenden Seminaren Forschendes Lernen als professionalisierende Strategie ein. Ziel des Lehrangebots war, den Studierenden der Bachelorstudiengänge Bildungs- und Erziehungswissenschaften einen Raum zu eröffnen, der es ihnen ermöglichte, eigene Haltungen einer reflexiven Kontrolle zugänglich zu machen und normativ heterosexuelle Geschlechterverhältnisse kritisch zu hinterfragen. Dafür setzten die Professorinnen neben Lehr-Lern Settings das Peer-Learning als Reflexionsmöglichkeit ein und leiteten die Veranstaltungen im Team-Teaching. Dabei stellte den Vortragenden zufolge das Herausarbeiten struktureller Aspekte eine Herausforderung dar und es bleibt offen, inwiefern sich nachhaltige Verhaltensänderungen bei den Studierenden einstellen konnten. Als Ausblick formulierten die Referentinnen den Appell, sexuelle Bildung im Kontext inklusiver Schulentwicklung mitzudenken.

Julia Siemoneit gab einen Einblick in die Entstehung des Lehr- Lernformates Inklusive sexuelle Bildung angehender Pädagog_innen. Mithilfe der qualitativen Forschungsmethode der Autoethnografie eröffnete sie den Studierenden die Möglichkeit, persönliche von soziokulturellen Erfahrungen zu unterscheiden. Auf der Grundlage der individuellen Geschichte konnte Sexualität somit als sozial verhandelter Gegenstand sichtbar und die Autoethnografie als möglicher Beitrag zur (sexual-)pädagogischen Professionalisierung verstanden werden. Daran anschließend diskutierte die Vortragende die Möglichkeiten, Grenzen und Voraussetzungen Autoethnografie als Methode für die Universitätslehre zum Thema sexueller Bildung einzusetzen. Abschließend nahm Julia Siemoneit die Schwierigkeit in den Blick, dass Selbstreflexion als Teil pädagogischer Professionalisierung nicht dem „traditionellen“ Bild von Universitätslehre entspreche und daher sowohl für Studierende, als auch für Lehrende eine Herausforderung darstellt.

Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag von Prof. Dr. Meike Sophia Baader und Dr. Jan Henrik Friedrichs (beide Stiftung Universität Hildesheim) Von der Pädophilie zum sexuellen Missbrauch im Diskurs der Wissenschaften seit 1970. Perspektiven der Forschung. Ausgehend von den drei Orten und Foren der Wissensproduktion – Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften und Soziale Arbeit – untersuchten sie die Involviertheit der Wissenschaft in pädosexuelle Diskurspositionen der 60er-90er Jahre und der Legitimation von Pädophilie, sowie den Wandel des Diskurses von der Pädophilie zum sexuellen Missbrauch: Im Rahmen der Sozialwissenschaften war in den 60er/70er Jahren eine Normalisierung von Pädophilie und eine Täter-Opfer-Umkehr zu beobachten. Vor dem Hintergrund des Interesses, die (Un)Schädlichkeit „gewaltfreier und einvernehmlicher“ pädosexueller Kontakte aufzuzeigen, wurde das generationale Verhältnis negiert und das Kind als sexuell verführend dargestellt. Pädophile Männer erschienen somit als ‚Opfer‘ von Stigmatisierungen, indem das Machtverhältnis zwischen den Generationen ignoriert und Kindern unterstellt wurde, sie könnten „nein“ sagen. Auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs ließen sich Normalisierungsprozesse beobachten, wenn unter der Überschrift des „endlich fälligen Tabubruchs“ in der Zeitschrift „betrifft: erziehung“ von 1967, die Häufigkeit der Vorfälle sexuellen Missbrauchs an Mädchen als Rechtfertigung für ihr Vorkommen herangezogen wurde. Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Abschaffung körperlicher Züchtigung in der Erziehung (1973) wurden Pädophile als diejenigen stilisiert, die Kinder in einer Welt voller struktureller Gewalt ‚wirklich liebten‘ (vgl. Döpp, päd extra 7/79). Die Erziehungs- und Sozialwissenschaften zeigten sich in der Untersuchung von Baader und Friedrichs somit als Räume, in denen Pädophilie positiv besetzt war. Erst Anfang der 1980er Jahre und auf der Grundlage der feministisch geprägten Gewaltdebatte der 1970er Jahre wurde im Rahmen der Sozialen Arbeit die Begrifflichkeit des sexuellen Missbrauchs im Unterschied zur Pädophilie verwendet. Hier ging es nicht mehr um die Frage nach der Schädigung, sondern um die Verletzung sexueller Selbstbestimmung. War der Pädophiliediskurs ausschließlich in Fachzeitschriften angesiedelt und nahezu ausschließlich von Männern initiiert, so wurde die Thematik des sexuellen Missbrauchs im Rahmen von Weiterbildungen und Theaterstücken sichtbar gemacht und Frauen meldeten sich als Autorinnen zu Wort. Macht- und Geschlechterverhältnisse kamen in den Blick und erstmals wurde sexueller Missbrauch als Ausdruck patriarchaler Machtverhältnisse gedeutet. Abschließend verdeutlichten Baader und Friedrichs die Involviertheit der Wissenschaft am Beispiel des Plädoyers für die Abschaffung der Schutzaltersgrenze, das 1977 von Michel Foucault, René Schérer und Guy Hocquenghem formuliert worden war.

Am zweiten Tag widmeten sich die Vortragenden des dritten Panels der Thematik Sexuelle Bildung und Behinderung. Anne Klein von der Universität zu Köln eröffnete das Panel,  indem sie sich mit sexueller Bildung im biopolitischen Zeitalter beschäftigte. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen waren die Disability Studies, in denen die Frage der Selbstbestimmung seit der „Krüppelbewegung“ und dem sogenannten „Krüppeltribunal“ mit all den implizierten Ambivalenzen thematisiert wurde. Eine sexuelle Selbstbestimmung in Zeiten biopolitischer Anrufungen und Machtprozesse werde insbesondere für Menschen mit Behinderung nahezu verunmöglicht; Eltern-Werden-Können scheine in der Logik der Biopolitik ausgeschlossen. Anne Klein argumentierte aus einer Menschenrechtsperspektive heraus, dass die allgegenwärtige genetische Diskriminierung, die Menschen mit Behinderung erfahren, Teil des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes werden müsse.

Prof. Dr. Svenja Heck (Hochschule Darmstadt) knüpfte mit ihrem Beitrag an den theoretischen Ausführungen ihrer Vorrednerin an  und konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf Sexualität und geistige Behinderung. Sexualität als menschliches Grundbedürfnis könne von Menschen mit geistiger Behinderung kaum – selbstbestimmt – gelebt werden, insbesondere dann, wenn sie in Abhängigkeit von Eltern oder anderen Betreuenden leben. Eingeschränkte Rückzugsmöglichkeiten, fehlende Mobilität, fehlende Aufklärung, die Tabuisierung einer möglichen Elternschaft und eine infantilisierende Zuschreibung erschwerten und verunmöglichten Sexualität. Als positive Anlaufstelle benennt Svenja Heck das Mainzer Projekt LIEBELLE, eine Beratungs- Bildungs- und Forschungsstelle zu den Themen Sexualität und geistige Behinderung. Ziel sei es, die von Eltern und Pädagog*innen wahrgenommene Bedrohlichkeit von Sexualität im Kontext von Behinderung zu verringern.

Katharina Urbann (Universität zu Köln) gilt als eine der wenigen Expert_innen im Themenkomplex der sexualisierten Gewalt bei gehörlosen Menschen. In ihrem Vortrag gelang es ihr, den Zuhörenden das Verhältnis zwischen einer hörenden dominanten Gesellschaft und den daraus resultierenden Machtverhältnissen zu vermitteln. Nicht-Hören, so Katharina Urbann, trenne von den Menschen und der Kommunikation. Ein Wissen über Sexualität, wie sie von Hörenden auch beiläufig im Alltag erfahren werde, sei für Gehörlose nicht gegeben. Der Zugang zu einer sexuellen Aufklärung, die als minimale Basis für eine sexuelle Bildung gesehen werden müsse, bleibe durch die Sprachbarrieren erschwert.  Sexualisierte Gewalt –  sowohl in als auch außerhalb der Gehörlosencommunity – sei gerade deshalb ein eklatantes Problem. Katharina Urbann ist diesem Phänomen in ihrer Dissertation nachgegangen und konnte das innovative Präventionskonzept STARK MIT SAM vorstellen, das sich an Kinder mit Beeinträchtigungen richtet.

Das vierte Panel Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt eröffnete Prof. Dr. Elisabeth Tuider (Universität Kassel) mit ihrem Vortrag Sexualität und Macht. Zur Diskursivierung sexueller Vielfalt. Sexuelle Vielfalt, so Tuider, sei in der Gesellschaft angekommen. Jenseits von monogamen Dauerbeziehungen seien Menschen durchaus in der Lage sowohl geschlechtliche als auch sexuelle Präferenzen unterschiedlich auszugestalten. Gerade aber diese gelebten postessentialistischen Vorstellungen von Geschlecht, verbunden mit einer sexuellen Liberalisierung, führten laut Tuider dazu, dass Sexualität im Sinne eines biopolitischen Sexualitätsdispositivs zu einem diskursiven Kampffeld geworden sei. Tuider zeigte in ihrem Beitrag, wie die Angriffe zunächst die schulische Sexualerziehung, im weiteren Verlauf auch die Gender Studies, zum Ziel hatten.  Auf perfide und manipulative Weise instrumentalisierten „besorgte Eltern“ und rechte Gruppierungen sexualisierte Gewalt, indem die Figur des „unschuldigen Kindes“, das durch sexuelle Bildung seine Unschuld verliere, omnipräsent werde. In Anlehnung an Butlers Begriff des Hatespeech würden fachliche Erkenntnisse ignoriert und eine gesellschaftliche Angst vor sexueller Bildung und den Gender Studies geschürt, um die Dominanz einer heteronormativen Gesellschaft zu stärken.

Es folgte die Projektvorstellung von Prof. Dr. Maureen Maisha Auma (Hochschule Magdeburg-Stendal) Sexualpädagogisches Empowerment für Schwarze Menschen und People of Color – intersektionale, rassismuskritische, traumainformierte Selbstbildungsansätze der Berliner SEEDS Collective. In dem seit Herbst 2017 bestehenden Projekt ist die Frage leitend, wie empowernde Sexualpädagogik von/mit/für Black and People of Color (BPOC) aussehen. Dabei knüpft eine erste inhaltliche Orientierung an das Konzept der Decolonizing Sexualities an und fokussiert  einen sex- und body-positiven Zugang von QTI*BPoC. Ziel sei es, sexualpädagogisches Wissen und Handeln aus der Perspektive von BPOC in Deutschland zu formulieren und didaktisches Material zu erstellen – es handelt sich somit um eine Akteur*innen Perspektive, die der Beobachtung Rechnung trägt, dass sexualpädagogische Ansätze meist an weiße, deutsche Personen adressiert und an ihre Lebenswirklichkeit angepasst sind. In der anschließenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass der Vernetzung aufgrund des Selfothering eine zentrale Funktion zukomme.

Mit ihrem programmatischen Vortrag Nicht-diskriminierende Sexualpädagogik mit Fokus auf geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt schloss Katharina Debus (dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.) an die Überlegungen ihrer Vorgängerin an, indem sie Möglichkeiten und Anforderungen einer nicht-diskriminierenden Sexualpädagogik aufzeigte. So sollte sie altersgerecht ausgerichtet sein und berücksichtigen, dass sexuelle Praktiken von Alter und ‚Gruppe‘ abhängig sind. Weiter solle sie Vielfalt als Spektrum sichtbar machen, um vielfältigen Bedarfen Rechnung zu tragen und Ausgrenzungen zu vermeiden. Das Bereitstellen von Informationen über verschiedene Optionen von Fortpflanzung, verschiedene Körperlichkeiten und deren sexuelle Möglichkeiten, sowie Anlaufstellen stelle eine weitere Anforderung an nicht-diskriminierende Sexualpädagogik dar. Bezogen auf das zwischenmenschliche Miteinander, bedürfe es Debus zufolge der Förderung respektvoller und grenzenachtender Kommunikationskompetenz, der Unterstützung eines guten Gefühls für den eigenen Körper, der Reflexion über eigene Wünsche und Ängste, sowie der Stärkung des kompetenten Umgangs mit Risiken und anonymen Frage-Optionen.

Da Dr. Sara-Friederike Blumenthal (Alpen-Adria Universität Klagenfurt) leider nicht an der Tagung teilnehmen konnte, bildete der Vortrag von Maite Dittmann (Clearinghaus Porto Amāl, Mädchenhaus Bielefeld e.V.) Sexualpädagogik und Körperwissen – Sexualpädagogisches Konzept für die Arbeit mit geflüchteten Mädchen und jungen Frauen das fünfte und letzte Panel der Tagung: Sexuelle Bildung, Flucht und Migration. Sie berichtete von der seit März 2018 stattfindenden Projektarbeit und der Entwicklung des Aufklärungskonzepts, das sie im Rahmen des Clearinghauses Porto Amāl anbietet. Die Mädchen erhalten hier die Möglichkeit, sich im Rahmen eines freiwilligen Gesprächsangebots zu den Themen Geschlechtsidentität, -organe, FGC, Menstruation, Schwangerschaft, Verhütung und selbstbestimmte Sexualität mit Frau Dittmann auszutauschen. Ausgangspunkt für dieses Angebot waren häufige Nachfragen der Mädchen und ihr geringes Wissen über Körper(lichkeit), sowie die Erfahrung, dass bestehende sexualpädagogische Angebote keinen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Mädchen haben. So gebe es beispielsweise kaum Materialien, die nicht Weiße Haut zeigen oder Beschneidung thematisieren. Dieser Vortrag gab vor dem Hintergrund der Ausführungen von Katharina Debus einen Einblick in die Herausforderungen, die sich bei der Konzeption eines nicht-diskriminierenden sexualpädagogischen Angebots zeigen und gleichzeitig deutlich machen, wie wichtig dieser Blick für sexualpädagogische Bildungsarbeit ist.

Die Kindergartenbox der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), die zudem während der Tagung ausgestellt wurde, stellte Mirjam Tomse (BzgA) vor. Unter dem Titel Wege einer inklusiven Sexualerziehung für Kinder im Vorschulalter am Beispiel der Kindergartenbox „Entdecken, schauen,  fühlen!“ erläuterte sie die einzelnen Bestandteile und das Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung. Anhand von Puppen mit explizit genähten Geschlechtsorganen (so bestehe beispielsweise die Vulva nicht mehr nur aus einer Naht, sondern verfüge auch über Schamlippen), Bildkarten und DVD-Material soll Kindern ein handlungsorientiertes Lernen ermöglicht, gleichzeitig vertraute Bezugspersonen einbezogen und Erzieher*innen Fach-, Methoden- und Selbstkompetenz vermittelt werden. Besonderes Augenmerk bei der jüngsten Überarbeitung der Kindergartenbox sei auf die inklusive Einbettung des Themas gelegt worden, weshalb auch Kinder mit Behinderungen in den Materialien immer wieder sichtbar gemacht und thematisiert werden.

Die Tagung endete mit einer zusammenfassenden Betrachtung der Beiträge durch Dr. Karla Verlinden und Julia Siemoneit (beide Universität zu Köln), sowie einer Abschlussdiskussion. Es ließen sich mehrere Themen benennen, die es weiterzudenken gilt: Zunächst stellte sich im Rahmen des Selbstermächtigungsdiskurses, der einerseits das Empowerment der Klient*innen von sexualpädagogischen Angeboten und andererseits die Professionalität (sexual-)pädagogisch Handelnder in den Blick nimmt, die Frage, welchen Raum die Universität der „Professionalisierung“ von Biographie geben kann und will. Zudem wurde erneut das Spannungsverhältnis zwischen Otheringprozessen und dem Versuch, spezifische Bedarfe sichtbar zu machen und auf sie zu antworten, aufgezeigt. Auch die historische Betrachtung des Diskurses um sexuelle Bildung wurde hervorgehoben und seine ständige gesellschaftliche Problematisierung angesprochen. Als eine von der Wissenschaft noch unbeachtete Zielgruppe sexueller Bildung wurde auf Erwachsene und alte Menschen aufmerksam gemacht – im Rahmen von Fortbildungsangeboten ließe sich hier bereits eine große Nachfrage beobachten. Abschließend wurde der Wunsch nach einem ganzheitlichen Verständnis von Sexualpädagogik formuliert, das die Befähigung in Liebes- und Beziehungsfragen zum Ziel habe.

Das vielfältige Tagungsprogramm ließ deutlich werden, dass sexuelle Bildung endlich als Thema in den Fokus universitärer Forschung und Lehre gerückt ist. Zudem diente die Tagung als hervorragende Plattform, um den Austausch zwischen theoretisch und praktisch Tätigen zu beflügeln, indem sich wissenschaftliche Beiträge mit Erfahrungsberichten aus der Praxis und lebhaften Diskussionen abwechselten. Die Teilnehmenden gingen am Ende der zwei Tage inspiriert, motiviert und mit dem Wunsch nach mehr Veranstaltungen wie dieser auseinander.