Aus: Reinhard Schneider (Hg.): Anthropologie der Musik und der Musikerziehung. Regensburg 1987 (=Musik im Diskurs Bd. 4)

© 1987 by Gustav Bosse Verlag GMbH & Co. KG, Regensburg

REINHARD SCHNEIDER

ZUR AKTUALITÄT DER ANTHROPOLOGIE

Zu Beginn eine bedrängende Einsicht: Musik ist aus den Randbezirken des gesellschaftlichen Lebens ins Zentrum gerückt. Musikfreie Lebenszonen werden immer seltener. Musik ist zu einem Überall gegenwärtigen und alltäglichen Phänomen geworden. Sie rückt dem Menschen - wie nie zuvor - aufs Trommelfell, ja auf den ganzen Leib, mit vermutlich schwerwiegenden und langfristigen Folgen für Körper, Geist und Gemüt. Dieser nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft bedeutsame Prozeß hat schon seit langem die Aufmerksamkeit der Musikpsychologie, Musiksoziologie und Musikpädagogik gefunden und zu einer großen Anzahl empirischer Untersuchungen, pädagogischer Konzepte und kulturkritischer Kommentare geführt.

Die gesellschaftliche Situation der Musik zwingt die Frage aufs Grundsätzliche, ohne Hoffnung, so ist zu vermuten, auf eine Antwort in Grundsätzen. Die mit der Musik aufgegebene anthropologische Problematik ist aus den Bindungen der tradierten, weltanschaulichen Selbstverständlichkeiten erlöst worden und in neuer Art und Weise zum Bewußtsein der wissenschaftlich Forschenden und musikpädagogisch Handelnden gelangt.

Darin macht sich eine Tendenz bemerkbar, die für die Geistesgeschichte seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnend ist: Anthropologie ist auch immer eine Reaktion auf krisenhafte Situationen gewesen. Dies trifft besonders auf die Entstehung der philosophischen Anthropologie in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts zu. Sie scheint deshalb auf das musikpädagogische Bewußtsein zugeschnitten zu sein, denn man kann ohne Übertreibung über die Musikpädagogik mit einem ursprünglich auf das Theater bezogenen Bonmot sagen: Seit es Musikpädagogik gibt, gibt es eine Krise der Musikpädagogik.

Die musikalische Offensive auf das schutzlose Ohr mit dem Ziel, das Gemüt willfährig zu machen, ist ein Problem, das anthropologische Fragen provoziert. Auch der umgekehrte Vorgang, daß avancierte Musik auf taube Ohren trifft, ist ein Phänomen, das anthropologisch zu denken gibt. Sowohl der massenpsychologisch kalkulierte Einzug ins Ohr als auch die individualpsychologisch begründete oder begründete Verweigerung der akustischen Eingänglichkeit verweisen darauf, daß die Verfassung des Menschen keine konstante, sondern eine historisch bedingte Struktur mit vielen Variablen ist - Der Mensch ist zugleich ein schaffendes wie ein geschaffenes Wesen, er ist Gebender und Empfangender. Diese Dialektik läßt sich ausführen, ohne daß man auf Bestimmungsmomente außerhalb der Anthropologie zurückgreifen muß, denn die eben genannten vier Momente sind lediglich allgemeine Charakteristika des Menschen als Kulturwesen.

Die Aktualität der Anthropologie für die Musikerziehung und die Musikwissenschaften leitet sich zu einem guten Teil aus jener Aufmerksamkeit für die kulturelle Sphäre des Menschen ab. Die Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat, indem sie die Natur des Menschen in den Blick gerückt hat, seine Kulturbedürftigkeit ans Licht gebracht: Der Mensch ist von Natur auf Kultur angewiesen, eine Kultur ist seine natürliche Lebenswelt.

Herder hat diese künstliche Natürlichkeit der menschlichen Lebensweise schon 1784 in seinen 'Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' als anthropologische Grundfigur ausgeführt und auf die charakteristische Formel gebracht, daß der Mensch eine "lebendige Kunst' sei: Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf; denn durch ihn, die erste und schwerste Kunst, die ein Mensch lernet, wird er eingeweihet, alle zu lernen und gleichsam eine lebendige Kunst zu werden." (1)

Die Geschichte der Musik ist zu einem erheblichen Teil eine Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur, mit der Natur des Klingenden, mit Vorstellungen über Natur und Natürlichkeit. Musik ist dabei in unserer Zeit in eine eigenartige Dialektik der Natur hineingezogen worden, wobei das seit langen Zeiten relativ beständige Verhältnis mit weitreichenden anthropologischen Konsequenzen verändert wurde.

Mauricio Kagel hat vor kurzem in einer Rede zur Eröffnung der Neuen Kölner Philharmonie über das Verhältnis von Musik und Natur nachgedacht und dabei ein geistreiches, wenn auch nicht widerspruchsfreies Lehrstück zustandegebracht. Er läßt die Musik aus der Weigerung der Natur entstehen, in kompositorischer Hinsicht tätig zu werden: "Und doch ist die 'Weigerung' der Natur, den Lauf der hörbaren Dinge im Sinne der musikalischen Komposition zu beeinflussen, nur begrüßenswert, weil sie dadurch eine akustische Ebene ermöglicht, eine künstlerische und natürliche zugleich, die imstande ist, als Musik eine vielfältige Rolle in unserem Leben zu spielen." (2)

Die Geburt der Musik nicht im Schoß, sondern in einer Nische der Natur legt die Vermutung ihrer anthropogenen Zeugung nahe.

Aber folgen wir Kagel noch einige Augenblicke: Er begreift die Musik also nicht als einen Gegensatz zur Natur, sondern als ihre "selbstverständliche Ergänzung". Heute sei nun der Zustand erreicht, daß die in der Musik konservierten akustischen Naturerlebnisse - er verweist auf Beethovens Pastorale - für viele Hörer "zur seltenen Naturerfahrung überhaupt geworden seien". Die Gedankenführung Kagels wird nun spannender, und ich will ihn wörtlich zitieren: "Die Deutung der Ereignisse unter freiem Himmel in musikalischen Abläufen, die man hauptsächlich mit einem Dach über dem Kopf hören sollte, hat die Sehnsucht nach einer Musik erweckt, die latent in Konkurrenz zur Wirklichkeit steht. Darüber hinaus ist Musik für außerordentlich viele Menschen kein Ersatz, sondern primär ein Ausdruck unerläßlicher Natur geworden. Mit anderen Worten: Musik als die erste akustische Natur schlechthin. Somit wäre sie unersetzbar und eine notwendige Realität. Man müßte sie eigentlich unter Naturschutz stellen." (3)

Obwohl die Kagelsche Diktion eine atemberaubende Logik aufweist, allen neopositivistischen Sprachregelungen trotzend und eher an den tonalen Logos oder an die Eleganz älterer Gottesbeweise erinnernd, ist die Forderung eines Naturschutzes für die Musik auf die kulturelle Wirklichkeit unserer Zeit durchaus zu beziehen, aber anders vielleicht als Kagel dies intendiert hat. Es scheint in der Tat so zu sein, daß Musik als alltägliches Phänomen zu einem unverzichtbaren Bestandteil der natürlichen Umwelt vieler Zeitgenossen geworden ist, als akustische Höhle allgegenwärtig und für die psychische Stabilität, Ausgeglichenheit und als Kompensation für geistig-seelische Unter- wie Überforderung notwendig. Und kann man nicht andererseits die unablässigen Bemühungen vieler zeitgenössischer Komponisten um die humane Substanz der Musik unter Aussparung der eben angedeuteten quasi natürlichen Funktionen und Formen der musikalischen Bedürfnisbefriedigung als Naturschutzmaßnahmen verstehen?

Die Geltung der Musik als Kunst, die Institution Kunst und die ihr zugeordnete Pädagogik haben in der Gegenwart viel von ihrer fraglosen Selbstverständlichkeit verloren. Man hat nicht nur entdeckt, daß es sich um historische Strukturen und Konzepte handelt, sondern auch in aufklärerisch-kritischer Absicht nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft gefragt. Die Kunst ins Leben zu entlassen, sie aus ihrem vermeintlichen Getto zu befreien, war und ist eine These, die nicht nur eine kulturkritische Spitze hat, sondern auch anthropologische Annahmen über Musik und Kunst impliziert. Obwohl den hier zu nennenden kritischen Zeitgenossen keineswegs eine Wende zur Anthropologie nachgesagt werden kann, haben sie mit der Relativierung traditioneller ästhetischer Positionen die anthropologische Bedeutung der Musik ans Licht geholt, wenn auch in indirektes Licht gerückt.

Aber nicht nur die extremen Pole der gegenwärtigen Musikszene verlangen nach einer anthropologischen Aufhellung, auch die Rock- und Popmusik, die neue musikalische Mitte, diese globale Zusammenfassung sei mir hier erlaubt, nachdem ich vorhin global von avanvierter Musik gesprochen habe, also auch Rock- und Pop-Musik führen zu Fragen - an der historischen Musikwissenschaft vorbei - nach der anthropologischen Substanz und Funktion von Musik. Die in diesem Bereich der Musik vollzogene Wende zur Lebenswelt (der Jugendlichen) und die Betonung funktionaler Gesichtspunkte in Musikpädagogik und Musikwissenschaften ist in vielen Fällen mit anthropologischen Thesen verknüpft, ohne daß dies immer bewußt oder expliziert wird. Die Erforschung musikalischer Lebenswelten als Voraussetzung für sinnvolles pädagogisches Handeln wiederholt sozusagen die Gedankengänge, die in der Vergangenheit zu anthropologischen Schüben in der Philosophie geführt haben, unter Abkehr von der Geschichtsphilosophie. Eine weitere Ähnlichkeit ist bemerkenswert: Die musikpädagogische Hinwendung zur musikalischen Lebenswelt führt bei einigen Protagonisten dieser Tendenz zu schroffer Abkehr von teleologischen Perspektiven in der Musikerziehung: Musikalische Bildung wird nicht zum Ziel, sondern zum Problem erklärt.

Die Öffnung der Musikerziehung zum Musikleben der Gegenwart und die Integration schulischen und öffentlichen Musiklebens werden aber nicht nur auf dieser Ebene betrieben. Auch unter dem Stichwort der "Entschulung der Schulmusik" (Ehrenforth) wird eine anthropologisch motiviertere Form der Musikpädagogik gefordert, allerdings ohne die angedeuteten kulturkämpferischen Positionen.

Das Selbstverständnis einer Rock- und Popmusikdidaktik findet in dem Lebensweltgedanken ebenso eine tragfähige Stütze, wie auch die sogenannte handlungsorientierte Musikpädagogik, obwohl dies auf den ersten Blick nicht so deutlich wird. Die Konzeption ist jedoch auf einen anthropologisch gefaßten Handlungsbegriff gegründet, der, um ihn für musikphilosophische und musikpädagogische Zwecke brauchbar zu machen, weitgehend entspezifiziert und gedehnt werden mußte. wie in der allgemeinen Anthropologie, die Konzeption von Gehlen ist hierfür ein Beispiel, reicht allerdings eine auf dem Handlungsbegriff fußende Konzeption an die ästhetischen Kernprozesse, die in wenn auch noch so rudimentärer Form den Mittelpunkt von Musikunterricht ausmachen müssen, kaum heran.

Das Modell einer erfahrungserschließenden Musikerziehung zeigt die wohlwollenden Züge einer anthropologisch ambitonierten Pädagogik schon im Etikett an. Der Begriff der Erfahrung hat, obwohl theoretisch nicht zur Zufriedenheit geklärt, oder gerade deswegen, als sogenannter gelebter Begriff Karriere gemacht - beispielhaft kann man hier die Konjunktur der Selbsterfahrungsgruppen in der gegenwärtigen Pädagogik und Psychoszene anführen. Seine theoretische Unbestimmtheit macht unter anderem seine musikpädagogische Brauchbarkeit aus und verweist damit zugleich auf ein grundsätzliches Problem der Musikpädagogik, nämlich ihren Mangel an Terminologie, gerade in ihrem eigentlichen Kernbereich. Hier liegt wiederum ein Grund für die Infektionsanfälligkeit der gesamten Zunft. Ich will nun versuchen, die genannten Problembereiche stärker in Richtung auf eine anthropologische Forschung zu zentrieren: Um die musikalische Physiognomie der Gegenwart zu deuten, wissenschaftlichen Rat und praktische Hilfe anbieten zu können, müssen musikspezifische Fragen auch in den Fragehorizont des nach sich selbst fragenden Menschen gerückt werden: Dies bedeutet, "der Frage nachzugehen, in die der Mensch gestellt ist, nicht um sie ein für alle Mal einzuholen, was nur eine ahistorische Anthropologie versuchen kann, sondern um jene Annäherung zu erreichen, die nötig ist, soll der Mensch verständig nach sich fragen können." (4) Dies ist die Frage nach der Menschlichkeit des Menschen. Diese anthropologisch bewußte Haltung läßt sich auffassen als die Aufgipfelung jener Fähigkeit, die von vielen Denkern für den eigentlich menschlichen Zug am Menschen gehalten wird, nämlich die Fähigkeit, fragen zu können: Der Mensch ist ein sprechend-fragendes Wesen. (Auf die Frage, warum die Tiere nicht sprechen und deshalb auch nicht fragen können, ist die elegante Antwort gegeben worden: Weil sie nichts zu sagen haben.)

Vor dem Hintergrund dieser Wesensbestimmung des Menschen stimmt jedoch bedenklich, daß er sich von dieser Bestimmung gelegentlich selbst dispensiert bzw. sich selbst in die Quere kommt, da er gerade im musikalisierten Zustand etwa nicht befragt werden möchte oder gar selbst Fragen stellen will. Seine ganze Würde scheint dahin oder nur unter Quarantänebedingungen durchhaltbar zu sein. Daraus läßt sich zumindest die eine Konsequenz ziehen, daß die eben gegebene Bestimmung einseitig ist, und daraus erwächst die Vermutung, daß der Mensch noch über andere Monopole verfügt, die zusammengenommen seine Menschlichkeit ausmachen.

Bollnow hat in der Verunsicherung über die Vorrangstellung der menschlichen Vernunft im Vergleich mit seinen anderen Monopolen und der daraus resultierenden Öffnung für die Gesamtheit der Lebenserscheinungen und damit natürlich auch im besonderen für die Phänomene der Kunst den Ausgangspunkt der philosophischen Anthropologie gesehen. Sie entstand nach der Auffassung Bollnows "nämlich in dem Augenblick, sich die überlieferte und bis dahin selbstverständliche Wesensbestimmung des Menschen als eines animal rationale, als eines vernunftbestimmten Lebewesens, aufgelöst hatte. Erst in dem Augenblick also, wo der Glaube an die Vernunft als den entscheidenden Wesenskern des Menschen hinfällig geworden war, erst in dem Augenblick, wo der Mensch in seinem Verhältnis zum Leben und zur Welt einer früher nicht gekannten Unsicherheit ausgeliefert war, entstand als Ausdruck dieser wirklichen Verlegenheit die Frage: Was ist der Mensch? Und diese Frage heißt darum genauer: Wodurch wird der Mensch in seinem Wesen bestimmt, wenn wir dieses nicht von der Vernunft her zu begreifen imstande sind?" (5)

Bemerkenswert an der Wende der Philosophie zur philosophischen Anthropologie ist die damit verbundene Öffnung für eine von traditionellen, erkenntnistheoretischen Fesseln befreite und nicht durch Systemvoraussetzungen verstellte Sicht auf Probleme ästhetischer und künstlerischer Gestaltung. Diese in der ganzen Philosophiegeschichte erstmalige, von traditionellen Welturteilen weitgehend freie Öffnung für den gesamten menschlichen Ausdrucksbereich und seine gestalterischen Tätigkeiten bietet einen unvergleichlichen Ansatzpunkt, wichtige Probleme der Musikwissenschaften erneut anzugehen und in einer Zentralperspektive zu bündeln. Diese Chance ist bisher kaum wahrgenommen worden. Deshalb hat ein Symposion zur Anthropologie der Musik und Musikerziehung eine hochaktuelle Bedeutung und kann zugleich nur der Beginn einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung, philosophischen Reflektion und pädagogischen Nutzbarmachung dieser neuen Ansätze sein.

Am wenigsten hat sich bisher, soweit ich das beurteilen kann, die historische Musikwissenschaft anthropologischen Fragen geöffnet. Hier gilt nach wie vor, daß der Ton die Musik macht, oder wie Welleck formulierte, um auf System- und Gestaltfaktoren aufmerksam zu machen, daß die Musik den Ton macht. Gieseler wendete die Formel abermals, um sie mit einer anthropologischen Spitze auszurüsten: Nicht der Ton (und sei er auch insbesondere der "naturhafte") mache die Musik, sondern der Mensch. (6) Es soll hier nun keineswegs behauptet werden, daß die heutige Musikwissenschaft eine Geschichtsschreibung ohne Subjekt betreibe, wie dies etwa dem französischen Strukturalismus vorgeworfen wurde. Sie ignoriert auch keineswegs sozialgeschichtliche Fakten und versucht in der Form der Strukturgeschichte historische Bedingungsgefüge soweit wie möglich zu rekonstruieren. Gegen die Anthropologie jedoch hegt die historische Musikwissenschaft Mißtrauen und bleibt auf Distanz. Zahlreiche Gründe spielen hier eine Rolle. Zu vermuten ist, daß die unglückliche Diskussion über das Wesen der Musik in den sechziger Jahren, in der sich eine Partei auf die vermeintlich unveränderlichen Naturbedingungen (auch solche der menschlichen Natur) berief, um in aktuellen ästhetischen Fragen ein abschließendes Urteil zu fällen, immer noch als negativer Bezugspunkt wirkt und als einzige Beziehungsebene zwischen Anthropologie und Musikgeschichte vor Augen steht. Vielleicht wird in nächster Zeit deutlich, daß dies eine schiefe Perspektive auf die Anthropologie ist und daß die Suche nach Konstanten der conditio humana nicht ihr Hauptinteresse ausmacht.

In der allgemeinen Geschichtswissenschaft ist die Aufarbeitung anthropologischer Probleme schon weitergediehen und hat einen Fragehorizont eröffnet, in dem "die Dichotomie vom Menschen als 'Naturwesen' und als 'geschichtlichem Wesen' überholt (wurde), in dem nicht Beständigkeit seiner 'Natur' und Geschichte seinem 'Wandel' zugeschrieben, sondern Beständigkeit selbst als geschichtliche Leistung (und ihr Mangel als Fehlleistung) begriffen wird, welche Leistung jedoch nur im Wandel erbracht werden kann, der nicht adiaphorisch um das Beständige herum geschieht (wie ein Teil der katholischen Kirchenhistoriographie, die Dogmatik als fixe Gegebenheit voraussetzt, um die herum allein Geschichte der Kirche ist, während die Geschichtlichkeit der Dogmen selbst ausgespart bleibt), sondern gerade als Wandel das Beständige in seiner Beständigkeit hält." (7)

Die Berührungsängste der Musikhistoriker vor der Anthropologie haben vermutlich einen weiteren Grund in der Spannung zwischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie. So hält Dahlhaus den Versuch, die Musik, das heißt den Begriff der "einen" Musik, in "anthropologischen Strukturen zu verankern", für ein "schwieriges und wahrscheinlich vergebliches Unterfangen". (8) Interessant ist nun, daß er durchaus eine anthropologische Idee für musikphilosophisch tauglich hält, und zwar die Idee der Weltgeschichte im Hegelschen Sinne. Dies ist aber nun eine ausgewiesene geschichtsphilosophische Idee. Der Mitautor Eggebrecht läßt sich auf solch halsbrecherische Dialektik nicht ein und befindet in direktem Zugriff, daß die abendländische Musik in der Natur in zweifacher Weise verankert sei: Als emotio "in der Natur des Menschen" und als "mathesis in der Natur des Klingenden". (9) Auf dieser Basis versucht er eine anthropologische Bestimmung der Musik: "Alle drei Merkmale betreffen den Menschen im Zentrum seiner Existenz. Die Emotion ist gleichsam in der sinnlichen Natur des Menschen die Mitte. Mathesis ist das Instrument zur Entdeckung und Konstituierung der harmonia (Ordnung), die das jener Mitte gegenüberstehende, Entgegengesetzte und doch von ihr beständig Erstrebte ist. Zeit aber ist dasjenige, in dem beides als Musik in die Wirklichkeit trifft, für den Menschen von allem Wirklichen das Wirklichste." (10)

Der in diesen Bestimmungen implizierte und auch zugegebene Ethnozentrismus ist ein Stein des Anstoßes für die anthropologischen Reflektionen in der Vergleichenden Musikwissenschaft oder Ethnomusikologie. Ihre Einwände richten sich gegen eine Verallgemeinerung der Konjunktion von Musik und Kunst und gegen die aus der verabsolutierten Auffassung der Musik als Kunst abgeleiteten philosophischen Theoreme.

Ihr eigener Forschungsansatz richtet sich je nach methodologischer Ausrichtung auf biologische Determinanten musikalischer Verhaltensweisen , auf Universalien in ihrem Wechselspiel mit kulturspezifischen Ausprägungen oder auf Musik als sozialpsychologischen Prozeß innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Normen- und Wertsysteme, auf Musik als Teil einer Gesamtkultur. Es liegt auf der Hand, daß diese Forschungen für eine Musikanthropologie als Materiallieferant, als Prüfstein und als Konzeptionsschmiede interessant sind. Arthur Simon faßt die Entwicklung der Ethnomusikologie in den letzten Jahrzehnten folgendermaßen zusammen: "Es ist der lange Erkenntnisweg von der Mystifizierung des magischen (z.B. bei Marius Schneider), vom Glauben an die stampfende und stammelnde Urhorde ('Musik der Primitiven') zum Menschen als creator musicus, von einer 'ethnomusicologica speculativa' zu einer Anthropologie der Musik." (11)

Die Musikpsychologie zielt mit ihren verschiedenen Forschungsansätzen zwar nicht wie die Ethnomusikologie geradlinig auf eine Anthropologie zu, ist aber auf ihre Art anfällig für Anthropologie wie auch unentbehrlich für die Entwicklung einer allgemeinen anthropologischen Perspektive. Ich will dies in zwei Thesen zusammenfassen:

1. Eine Anthropologie der Musik muß auf die psychologische Erforschung musikalischen Verhaltens zurückgreifen. Hier zeigt sich der interdisziplinäre oder integrative Aspekt der Anthropologie.

2. Selbst wenn die Musikpsychologie in bezug auf die anthropologische Sinndeutung der gewonnenen genuin psychologischen Einsichten Zurückhaltung zeigt, ist eine solche Sinndeutung für die eigene Disziplin von Belang, da anthropologische Voraussetzungen in jeden Forschungsansatz der Humanwissenschaft bewußt oder unbewußt eingehen: Anthropologie als Kritik. Deshalb braucht, wie de la Motte schreibt, die Musikpsychologie "die Rückbindung an ein Bild vom Menschen" (12). Es wäre vermessen, zu behaupten, daß hier die Anthropologie allein zuständig sei, aber sie ist doch wohl in besonderem Maße gefordert.

Wenn ich nun noch versuche, die Aktualität der Anthropologie für die Musikpädagogik wenigen Sätzen zusammenzufassen, so ist zunächst daran zu erinnern, daß es in der allgemeinen Pädagogik in den vergangenen drei Jahrzehnten eine breite anthropologische Diskussion und Theoriebildung gegeben hat, die in der Musikpädagogik, sieht man von vereinzelten Vermittlungsversuchen, wie etwa durch Derbolav ab, jedoch kaum Auswirkungen gezeigt hat. Die Musik war aus bekannten Gründen nie ein Favoritfach der Pädagogen für die Konkretisierung ihrer bildungstheoretischen und erzieherischen Thesen, und die Musikpädagogen verspürten wenig Neigung, die allgemeinen Überlegungen wegen ihres Mangels an kunstgriffigen Ansatzpunkten zum Ausgangspunkt ihrer konkreten Projekte zu machen. Das Fehlen einer weitgefächerten Lesetradition in diesem Fach dürfte ein weiterer Grund für die ausgebliebene Rezeption der pädagogischen Anthropologie gewesen sein.

Der Versuch, die Aktualität der Anthropologie für die Musikpädagogik skizzenhaft darzustellen, ergibt aus meiner Sicht folgendes Bild:

1. Musikpädagogik ist auf Anthropologie als Grundlagenwissenschaft (der anthropologische Ort musikalischen Verhaltens), als kritische Instanz (Gewichtung der menschlichen Monopole) und als Perspektive (Menschlichkeit) angewiesen.

2. Anthropologie kann als Brücke zwischen den Musikwissenschaften (einschließlich der Musikpädagogik) fungieren.

3. Zahlreiche, lang andauernde didaktische Streitpunkte lassen sich nach anthropologischer Aufklärung besser verstehen, vielleicht sogar auflösen (z. B. die Alternative: Vollzug - Verstehen von Musik).

4. Pädagogische Theoriebildung und praktisches Handeln sind bewußt oder unbewußt geprägt von einem Bild des Menschen. Dies muß explizit gemacht werden.

5. Die Anthropologie öffnet in ethnologischer Orientierung oder in Zusammenarbeit mit der Vergleichenden Musikwissenschaft Perspektiven auf die Musik als Weltkultur und stutzt somit die Entgrenzung des Musikangebots im Musikunterricht.

6. Anthropologische Grundbegriffe können die Planung von Unterrichtspraxis steuern (Entfremdung, Glück, All you need is love).

7. In einer anthropologischen Perspektive stellen sich die Legitimationsprobleme des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen neu.

8. Auf der Erscheinungsebene ist die gegenwärtige Musikkultur (also auch die Musikpädagogik) in disparate Bereiche zerfallen. Anthropologie erlaubt eine Neuinterpretation dieser Widersprüche und birgt vielleicht Hinweise zu ihrer Überwindung.

Die Anthropologiediskussion ist für die musikbezogenen Wissenschaften durchaus zeitgemäß, obwohl sie in charakteristischer Phasenverschiebung von zehn bis fünfzehn Jahren zu eben dieser Diskussion in der Soziologie und der Geschichtswissenschaft stattfindet. Wenn gemeinhin von der Aktualität irgendeiner Sache gesprochen wird, so sind meist positive Konnotationen im Spiel. Ich möchte abschließend auf einige Gefährdungen hinweisen, die mit der sich abzeichnenden Anthropologiekonjunktur verbunden sein können.

Gewarnt werden muß zunächst vor überzogenen und falschen Hoffnungen. Wer eine Lehre vom Menschen mit einer übersichtlichen Darstellung der verschiedenen Substanzen, Vermögen, Funktionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sucht, wird nicht nur enttäuscht werden, sondern mißversteht auch die Bedeutung und die Möglichkeiten der Anthropologie.

Als Beispiele für die Vergänglichkeit anthropologischer Aussagen können die Begriffe der Ganzheit und Ganzheitlichkeit angeführt werden, mit denen in der Vergangenheit soviel Unfug getrieben worden ist und in die heute schon wieder falsche Hoffnungen gesetzt werden.

Die Domestizierung ursprünglich kritischer anthropologischer Begriffe ist ein Grundübel der bisherigen Diskussion gewesen.

Mit der Anthropologie ist kein Standpunkt über oder neben der Geschichte zu gewinnen (Köhler).

In d er Menge der wohlmeinenden anthropologischen Publikationen der letzten dreißig Jahre lassen sich ohne Mühe einige anheimelnde Siedlungsplätze für die Musik ausfindig machen, jedoch nur für den Bau von Luftschlössern.

Schließen möchte ich mit einem Hinweis von Plessner, der die Anthropologiediskussion unseres Jahrhunderts entscheidend geprägt hat, und mit zwei Sätzen von Adorno, der gewiß in dieser Hinsicht unverdächtig ist.

Plessner bekennt im Alter von neunzig Jahren in einer 1982 veröffentlichten autobiographischen Skizze (13), daß es sich bei der Frage nach dem Menschen, die ihn seit dem vierzehnten Lebensjahr beschäftigt hat, seiner Überzeugung nach keineswegs um die größte Frage handelt. Adorno: "Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung" (14) und: "Der Satz: 'Der Mensch ist gut' war falsch, aber bedurfte wenigstens keiner metaphysisch-anthropologischen Soße." (15) Adorno kannte allerdings noch nicht die nouvelle cuisine der Anthropologie.

Anmerkungen

1) Herder, J.G., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Berlin/Weimar 1965, S. 135

2) Kagel, M., Sehnsucht besonderer Art. Über das Hören von Musik, in: FAZ, 23.09.86, S. 25

3) ebd.

4) Köhler, O. (u.a.), Versuch einer "Historischen Anthropologie", in: Saeculum, Bd. 25, 1974, S. 129-246, hier, S. 150

5) Bollnow, O. F., Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt/M. 1980, 6. Auflage, S. 13/14

6) Gieseler, W. Das "Natürliche" und die Musik, in: Bastian, H.G./Klöckner, D. (Hg.), Musikpädagogik. Historische, systematische und didaktische Perspektiven, Düsseldorf 1982, S. 92 - 106, hier S. 106

7) Köhler, O., Versuch, S. 142

8) Dahlhaus, C./Egge Was ist Musik?, Wilhelmshaven 1985 (tmw 100), S. 16

brecht, H. H.,

9) a.a.O., S. 41

10) a.a.O., S. 190/191

11) Simon, A., Probleme, Methoden und Ziele der Ethnomusikologie, in: Kuckertz, Josef (Hg.), Jahrbuch für musikalische Volks- und Völkerkunde, Bd. 9 (1978), Köln 1979, S. 8 - 52, hier S. 15

12) la Motte, H. de, Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 1986, S. 9

13) Plessner, H., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982

14) Adorno, Th. W., Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/M. 1980, 9. Auflage, S. 52

15) a.a.o., S. 54