Aus: Günther Noll/Wilhelm Schepping (Hg.): Musikalische Volkskultur in der Stadt der Gegenwart. Tagungsbericht Köln 1988 der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V., Hannover: Metzler 1992 (=Musikalische Volkskunde – Materialien und Analysen BD. X), S. 135-142

Gisela Probst-Effah

ANMERKUNGEN ZUR DIALEKTRENAISSANCE DER SIEBZIGER JAHRE

Die Dialektforschung erleidet ein ähnliches "Schicksal" wie die Volksliedforschung: Seitdem es sie gibt, "ist sie begleitet von der Klage, bald werden keine Dialekte mehr zu hören sein - deshalb gelte es, schnell noch zu sammeln und zu registrieren, was dem Untergang geweiht sei". Die Erforschung sowohl der Mundart als auch des Volksliedes gehen auf Johann Gottfried Herder zurück, der beide als Relikte einer vergangenen, noch unverbildeten geschichtlichen Epoche, als Ausdruck eines Naturzustandes der Menschheit verstand. Die "natürliche", "ursprüngliche", "echte" Dialektsprache galt seitdem als Kontrahent der "künstlichen", "normierten" Hochsprache. Die Mundartforschung entsprang der Kritik an gegenwärtiger Kultur und Zivilisation. Sie war retrospektiv; die Volkssprache ihrer Zeit spiegelte nach Auffassung Herders und der Romantiker einen korrumpierten Zustand wider.

Die These vom baldigen Ende der Dialekte prägte die Mundartforschung bis in die Gegenwart. Bei Untersuchungen wurden oft die ältesten Männer und Frauen als Gewährsleute herangezogen, weil man "von der Erwartung ausging, daß die Mundart mit den alten Leuten zu Grabe getragen werde". Eine retrospektive Haltung gegenüber der Dialektsprache läßt sich noch immer beobachten, obgleich es in den sechziger Jahren unter dem Einfluß englischer und amerikanischer Soziolinguistik eine Schwerpunktverlagerung zu gesellschaftlichen Gegenwartsproblemen gab. Das besondere Interesse galt dem Dialekt "in seiner Charakterisierung als sozialem Stigma, als Hindernis für Chancengleichheit und sozialen Aufstieg". Damals grassierte der Begriff "Sprachbarriere", mit dem nicht topographische und regiokulturelle, sondern soziale Schranken mit ihren sprachlichen Implikationen gemeint waren. Die Dialektsprache, die bei Angehörigen der Unterschicht die stärkste Verbreitung hat, wurde gleichgesetzt mit "restringiertem Code" und dieser wiederum mit sozialer Unterlegenheit. Die Vorstellungen vom Dialekt als Sprachbarriere beeinflußten auch einen Teil der künstlerischen Produktion der damaligen Zeit. Sie waren u.a. geprägt von der oppositionellen Bewegung der sechziger Jahre, die - nach Auffassung Gabriele Reinert-Schneiders - das "erste Signal" zu einer Dialektrenaissance gab: Die Sprache und das Bewußtsein, das sich in ihr manifestierte, betrachteten viele als "den entscheidenden Ansatzpunkt zu gesellschaftlicher Veränderung".

In den siebziger Jahren trat die Sprachbarrieren-Diskussion in den Hintergrund, andere Aspekte des Dialekts, z.B. der historische, rückten stärker ins Blickfeld. Das Untersuchungsgebiet der Dialektforschung wurde mehr und mehr in seiner Komplexität erkennbar - und damit auch die Unmöglichkeit, das gesamte Phänomen mit Begriffen, die normative Geltung beanspruchten, zu definieren. "Die Meinungen darüber, was ein Dialekt ist und was die Dialektologie zu behandeln hat, sind in den letzten zwei Jahrzehnten immer weiter auseinandergegangen". Wer denkt hier nicht an Parallelen in der Volksliedforschung?

Die Dialektrenaissance, die in den sechziger Jahren begann, erlebte in den siebziger Jahren ihren Höhepunkt. In der Literatur und der Musik fand eine Aufwertung der Mundart statt: Noch wenig zuvor als "restringierter Code" unterschätzt, wurde ihr nun eine besondere Aussagekraft zugeschrieben. Dieser Umschwung in der Wertschätzung hatte konkrete Ursachen: Den siebziger Jahren gingen folgenschwere wirtschaftliche und soziale Veränderungen voraus, auf deren Grundlage die Dialektrenaissance erst möglich wurde; Reinert-Schneider nennt vier wichtige Faktoren: Bildungsreform, Kapitalkonzentration, Energiepolitik und eine auf Zentralisierung gerichtete Gebietsreform.

Der Ausbau des Bildungssystems führte zu einem erheblichen quantitativen Anwachsen der Mittelschichten. Auf die Dialekte wirkte er zerstörerisch, denn sie galten beim sozialen Aufstieg als Hemmnis. In den siebziger Jahren konnten sich viele derer, die die soziale Identität gewechselt hatten, in kulturell einflußreichen Positionen etablieren. Spöttisch und prägnant formuliert Ludwig Soumagne die Entwicklung: "Beim Emporkommen haben die Leute den Dialekt in die Ecke gedrängt und verteufelt, und wenn sie dann oben sind, dann glauben sie, nun könnten sie es sich wieder erlauben".

Die ökonomische Krise am Ende der sechziger Jahre hatte verstärkte Bemühungen zur Folge, billige Energiequellen zu erschließen. Der Bau von Kernkraftwerken wurde geplant. Die Risiken jedoch, die mit der Kernenergie verbunden waren, lösten in der Bevölkerung Protest aus. Da man als Standorte ländliche Gebiete am Rande industrieller Ballungszentren bevorzugte, sahen u.a. viele Bauern ihre Existenz bedroht.

Auf Opposition stießen auch Maßnahmen, die Verwaltung zu zentralisieren und die traditionellen Machtbefugnisse der Kommunen zugunsten größerer Verwaltungseinheiten zu beschneiden. Dies vor allem und die Energiepolitik riefen Widerstand hervor, dessen organisierte Zusammenfassung sog. Bürgerinitiativen waren.

Die Auseinandersetzungen in Wyhl am Kaiserstuhl gaben das "zweite 'Signal'" zu einer Dialektrenaissance . 1974 besetzten Bürgerinitiativen den für das Kernkraftwerk vorgesehenen Bauplatz. Die Dialektsprache als Verständigungsmittel bot sich aus mehreren Gründen an: An den Protestaktionen nahmen ländliche Bevölkerungsgruppen, in denen die Mundart noch eine breite Basis hat, teil. Zwischen ihnen und anderen Gruppen, z.B. Studenten, die seit den sechziger Jahren auf die Rolle des "Bürgerschrecks" festgelegt zu sein schienen, mußten Barrieren überwunden werden, auch sprachliche.

Ähnliche Entwicklungen gab es im elsässischen Marckolsheim, wo ein Bleichemiewerk gebaut werden sollte. In dieser Region hatte die Verwendung der Dialektsprache auch besondere historische Gründe: Seit Jahrhunderten war das Elsaß Streitobjekt zwischen Frankreich und Deutschland. Der Dauerkonflikt, dessen letzter Höhepunkt durch den nationalsozialistischen Terror ausgelöst wurde, äußerte sich u.a. darin, daß das "Elsässerdeutsch" oft unterdrückt und aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde. Durch die geschichtlich bedingte Ächtung konnte die Dialektsprache hier als Gegensprache fungieren: Durch sie ließ sich regionale Zusammengehörigkeit gegenüber trennenden Staatsgrenzen demonstrieren.

Vielen Protestierenden ging es nicht nur um die Bewahrung der eigenen Tradition, sondern allgemeiner um den "Kampf gegen eine Gesellschaft, die alles zermalmt und verflacht, was nicht in ihren oft unmenschlichen Rationalisierungsdrang paßt". Walter Mossmann, der an vielen Protestaktionen beteiligt war, schreibt: "In den Amtsstuben, Schulen, Unis, Büros wird kein Dialekt geduldet, er paßt sich also auch nicht den dort herrschenden Denkgewohnheiten an. Er hält und entwickelt sich in den Dörfern und Fabriken und drückt deshalb auch drastisch die Realität dort aus".

Die Brisanz des Dialekts, die ihn als Sprache des Protests geeignet erscheinen läßt, hängt mit seiner gesellschaftlichen Stellung zusammen. Ulrich Ammon hat nachgewiesen, daß in der Bundesrepublik Deutschland dialektales Sprechen besonders in den unteren Schichten mit einfachem Bildungsniveau und geringem Einkommen sowie in ländlichen Bevölkerungsgruppen verbreitet ist . Wenn sich die soziale Stellung in der Sprache manifestiert, dann bedeutet das nicht, daß die sozialen Unterschiede aufgehoben sind, wenn plötzlich alle Dialekt sprechen. Walter Mossmann, der seine Scharfsichtigkeit niemals seinem Engagement und seiner Parteinahme opfert, benennt trotz aller Übereinstimmungen Unterschiede und Gegensätze. Sein Verhältnis zur Mundart charakterisierst er folgendermaßen: "Wir haben den Dialekt nicht gelernt oder in unserer Erziehung verlernt. Der Dialekt grenzt die Leute aus den Dörfern auch gegen uns ab - deshalb sind wir noch lange nicht ausgeschlossen". Er kritisiert, wenn das Bedürfnis nach "regionaler Identität" zu Selbstverleugnung führe: Bei einem Festival, berichtet er, sei ein junger Sänger aus Straßburg ausgepfiffen worden, weil er in seiner Sprache, Französisch, gesungen habe. "Von wem? Von jungen Leuten, die fast ausschließlich Französisch sprechen ...".

Die Übereinstimmungen, die in Wyhl und Marckolsheim zweifellos verhanden waren, erzeugten manchmal allzu schöne Bilder von Gemeinschaft und/oder Solidarität. Der Untertitel eines Buches "Wyhler Bauern erzählen: Warum Kernkraftwerke schädlich sind" läßt Leute mit verschiedenen politischen Überzeugungen aufhorchen. Zu einer Verklärung der Ereignisse, die aus der Hochstimmung des Augenblicks noch verständlich ist, trägt vielleicht auch die wissenschaftliche Literatur mit bei, z.B. mit der folgenden Szenerie, die von ferne an Oper erinnert: "In den Protestbewegungen ... schließen sich sonst heterogene Bevölkerungsschichten zusammen, marschieren biedere, bodenständige Bauern Seite an Seite mit religiösen Eiferern, linksradikalen Studenten oder Kleinhonoratioren aus Bürgerinitiativen, die sich vereinigen im Bekenntnis zur tätigen Aneignung und Verteidigung von Heimat gegen unbeschränkte Wachstumsideologie".

In demselben ansonsten sehr informativen Aufsatz heißt es, Mundart sei ein "sicherer kultureller Besitz", der "in krisenbehafteten Zeiten zur Selbstversicherung bzw. zur Versicherung einer allgemeinen traditionellen Identität" an Bedeutung gewinne. Dies ist zumindest mißverständlich und kann, aus dem Kontext gelöst, zu einer Neubelebung des Glaubens an einen "Gemeinschaftsgeist" und irgendwelche kollektiven Grundschichten, die der geschichtlichen Entwicklung trotzen, führen. Die neuere Mundartrenaissance, die ihre Distanz zur traditionellen Heimat- und Volkstumspflege oft betont hat, reproduziert gelegentlich Vorstellungen, die seit Herder entwickelt wurden: Mundart repräsentiere das "Echte", "Unverfälschte", "Ursprüngliche", das "Sinnliche", "Konkrete" etc.; als Negation aller dieser positiven Eigenschaften sei Hochsprache "artifiziell", "abstrakt", ja sogar "tot" . Was tot ist, muß begraben werden: Wichtig sei es, schreibt ein Autor in der Folkzeitschrift "Michel", "von der Hochsprache wegzukommen, denn sie ist künstlich und tot. Im Dialekt aber liegt die Abwechslung, das Leben einer Sprache. Daran haben sich auch unsere Folksänger und Folkgruppen erinnert".

Einst nannte es Johann Peter Hebel, dessen "Alemannische Gedichte" großen Einfluß auf die Mundartlyrik des 19. Jahrhunderts hatten, seine "erste Absicht", auf seine Landsleute "zu wirken, ihre moralischen Gefühle anzuregen". Auch die neuere Dialektrenaissance ist von der moralischen Bedeutung der Mundart gelegentlich überzeugt: Sie sei aufrichtig und ehrlich. Sie sei "dagegen, daß man Wörter gebraucht, die man nicht versteht: große, leere, nichtssagende Wörter. Der Dialekt ist gegen sprachliche Schaumschlägerei. Der Dialekt ist nicht so sehr etwas für Leute, die immer nur mit dem Kopf nicken, der nicht mehr ihr eigener ist. Der Dialekt ist etwas für Leute, die Fragen stellen, hinter die Verhältnisse kommen wollen". So braucht man an der moralischen Integrität dessen, der Dialekt spricht oder singt, nicht mehr zu zweifeln. Leute mit schlechten Absichten, z.B. manche bayerische Politiker, mißbrauchen ihn nur als Tarnung ...

Selbstbewußt und drastisch schrieb Carl-Ludwig Reichert in den siebziger Jahren: Es gehe nicht an, bayerische Traditionen "ganz einfach den tümelnden und tümlichen schwarzbraunen Herrschaften zu überlassen, genausowenig wie den sepplebehosten Gaudiburschen, die sich allenthalben auf die verkäuflichen Reste einer vom Kommerz schon fast umgebrachten Volkskultur stürzen". Vorsichtiger schildert einige Jahre später der Verfasser einer Glosse im "musikblatt" das Verhältnis zu unerwünschten Ideologien: Was sich derzeit als sprachliches und kulturelles Selbstbewußtsein ausgebe, mag auch nur "dumpfer Provinzialismus sein; die Grenzen sind nicht immer klar erkennbar". Spöttisch bemerkt er, die "Androhung" oder Anwendung von Mundart ziele auf den Instinkt, nicht auf den Intellekt der Zuhörer. Dem Liedermacher, der vor ein Publikum treten will, gibt er den ironischen Rat: "Sag etwa dein nächstes Lied als 'eins von mir zu Hause' an ... Dann unterstell ihnen, sie würden wohl nicht alles vom Text verstehen, von wegen Mundart. Spätestens jetzt ist dir Aufmerksamkeit sicher. Nunmehr erzähl ihnen den Inhalt deines Liedes. Egal, wie frauenfeindlich die Ballade vom Jungbauern auf Brautschau auch sein mag - Mundartliches wirkt seltsam entwaffnend, es gibt da sowas wie akustisches Augenzwinkern" .

Stärker als die Popszene, in die ja auch die Dialektsprache Eingang gefunden hat, ist die Folkszene den Belastungen durch alte Ideologien ausgesetzt. Mundart und Volkslied wurden oft auf einen gemeinsamen in der Vergangenheit liegenden Ursprung zurückgeführt. An den Glauben von einer traditionellen Symbiose knüpft sich die Überzeugung, regionale Identität könne sich nur in der Verbindung von Volksmusik bzw. Folkmusik und Dialekt äußern. Das "musikblatt" zitiert eine schwäbische Liedermacherin: "Bei der Folkmusik ist der Ursprung noch beinhaltet, da find' ich mich wieder, es ist etwas Bodenständiges. Das ist in der Rock- und Popmusik anders". Puristen lehnen die Vermischung von Mundart mit "fremder", auch medial verbreiteter Musik ab.

Ihre Renaissance verdanken die Dialekte jedoch nicht ihrer "Bodenständigkeit" und sonstigen "urwüchsigen" Kräften, sondern zum Teil den oft als "Vernichter" "echter" Tradition gescholtenen Medien. Diese sind dazu in der Lage, Tendenzen aufzugreifen und ihnen auf breiter Basis Gehör zu verschaffen. Sie können, wie das folgende Beispiel zeigt, entscheidend zur Verdrängung der Hochsprache zugunsten der Mundart beitragen: In der deutschsprachigen Schweiz, so berichtet eine Zeitung, wurde 1983 in Funk und Fernsehen bereits zu 60 Prozent Dialekt geredet. "Inzwischen dürfte die Prozentzahl merklich in die Höhe geschnellt sein; denn seither kamen an die 30 Lokalradios dazu, in denen kein einziges Wort Hochdeutsch mehr zu hören ist" (ebda.).

Im Kulturbetrieb war die Dialektsprache lange Zeit an den Rand gedrängt. Bis 1975 - so ergab eine Analyse des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main - seien Presseberichte über Mundart und Veröffentlichungen in Mundart vorwiegend im Lokalteil erschienen. Das Jahr 1975 markierte einen Einschnitt: Mundart erschien nicht mehr als 'Heimattümelei', Gegenstand autodidaktischer Heimatforscher, sondern hatte sich zur seriösen wissenschaftlichen Disziplin gewandelt. Der Verband deutscher Schriftsteller rief auf zu Tagen der Mundartliteratur; Volkshochschulen schlossen sich dem Trend an. Auf der Bühne, wo jahrelang das Ohnsorg-Theater und Stücke von Millowitsch die Domäne "volksnahen" Theaters okkupierten, gab es schon seit den sechziger Jahren Dialektstücke, die das Vorurteil, Mundarttheater sei Klamauk, auszuräumen versuchten. Dialekt drang ein in Filme, Fernseh- und Hörspiele, in die Lyrik und in verschiedene musikalische Bereiche.

Statt "Mundart" schrieb man oft "mund-art", wobei "mund" "die mündliche, nicht kodifizierte, Wandlungen unterworfene Kommunikationsform in der täglichen Interaktion" betont und der Bestandteil "art" "die kunstvolle Produktion" hervorhebt. Mit der Modifikation des Begriffs sollte "die Barriere zur 'gefühlsbetonten' Heimatliteratur" signalisiert werden. Zu fragen ist, ob die Verwandlung von "Mundart" in "mund-art" nicht auch eine soziale Barriere kenntlich macht. Nicht die Dialektsprache war das neue in der "Dialektrenaissance": Für viele war sie - völlig unabhängig von dieser Renaissance - ein gewohntes alltägliches Verständigungsmittel. Neu war die Tatsache, daß eine Sprache, die bisher kaum als "kulturfähig" galt, in sozialen Schichten, die zum Dialekt ein distanziertes Verhältnis haben, an Prestige gewann.

Dies kann verschiedene Gründe haben. Die Verwendung der Dialektsprache in den Kreisen der "literarischen Nobilität" wird manchmal als deren Entscheidung gewertet, sich nicht länger im Elfenbeinturm zu verschließen. Der Gebrauch der Dialektsprache durch "Kulturschaffende" garantiert jedoch keine stärkere Hinwendung zur Realität oder gar Verbundenheit mit den unteren sozialen Schichten. Wenn oben betont wurde, daß das Engagement in der regionalen Bewegung nicht mit dem Gebrauch des Dialekts verkettet ist, sondern sich auch hochsprachlich äußern kann, so hat dementsprechend derjenige, der Dialekt spricht oder singt, sein Engagement noch nicht bewiesen.

Walter Mossmann stellt fest: "Aber für alles, was lebendig ist, interessiert sich die Geschäftswelt. auch für die kulturellen Blüten dieser regionalen Bewegung. Und das Geschäft verdirbt auch die Blüten". Als Beispiel nennt er Frankreich, wo die "Moderegisseure" das Thema Regionalismus in den siebziger Jahren aufgriffen; es erwies sich im Showbusiness als recht profitabel. Vermutlich möchte Mossmann die Medien nicht einseitig auf die Rolle des Übeltäters festlegen, sondern nur auf die Möglichkeit hinweisen, daß der Präsentationszusammenhang erheblichen Einfluß auf die Bedeutung und Funktion eines Objekts hat und sogar ursprünglich Intentionen in ihr Gegenteil verkehren kann.

Abschließend ist zu fragen, in welcher Sprache eigentlich die Dialektrenaissance stattfindet oder stattgefunden hat. Die Nummer 4/1981 des "musikblatts" erwähnt die "Hilflosigkeit" von Rezensenten plattdeutscher Lieder, wenn sie mit dieser Sprache nicht vertraut sind. "Deshalb gibt es in keiner Plattenbesprechung einen brauchbaren Hinweis darauf, welcher Dialekt auf der LP zu hören ist, nie habe ich eine Bemerkung gefunden, die aussagt, ob es sich bei den vorgetragenen Texten um geglättetes 'Radio-Platt' oder ungebrochenen Heimatdialekt handelt". Die Zeitschrift "Michel" stellt fest: "So steht bei Hörern und Interpreten gar nicht so sehr die bewußte Wahl der plattdeutschen Sprache als verbales Kommunikationsmittel im Vordergrund, sondern vielmehr ein schwer beschreibbares, teils außersprachliches Allgemeingefühl, was durch die Verwendung des Plattdeutschen vermittelt wird".

Die populäre Vorstellung von zwei einander entgegengesetzten Sprachebenen entspricht nicht der Sprachwirklichkeit. Die ist weitaus komplexer: Zwischen die Pole des "tiefen Dialekts" und der kodifizierten Schriftsprache schieben sich vermittelnd die Umgangs- oder Regionalsprachen. In ihrer Untersuchung der Kölner Szene gelangt Gabriele Reinert-Schneider zu dem Ergebnis, die Renaissance betreffe die mittleren Ebenen der Regionalsprachen und diene nicht der Stabilisierung, sondern nur einem Prestigegewinn des "tiefen Dialekts". Die Dialektszene wirkt nur auf den ersten Blick gemütlich und harmonisch. Reinert-Schneider konnte in Köln beobachten, daß das Verhältnis zwischen Vertretern der Sprach- und Brauchtumspflege, denen es um die "richtige" Mundart geht, und Vertretern der neuen medial verbreiteten Produkte, denen diese Form der "Authentizität" gleichgültig ist, sehr konfliktreich ist.

Hier jedoch beende ich meine allgemeinen Erörterungen zur Dialektrenaissance und lasse die nächste Referentin zu Wort kommen, die über die Kölner Szene detailliert berichtet.

LITERATUR

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"Värschtaat öpper kai Mundaart?" in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 7. Dezember 1987, S. 3.

Wolfgang Klann's Liederlichkeiten (4). Dialektase? in: musikblatt 10/1983, S. 6.