Seminar Probst-Effah (Wintersemester 2006 / 07)

„Musikalische Jugendkulturen im 20. Jahrhundert“

(Das Skript basiert auf einem Teil der im Folgenden genannten Literatur und auf Beiträgen, die im Rahmen des Seminars entstanden sind. Es hat kompilatorischen Charakter und bedarf der Ergänzung.)

Inhalt:

Wandervogel, Jugendbewegung

Rockmusik in den 1950er Jahren

Beat, Rock- und Popmusik in den sechziger  und siebziger Jahren

Die Folkbewegung in der BRD

Punk

Skinheads

HipHop


Zur Definition des Begriffs „Jugendkultur“ siehe u. a.:

Kaspar Maase: Jugendkultur. In: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Hg. von Hans-Otto Hügel. S. 40–45

 

Wandervogel (bis 1914), Jugendbewegung (ab 1918) bis 1933

Literatur (Auswahl)

Farin, Klaus (2001): generation kick.de. Jugendsubkulturen heute. München

Feuchter, Anne (1986): „Und singen wir ein frisches Lied und tanzen einen Reigen“. Volkslied und Volkstanz in der Wandervogelzeit. In: Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt und Neuwied. S. 417 ff.

Keupp, Dorothea (1977): Musik der 20er Jahre. In: Weimarer Republik. Hg. vom Kunstamt Kreuzberg und Institut für Theaterwissenschaft der Universität zu Köln. Berlin

Klement, Carmen (1986): Freizeit ist Not. In: Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt und Neuwied. S. 332 ff.

Klusen, Ernst (1969): Volkslied. Fund und Erfindung. Köln

Lehnert, Detlef (1986): Mietskasernen-Realität und Gartenstadt-Träume. Zur Wohnsituation Jugendlicher in Großstädten der 20er Jahre. In: Schock und Schöpfung (s.o.). S. 338 ff.

Linse, Ulrich (1986): Die Freiluftkultur der Wandervögel. Ebd. S. 398 ff.

Mogge, Winfried (1986): „Wir sind dazu verdammt, zu spät gekommen zu sein...“ Eberhard Koebel und die Deutsche Jungenschaft. Ebd. S. 361 ff.

Peukert, Detlev J.K. (1986): Der verbeamtete Wandervogel. Ebd. S. 342 ff.

 

Die Jugendbewegung begann um 1900 mit dem Wandervogel. Ca. 1890 gründete der Stenographielehrer Hermann Hoffmann aus seinem Stenographen-Schülerverein am Berlin-Steglitzer Gymnasium Wandergruppen. Nach Hoffmanns Weggang aus Steglitz übernahm der Primaner Karl Fischer (1881–1941) diese Gruppen, die er seit 1901 „Wandervogel“ nannte.

Fischer, der nach der Schulzeit Jura studierte, umging geschickt das in der Kaiserzeit herrschende Verbot, dass Jugendliche eigene Vereine gründeten: Er brachte einige angesehene Männer aus Steglitz zusammen, die seinen Plänen wohlwollend gegenüberstanden. Diesen „Elternausschuss“ präsentierte er der Schule als Verein. Dessen Aufgaben beschränkten sich im wesentlichen auf die finanzielle Unterstützung. Er war nur ein Aushängeschild, um die Bedenken der Schulbehörde gegen den Wandervogel zu zerstreuen. Die Schüler selbst führte Fischer in einem „Scholarenbuch“. Sie galten nicht als Vereinsmitglieder, obwohl sie den Wandervogel ausmachten. Fischer entschied darüber, wer in das Scholarenbuch aufgenommen wurde – was nicht leicht war. Später wurde Fischers autokratischer Führungsstil kritisiert. Viele Querelen führten schließlich dazu, dass er sein Amt niederlegte.

Der „Wandervogel“ zersplitterte sich in zahlreiche Bünde, die oft heftig miteinander konkurrierten. Geteilter Meinung war man u. a. über die Rolle der Mädchen. Im „Wandervogel, Deutscher Bund“, den Hans Breuer leitete, wurden sie als Mitglieder anerkannt.

In wenigen Jahren hatte sich der Wandervogel, von Berlin-Steglitz ausgehend, im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitet.1912 schlossen sich im „Wandervogel e.V.“ die verschiedenen Bünde größtenteils wieder zusammen. Doch der Erste Weltkrieg bedeutete eine tiefe Zäsur.

Im Mittelpunkt des Wandervogels standen Fahrten, bei denen man im Freien oder auf einem Heuboden kampierte. Man wollte der Großstadt entfliehen. Die Faszination solcher Fahrten war vermutlich sehr groß sein in einer Zeit, als es noch kaum Tourismus gab und die Mehrheit der Bevölkerung wohl selten verreiste. Die Wohnungen vieler Menschen waren düster. Die Epoche der Reichsgründung von 1871 bis in die 1920er Jahre war gekennzeichnet durch eine große Wohnungsnot der breiten Volksschichten (s. Lehnert 1986).

Zwischen Autonomie und Heteronomie:

Der Wandervogel huldigte dem (romantisierten) Vorbild der fahrenden Scholaren des Mittel­alters und der reisenden Handwerksburschen. Deren Dasein entsprach dem Ideal eines wilden, natürlichen, von bürgerlichen Zwängen befreiten Lebens. Die Vorstellungen des Wandervogels richteten sich gegen die Elterngeneration und deren bürgerliche Normen, auch gegen das damalige Schulsystem.

Die wilhelminischen Oberschichten reagierten zunächst schockiert auf die Gründung des Wandervogels. Zu Beginn trat die Bewegung anscheinend recht unkonventionell in ihrem Gebaren und ihrer Kleidung, frei von gesellschaftlichen Zwängen, ja sogar „anarchisch“ auf (Farin 2001, S. 36) – oder handelte es sich dabei bei den Erwachsenen um Projektionen negativer Vorurteile? Jedenfalls scheint der Wandervogel sehr bald die Zustimmung der Eltergeneration gefunden zu haben, der viel daran gelegen war, dass die Jugendlichen ihre Freizeit in einem geordneten Rahmen verbrachten – dies vor allem auch angesichts des wirtschaftlichen Elends nach dem Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Gefahr der Verwahrlosung Jugendlicher.

Als eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des Wandervogels wird das Treffen Jugendlicher 1913 auf dem Hohen Meißner, einem ca. 750 Meter hohen Berg im nordöstlichen Hessen, Nähe Kassel, erwähnt. Dort wurde die folgende Direktive formuliert: „Die freideutsche Jugend will ihr Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit gestalten.“

Demgegenüber wird in neueren wissenschaftlichen Untersuchungen oft die Auffassung vertreten, große Teile der Jugendbewegung seien „alles andere als autonom“ gewesen. „Vielmehr wurde [sie] von erwachsenen Pädagogen zur Ausfüllung der ‚Kontrollücke zwischen Schulbank und Kasernentor’ inszeniert. Die Freizeitgestaltung in der Jugendgruppe war hier nichts anderes als die Fortsetzung der Schule mit anderen Mitteln... Jugendlichkeit in solchen Gruppen gestaltete sich nach dem Wunschbild der Pädagogen, als beaufsichtigter Lernprozeß“ (Peukert 1986, S. 343). Allerdings waren die Vorstellungen von Wandervogel und Jugendbewegung weitgehend geprägt von „kulturpädagogischen Jungpädagogen“ (Peuckert 1986, S. 343), die das Schulsystem reformieren wollten.

Die Jugendbewegung vor 1933 stand im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Heteronomie. Im NS-Staat wurde diese Ambivalenz weitgehend aufgelöst durch die Zwangseingliederung in die NS-Formationen. Doch auch die staatlichen Jugendorganisationen stellten noch „eine Art Gegenautorität gegen schulische und familiale Kontrollansprüche“ dar (Peukert 1986, S. 344).

„Trotz allen Geredes vom ‚Generationenkonflikt’ engagierten sich die Wandervögel in erster Linie nicht gegen die Eltergeneration, sondern für das Recht der Jungen auf eigene Freiräume und Geselligkeitsformen. Sie suchten Distanz zu den Alten, aber nicht Opposition“ (Farin 2001, S. 38).

Als einen der Gründe für das gebremste Autonomiestreben der Jugend nennt Farin wirtschaftliche Abhängigkeit von der Elterngeneration. „Bafög gab es noch nicht, und ArbeiterInnen mit eigenem Einkommen waren unter den bürgerlichen Wandervögeln rar“ (Farin 2001, S. 37). Es gab weder ein frei verfügbares Taschengeld noch Ferienjobs. Um die Freizeitkleidung und Accessoires, mit denen man sich vom Erwachsenenleben abzugrenzen versuchte, und die Wanderungen, Reisen u.a. Freizeitaktivitäten zu finanzieren, blieb man auf die finanzielle Unterstützung der Elterngeneration angewiesen.

Die anfängliche Befürchtung, im Wandervogel verstoße man gegen sexuelle Tabus, bewahrheitete sich nicht; dies, obgleich sich der Wandervogel nach 1900 mit Körperkulturbewegungen verband, denen das Bedürfnis zugrunde lag, sich von körperlichen Fesseln zu befreien und zur Natürlichkeit zurückzukehren. Die Kleidung musste bequem sein: Stehkragen und Manschetten verschwanden, ebenso Korsett, Stöckelschuhe, ausladende Hüte u.a. Am extremsten äußerte sich der „Schrei“ nach „Licht, Luft, Sonne“ (Linde 1986, S. 398) bei den Nudisten, die alle Hüllen fallen ließen.

Doch war diese Nacktkultur anti-erotisch. „Der Nudismus brachte das Unerhörte zuwege, die Hüllen öffentlich fallen zu lassen und gleichzeitig das Nackte zu entsexualisieren“ (Linse 1986, S. 399). Ein zentraler Begriff der Körperkulturbewegungen war der der „Körperstählung“ (ebd.). Die asketische Körperstählung galt als Mittel gegen „krankhafte Sinnlichkeit“. Man mied u.a. Alkohol und Sexualität und propagierte eine spartanische, abstinente Haltung: Wanderungen und Sport dienten der Selbstdisziplinierung. Mit dem Verzicht auf Alkohol und Nikotin grenzte man sich u.a. gegen die männerbündischen studentischen Verbindungen ab, in denen Alkoholexzesse an der Tagesordnung waren.

Mädchen waren anfänglich gar nicht beteiligt. Das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen sollte auch später „kameradschaftlich“ sein.

In der Tendenz des Wandervogels zu körperlicher und geistig-moralischer Selbstdisziplinierung sehen manche Kritiker ideologische Gemeinsamkeiten mit nationalsozialistischen Vorstellungen von Wehrertüchtigung durch Sport und „Kraft durch Freude“. Viele idealistische Wandervogel-Jugendliche seien denn auch mit naivem Patriotismus und „erlebnishungrig in die ‚Stahlgewitter’ des Ersten Weltkriegs“ marschiert (z.B. Farin 2001, S. 39).

Ideelle Gemeinsamkeiten mit völkischen und nationalistischen Gruppierungen drücken sich u.a. in vielen Wandervogel-Liedern aus: In Landsknechts- und Soldatenliedern werden Kampf und Tod häufig verherrlicht. Im Krieg glaubte man die Gegensätze und Konflikte zwischen den sozialen Klassen zugunsten einer „Volksgemeinschaft“ ausgelöscht. Im Vorwort der Kriegsauflage des „Zupfgeigenhansl“ von 1915 schrieb dessen Herausgeber Hans Breuer:

„Der Krieg hat dem Wandervogel recht gegeben, hat seine tief nationale Grundidee los von allem Beiwerk stark und licht in unsere Mitte gestellt.

Wir müssen immer deutscher werden. Wandern ist der deutscheste aller eingeborenen Triebe, ist unser Grundwesen, ist der Spiegel unseres Nationalcharakters überhaupt.

Und lasst Euch nicht irre machen! Jetzt erst recht gewandert! Erwandert euch, was deutsch ist.“

Viele Wandervögel zogen voller patriotischer Begeisterung in den Krieg; viele – unter ihnen auch Breuer – kamen um.

„Zwar hatte der Wandervogel durchaus den Anspruch einer ‚klassenlosen Jugendbewegung’, doch in der Realität blieben die Ideen und Ideale der Wandervögel eng ihrer eigenen sozialen Herkunft verbunden, und Arbeiterjugendliche fanden nur sehr selten den Weg in ihre Reihen“ (Farin 2001, S. 40). Letzteren fehlte es an Freizeit. In den zwanziger Jahren betrug die wöchentlich Arbeitszeit mehr als 50 Stunden (genauere Angaben s. Klement 1986, S. 334). Urlaub war knapp bemessen: Fast ein Viertel der Jugendlichen hatte gar keinen Urlaub und nur 15% hatten einen Jahresurlaub von mehr als acht Tagen (s. Klement 1986, S. 335). Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren nicht nur viele Erwachsene, sondern auch Jugendliche arbeits- und mittellos. Selbst wenn sie genügend Zeit gehabt hätten, so wären sie nicht in der Lage gewesen, Freizeitaktivitäten zu finanzieren.

Darüber hinaus waren den Arbeiterjugendlichen die Umgangsformen und der Lebensstil der Mittelschichtjugendlichen, die den Wandervogel prägten, fremd.

In den zwanziger Jahren entstand eine proletarische Variante des Wandervogels: die „Wilden Cliquen“, eine autonome Jugendsubkultur, die sich vom bürgerlichen Wandervogel abgrenzte, ebenso von der Hitlerjugend und auch von der eigenen Stammkultur (siehe dazu Farin 2001, S. 40 f.). Zu ihnen gehörten u.a. die „Edelweißpiraten“.

Nach dem Ersten Weltkrieg ging aus dem Wandervogel die Jugendbewegung hervor. Es ent­standen verschiedene Gruppen: die Bündische Jugend, religiöse Gruppen (z. B. Quickborn), weltbürgerlich-pazifistische und sozialistische Gruppen (z. B. die „Falken“).

Allen Gruppen gemeinsam war die Suche nach gemeinschaftlichen Bindungen außerhalb von Schule und Elternhaus. Zu den wichtigsten gemeinsamen Aktivitäten gehörten: Wandern, Fahrten (auch ins Ausland), das Singen von Volksliedern, Volkstänze, Laienspiel. Zu den Gemeinschaftsritualen zählten auch das Schlafen auf Heu oder Stroh (völlig unverständlich für die Landbevölkerung!) und das gemeinsame Kochen (Linde 1986, S. 401).

Für diese besonderen Aktivitäten wurden auch bestimmte Ausrüstungsgegenstände entwickelt. Den Bedarf daran deckten eigene Wirtschaftsunternehmen. So enthalten Zeitschriften des Wandervogels Werbung verschiedener Firmen, etwa für Zupfgeigen, Kochgeschirr, Rucksäcke, Zelte, Spirituskocher u.v.a. Die Firma Maggi warb gern für ihre praktischen Suppenwürfel, deren Nährwert jedoch umstritten war und heiß diskutiert wurde (Linse 1986, S. 405).

Der Wandervogel traf sich mit verschiedenen pädagogischen Reformbestrebungen der Zeit um 1900, z. B. denen des Pädagogen Gustav Wyneken (1875–1964), der ca. 1900 mit P. Geheeb Landerziehungsheime gründete und 1906 die Freie Schulgemeinde Wickersdorf bei Saalfeld (Thüringen) und die Odenwaldschule. Zu deren Prinzipien gehörten Schülermitverantwortung und -mitverwaltung und Koedukation. Landerziehungsheime waren auf dem Lande gelegene Internatsschulen der Sekundarstufen in freier Trägerschaft, die Unterricht und Erziehung im Sinne sozialen Lernens integrieren wollten.

Der Wandervogel entwickelte ein eigenes Liedrepertoire. Am Steglitzer Gymnasium sang der Musiklehrer Max Pohl mit seinen Schülern alte Volkslieder – an damaligen Schulen etwas Außergewöhnliches! –, die er in den Liedsammlungen von Rochus von Liliencron, Franz Magnus Böhme und Max Friedlaender entdeckt hatte. Zu Pohls Schülern gehörte Hans Breuer (1883–1918), der 1909 den „Zupfgeigenhansl“ herausgab, der das wichtigste Liederbuch der Jugendbewegung wurde. Die erste Auflage umfasste 500 Exemplare. Es folgten zahlreiche Neuauflagen. Bis 1933 wurde der „Zupfgeigenhansl“ in einer Auflage von über einer Millionen Exemplaren verbreitet. Breuers wichtigste Quellen waren der „Deutsche Liederhort“ von Ludwig Erk / Franz Magnus Böhme und die Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen“ von Kretzschmer /­ Zuccalmaglio.

Breuers Sammlung löste das Erscheinen weiterer Liederbücher aus. Es entstand im Wandervogel ein großes Liedinteresse, das auch zu einer regen Sammeltätigkeit führte. Es entwickelte sich auch neue Liedtypen: z. B. Neuschöpfungen aus dem Geist und im Stil alter Volkslieder („Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind weht“, „Wir sind des Geyers schwarze Haufen“).

„Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind weht“ bezieht sich auf den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) und wird manchmal als ein „sehr altes“ Lied aufgefasst und dem 17. Jahrhundert zugeordnet. Tatsächlich jedoch verfasste Ricarda Huch (1864–1947) den Text, und die Melodie wurde in der Jugendbewegung hinzugefügt.

Beliebt bei den Wandervögeln waren Lieder mit Idolen wie Soldaten, Landsknechten, Seeräu­bern und fahrenden Schülern.­ Außerdem gab es einen sentimentalen Liedtypus, dessen „Helden“ verachtete, einsame Menschen waren: Zigeuner, Landstreicher (z. B. Lenaus „Drei Zigeuner fand ich einmal“). Lieder solcher Art und Thematik entstanden auch neu. Einer der damals erfolgreichsten Komponisten neuer Lieder war Hans Heeren (geb. 1893).

Viele Lieder des Wandervogels und der Jugendbewegung entstammten den benachbarten europäischen Ländern, wie „Im Frühtau zu Berge“ aus Schweden, „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ aus Litauen und „Hab’ mein Wagen vollgeladen“ aus den Niederlanden. Die nach 1918 stark einsetzenden Auslandsfahrten der Wandervögel förderten die Internationalität des Liedrepertoires.

Gesungen wurde vor allem in der Gruppe: beim Wandern, Tanzen, zur Unterhaltung etc. Der Gesang wurde instrumental begleitet. Unter den Instrumenten der Wandervogelbewegung dominierten die Gitarre („Zupfgeige“) und die Laute. Viele Gitarrenschulen erschienen. Wiederentdeckt wurde in der Jugendmusikbewegung die Blockflöte. Peter Harlan lernte sie auf einer Englandfahrt 1925 kennen und versuchte sie nachzubauen. Es entstanden viele Volksliedbearbeitungen mit z. Tl. anspruchsvollen Instrumentalsätzen. Sie fanden durch Veröffentlichungen in Liederbüchern, im Rundfunk und auf Schallplatte oft weite Verbreitung.

Auch Volkstänze wurden als brauchbares Element für die Gruppenkultur entdeckt. Sie waren dazu geeignet, Mädchen in das Wandervogelleben zu integrieren. Volkslied und Volkstanz sollten auf alte Werte aufmerksam machen und Operetten, Schlager, zeitgenössische Unterhaltungsmusik und Gesellschaftstänze vertreiben.

Es gab aber auch Kritik an der Überbewertung von Volkslied und Volkstanz: Sie würden von den gegenwärtigen Problemen ablenken und die Entwicklung einer zeitgemäßen Jugendkultur verhindern (Feuchter 1986, S. 418).

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden viele neue Volkslieder geschrieben. Vertonungen von Texten des Dichters Hermann Löns fanden großen Anklang. Es entstand eine eigene „Jugendtanzbewegung“.

Neben der Jugendbewegung entstand die

Jugendmusikbewegung

als deren spezifisch musikalische Ausprägung. Sie führte zur Herausbildung vieler musikalischer Ensembles: Lautengilden, Singkreisen, Kammerchören, die sich – ausgehend von Volksliedsätzen alter und neuer Zeit – auch die mittelalterliche Polyphonie und Barockmusik erarbeiteten.

Zu Beginn der Weimarer Republik gab es an den Schulen kaum einen geregelten Musikunterricht, und den Erwerb eines Musikinstruments und private Unterrichtsstunden konnte sich damals der größte Teil der Bevölkerung finanziell nicht leisten. Das Ziel der Jugendmusikbewegung war der Aufbau eines neuen Musiklebens im Sinne einer „Volksgemeinschaft“, ein Musikleben, an dem jeder partizipieren könne. Ein zentraler Begriff der Jugendmusikbewegung war der der „Gemeinschaftsmusik“. Darunter wurde eine Musik verstanden, die in der „Gemeinschaft“ produzierbar, reproduzierbar und von ihr rezipierbar war. In dieser Idealkonstruktion der „Gemeinschaftsmusik“ ist die Forderung nach Selbst-Musizieren gegenüber dem bloßen Rezipieren im Konzertsaal enthalten sowie die Ablehnung der im Musikleben dominierenden Musik des 19. Jahrhunderts, in der dem Subjekt eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde. Dagegen wurde alte Musik gesetzt, die nach Auffassung der Jugendbewegung nicht ein Subjekt widerspiegelte, sondern eine – vermeintlich intakte – Gemeinschaft vergangener Zeiten.

Die Wickersdorfer Musikbewegung war eine der wichtigsten Strömungen der Jugendmusik. In der von Gustav Wyneken gegründeten Freien Schulgemeinde wirkte seit 1906 August Halm (1869–1929) auf musikalischem Gebiet. Halms Schüler Ernst Kurth (1886–1946) setzte diese Tradition fort. Wesentliches Ziel der Musikerziehung in Wickersdorf war die Erweckung des Gemeinschaftsgefühls zwischen musikalisch Schaffenden und Empfangenden.

Um 1917 wurde die eigentliche musikalische Jugendbewegung bzw. Jugendmusikbewegung be­gründet. Ihr erster markanter Vertreter war Fritz Jöde. Er strebte eine Demokratisierung des Musiklebens ein. Aktives Musizieren sollte für alle sozialen Schichten möglich sein. Jödes Ziel war die Errichtung einer neuen Musikkultur, in der der „Riss zwischen Volk und Musik“ geschlossen werden könne, indem Formen des Musizierens gefunden wurden, die allen ohne besondere Vorkenntnisse ein aktives Mittun ermöglichten, und indem Musikinstrumente entwickelt wurden, die für jeden finanziell erschwinglich waren. Diese Funktion konnte die in den zwanziger Jahren entwickelte Blockflöte übernehmen.

Jödes künstlerische Vorstellungen richteten sich u. a. gegen das Virtuosentum, gegen die Mechanisierung, Industrialisierung und Vermarktung von Musik, auch gegen die gesell­schaftliche und künstlerische Zersplitterung und Spezialisierung. Demgegenüber wurden das Gemeinschaftliche und „Organische“ in der Musik betont. Offene Singstunden dienten der Volksliedpflege; die Volksliedpflege wiederum wurde als Waffe im Kampf gegen den Schlager benutzt. Zur Ausbreitung des Jugendmusikgedankens trugen Singtreffen, Schulungswochen und Lehrgänge bei. Auf Anregung Jödes entstanden Jugendmusik- und Volksmusikschulen als Aus­bildungsstätten für elementare Musikübung (Singen, rhythmische Erziehung, elementares Musizieren). Sie trugen zur Überwindung der Spaltung von Laien und Fachmusikern bei. Seit 1919 bildeten sich Musikgruppen im Sinne der Musikpflege Jödes; sie wurden später „Musikantengilden“ genannt.

Gefördert wurden Jödes pädagogische Reformen von politischer Seite. In den Jahren 1918 bis 1932 arbeitete Leo Kestenberg als Musikreferent im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Unterstützung erhielt Kestenberg durch den Orientalisten Carl Heinrich Becker, der im Verlauf der zwanziger Jahre mehrmals Kultusminister war. Zu ihren Zielen gehörten die Volksbildung, d. h. die Bildung aller Schichten des Volkes, die Öffnung der kulturellen Institutionen für die gesamte Bevölkerung und die Schaffung von Bildungseinrichtungen. Kestenberg wurde 1932 seines Amtes enthoben.

Entscheidend für die Musikerziehung der zwanziger Jahre wurde die Kestenberg-Reform. Sie betraf den gesamten Ausbildungsbereich Musik – von der musikalischen Früherziehung bis zur Ausbildung an Musikhochschulen und Akademien. Kestenbergs „Denkschrift über die gesamte Musikpflege in Schule und Volk“ erschien 1924 und wurde nach und nach durch Erlasse des Ministeriums verbindlich gemacht. Sie formulierte erstmals eine durchgehende Konzeption der Musikerziehung. Es wurden Lehrpläne für die einzelnen Alterstufen entwickelt. Der Musik- wie auch der Kunsterziehung wurde in der Schule ein gleichberechtigter Platz neben den wissen­schaftlichen Fächern zugewiesen. Eine Studienordnung für Musikerzieher – sowohl im Bereich der Privat- als auch der Schulmusikerziehung – wurde verbindlich; bisher hatte es auf diesem Gebiet anarchische Verhältnisse gegeben.

Die Reformen Kestenbergs orientierten sich an der Jugendbewegung. Deren Vorstellungen begannen die Lehrpläne der öffentlichen Schulen zu prägen. Sichtbar wurde die Verbindung von Schul- und Jugendmusik durch die Berufung von Fritz Jöde an die Staatliche Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin, die 1923 erfolgte. 1930 wurde innerhalb der Akademie ein Seminar für Volks- und Jugendmusikpflege eingerichtet.

Das schulische Liedrepertoire wurde nach und nach beeinflusst durch die Jugendbewegung. Zuvor dominierte ein aus dem 19. Jahrhunderts überliefertes nationalistisches Liedrepertoire. Kestenbergs Reform führte zu einem allmählichen Wandel: Ältere Volkslieder wurden ins schulische Repertoire aufgenommen, das ideologische Liedgut des 19. Jahrhunderts – darunter viele, die den Kaiser verherrlichten – verschwand allmählich.

Einfluss gewann die Musikantengilde auch auf das zeitgenössische Musikschaffen. Die entscheidende Begegnung mit der neuen Musik kam 1926 auf einer Arbeitswoche in Brieselang bei Berlin statt, an der u. a. Paul Hindemith als Gast teilnahm. Für das Orchester des Biebersteiner Landschulheimes komponierte Hindemith eine Spielmusik für Streichorchester mit Flöte und Oboe op. 43,1 (Erstaufführung 1927). Seitdem stellten sich zahlreiche Komponisten in den Dienst der musikalischen Jugendbewegung: Cesar Bresgen, Hermann Erpf, Armin Knorr, Felicitas Kukuck, Jens Rohwer, Heinrich Spitta, Kurt Thomas, Ludwig Weber u. a.

Der Verlag der Musikantengilde war der Georg Kallmeyer-Verlag in Wolfenbüttel (nach 1945 Möseler-Verlag).

1952 wurde die Musikantengilde umbenannt in „Arbeitskreis Junge Musik“.

1923 führte der Volksliedforscher Walther Hensel in der kleinen Waldsiedlung Finkenstein (bei Mährisch-Trübau) die erste Singwoche durch. 1924 begründeten Richard Poppe, Karl Vötterle u. a. Freunde Hensels den „Finkensteiner Bund“. Im Mittelpunkt der Arbeit des Bundes stand die Musikerziehung. Singwochen, Lehrgänge, Jugendlager etc. wurden veranstaltet. Besonders gepflegt wurden Volkslied, Volksmusik und Volkstanz. Dabei galt die „völkische Idee“ als verpflichtend. Hensels Liedpflege richtete sich u. a. gegen das sentimentale „Schein-Volkslied“ des 19. Jahrhunderts. Seit 1924 gab Hensel die „Finkensteiner Blätter“ heraus. Der offizielle Verlag des Finkensteiner Bundes war der Bärenreiter-Verlag.

Großen Einfluss gewann der Finkensteiner Bund auch auf die evangelische Kirchenmusik, die eine grundlegende Erneuerung erlebte. 1929 Gründung der Zeitschrift „Musik und Kirche“. Neuentdeckung der Werke von Heinrich Schütz; Gründung der Heinrich Schütz-Gesellschaft 1929 (1930?) durch Karl Vötterle, Hans Joachim Moser, Fritz Schmidt u.a.; zahlreiche Neuausgaben von Werken Schütz’ im Bärenreiter-Verlag. Der Finkensteiner Bund war auch an der Entwicklung des Posaunenchorwesens beteiligt (Wilhelm Ehmann); ebenso an der Orgelbewegung, am Instrumentenbau und an der Musikforschung. Eine Autorität auf dem Gebiet der Stimmbildung war Olga Hensel.

1933 wurden alle Verbände aufgelöst. Ein Teil wurde „gleichgeschaltet“ zu nationalsozialistischen Organisationen; nicht zur Anpassung bereite Organisationen entwickelten Widerstand gegen das NS-Regime. Die Singbewegungen um Fritz Jöde und Walther Hensel wurden 1934 in den Reichsbund Volkstum und Heimat eingegliedert. Der Finkensteiner Bund setzte seit 1933 seine Arbeit im „Arbeitskreis für Hausmusik“ fort. Die übrige Jugendmusik wurde 1933–44 zum großen Teil in die Musikarbeit der Hitler-Jugend (geleitet von der Reichsjugendführung) überführt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg traten Jugendbewegung und Jugendmusik erneut in Erscheinung. Gründung einer „Akademie der deutschen Jugendbewegung“ in Düsseldorf, Neugründung von Jugendverbänden und -organisationen. Der „Arbeitskreis für Hausmusik“ und Jödes „Musikantengilde“ (später „Arbeitskreis Junge Musik“) setzten ihre Arbeit fort. 1946 entstand die katholische „Werkgemeinschaft Lied und Volk“ (Haus Altenberg). Die „Jeunesses musicales“ (Sitz: Brüssel) und in deren Rahmen die „Musikalische Jugend Deutschlands“ (Sitz: München) bemühen sich um Jugendkonzerte und aktive Erziehungsarbeit.

 

Rockmusik in den 1950er Jahren

Literatur (Auswahl)

Cornelsen, P. / Kain, H.D. (1981): Bill Haley. Bergisch-Gladbach

Farin, Klaus (2001): generation.kick.de. Jugendsubkulturen heute. München 2001. S. 44 ff.

Faulstich, Werner (1983): Vom Rock’n’Roll bis Bob Dylan. Gelsenkirchen

Hoffmann, Raoul (1981): Rock Story. Drei Jahrzehnte Rock & Pop Music von Presley bis Punk. Frankfurt a.M., Berlin, Wien

Jerrentrup, Ansgar (1981): Entwicklung der Rockmusik von den Anfängen bis zum Beat. Regensburg

Krüger, Heinz-Hermann (1986a): „Es war wie ein Rausch, wenn alle Gas gaben“. In: Schock und Schöpfung – Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt und Neuwied. S. 269–274

Krüger, Heinz-Hermann (1986b): Viel Lärm ums Nichts? Jugendliche ‚Existentialisten‘ in den 50er Jahren. Ebd. S. 263–268

Lindner, Rolf (1986): Teenager – ein amerikanischer Traum. Ebd. S. 278–283

Maase, Kaspar (1992): BRAVO Amerika: Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Hamburg

Shaw, Arnold (1978): Rock’n’Roll. Die Stars, die Musik und die Mythen der 50er Jahre, Reinbek bei Hamburg (Originalausgabe 1974)

Wagner, Peter (1999): Pop 2000. 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland (Begleitbuch zu der gleichnamigen Sendereihe des WDR in Co-Produktion mit den 3. Programmen der ARD). Hamburg. Mit 8 CDs

Ziehe, Thomas (1986): Die alltägliche Verteidigung der Korrektheit. In: Schock und Schöpfung – Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt und Neuwied. S. 254–258

 

Die 1950er Jahre in der BRD werden im allgemeinen charakterisiert als eine „bleierne Zeit“ der Restauration, als eine verkrampfte, erstarrte Epoche, in der es versäumt worden sei, sich mit den Ursachen und Auswirkungen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Demgegenüber gibt es neuere Untersuchungen, die dieses negative Bild revidieren und den Optimismus dieser Zeit, ihre Aufbruchsstimmung und Neugier, neue Möglichkeiten zu entdecken, hervorheben (z. B. Maase 1992).

In einer Untersuchung von 1992 charakterisiert Kaspar Maase die fünfziger Jahre in Deutschland als eine Epoche ideeller und kultureller Konflikte. Damals prallten eine stark reaktionär-nationalistische Tradition und liberale Bestrebungen, die sich am westlichen Ausland – insbesondere den USA – orientierten, aufeinander. Der Konflikt wurde nicht auf der politischen Bühne ausgetragen, denn die meisten Bürger der BRD befürworteten eine Einordnung ins westliche Bündnis. Auf kulturellem Gebiet jedoch gab es einen ausgeprägten Anti-Amerikanismus, der bereits eine lange Tradition aufwies. Amerikanische Kultur bzw. das, was man darunter verstand, wurde als vulgär und plebejisch abgelehnt.

Als in den fünfziger Jahren die Populär- und Alltagskultur der USA in der BRD und vielen anderen europäischen Ländern Einfluss gewann, kam es zwischen den Generationen zu heftigen Kontroversen. „Wieviele Familien gab es, bei denen keine Tischrunde verging, ohne dass nicht ein verbaler Krieg über Frisuren, Hosenschnitte, Ausgehzeiten und andere existentielle Themen entbrannte!“ (Ziehe 1986, S. 258). In der BRD war der Konflikt zwischen den Generationen besonders heftig. Es entstanden „Jugendkulturen“, die von der Abgrenzung gegen die Welt der Erwachsenen lebten. Die konservativen Autoritäten hatten durch die Politik zwischen 1933–45 ihre Glaubwürdigkeit verloren, und so suchten die Jugendlichen – man nannte sie nun „Teenager“ – nach neuen Leitbildern. Viele sahen in dem kommerziellen Angebot US-amerikanischer Populär- und Alltagskultur eine Alternative zu den Orientierungen, die ihnen Familie und Schule boten.

Betrachtet man genauer, welche kulturellen Produkte damals die „Amerikanisierung“ bewirkten, so kommt man zu dem Schluss, dass die meisten von ihnen nicht den „kulturtragenden“ Schichten der USA entstammten, sondern den meist ausgegrenzten sozialen Unterschichten, insbesondere der diskriminierten farbigen Bevölkerung. Die kulturellen Elemente, die seit den 1950er Jahren den Stil der Jugendlichen international prägten, entsprachen weder in den USA noch in Europa den Normen der weißen bürgerlichen Mittelschicht. In den USA wurden sie als „vulgär“ verachtet, während sie in Europa als Inbegriff kultureller Amerikanisierung Misstrauen hervorriefen. Die Entwicklung der modernen Popmusik ist undenkbar ohne afroamerikanische Einflüsse. Zugleich ist die international einflussreiche Musik der US-Kulturindustrie geprägt von populären Traditionen der lateinamerikanischen und karibischen Musik.

Unter den Jugendlichen in der BRD gab es in den 1950er Jahren zwei Hauptgruppen: die „Existentialisten“ und die „Halbstarken“. Die „Existentialisten“ fühlten sich dem französischen Existentialismus verbunden, der sich nicht nur in der Philosophie niederschlug, sondern ebenso in Literatur, Kunst, Film und auch in der Kleidung u. a. Modeerscheinungen. Der Urheber und bedeutendste Vertreter des französischen Existentialismus war Jean-Paul Sartre; weitere bekannte Repräsentanten die Schriftsteller Albert Camus, Françoise Sagan und die Chansonsängerin Juliette Gréco.

Die „Existentialisten“ unter den Jugendlichen setzten sich vorwiegend aus Gymnasialschülern und Studenten zusammen, die meist dem bürgerlichen Milieu entstammten. Zu ihren äußeren Kennzeichen gehörten u. a. schwarze oder zumindest dunkle Kleidung, kurz geschnittene Haare („Cäsarschnitt“), bei den männlichen Jugendlichen Bärte und schwere Brillen. Die Existentialisten frequentierten Jazz-Keller, wo sie Modern und Cool Jazz (in Abgrenzung u. a. von populäreren Stilarten des Jazz) hörten. Trotz der Verwandtschaft mit den amerikanischen Beatniks und ihrer Vorliebe für Jazz war ihre Haltung frankophil und antiamerikanisch. Ihre Zeitschrift war „Twen“. Existentialisten gaben sich gern als gesellschaftliche Außenseiter, sie grenzten sich sowohl von den proletarischen Halbstarken als auch von bürgerlichen Konventionen ab.

Die zweite Gruppe, die „Halbstarken“, setzte sich überwiegend aus jugendlichen Arbeitern und Lehrlingen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren zusammen. Mit ihnen erlebten die „Wilden Cliquen“ der Weimarer Republik ein Comeback. Neu war, dass sie durch angloamerikanische Vorbilder beeinflusst waren (die „Rocker“). Als wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu ähnlichen Gruppierungen vor 1945 in Deutschland nennt Farin die kommerzielle Vereinnahmung: „Die Tage der kommerziellen Unschuld von Jugendkulturen sind damit gezählt. Von nun an werden selbst rebellischste Subkulturen nicht mehr unbeeinflusst von kommerziellen Interessen, sozusagen ganz authentisch auf der Straße, entstehen und gedeihen – ganz zu schweigen von den Freizeitkulturen des jugendlichen Mainstreams“ (Farin 2001, S. 53).

Öffentliches Aufsehen erregten die „Halbstarken“ vor allem durch Krawalle und Massenschlägereien im Anschluss an Rock’n’Roll-Filme und -Konzerte. Ihre Aktionen waren vor allem gegen die Autorität der Erwachsenen und des Staates gerichtet. Sie liebten Provokationen und prägten – obgleich sie nur einen kleinen Prozentsatz der Gesamtjugend ausmachten – bei den Erwachsenen negative Vorstellungen von „der Jugend“; dies sowohl in der BRD als auch in der DDR, für deren Regierende das Verhalten der Halbstarken oder Rocker die anarchistischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft widerzuspiegeln schien (Farin 2001, S. 50). In der Bundesrepublik übernahmen die Halbstarken ab ca. 1955 die Angebote der amerikanischen Massenkultur: Jeans, Lederjacken, Schnürsenkel-Schlipse, Elvis-Tolle u. a.

In der Halbstarkenbewegung der 1950er Jahre entstand eine eigene jugendliche Teilkultur, durch die die jüngere Generation ihre Distanz zur Welt der Erwachsenen ausdrückte. Auf den Gebieten der Musik, des Films, der Mode etc. entstanden spezielle Produkte für die Jugendlichen. Vor allem in den Nachkriegsjahren war es üblich gewesen, dass Kinder und Jugendliche die abgelegte und umgearbeitete Kleidung der Erwachsenen trugen oder aber die Kleidung von ihren älteren Geschwistern übernahmen. Nun jedoch kam modische Konfektionsware für junge Leute ins Angebot. Seit 1955 gab es auch Filme, die speziell ein jugendliches Publikum ansprachen, in die bundesdeutschen Kinos: z. B. „Der Wilde“ („The Wild One“) mit Marlon Brando als Motorrad-Rocker, „Die Saat der Gewalt“ („The Blackboard Jungle“) mit dem berühmt gewordenen Song „Rock Around The Clock“ und Filme mit dem Ende September 1955 tödlich verunglückten James Dean. Die wichtigste Zeitschrift der Jugend-Populärkultur (nicht speziell der Halbstarken-Kultur) in der BRD wurde „BRAVO“. Sie erschien seit 1956.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung einer eigenen jugendlichen Teilkultur war in den 1950er Jahren ein gewisser materieller Wohlstand. Durch die allgemeine wirtschaftliche Prosperität in der Eisenhower-Ära stellten die Jugendlichen in den USA ein neues marktwirtschaftliches Potential dar. In der BRD stieg im Laufe der fünfziger Jahre das Realeinkommen eines großen Teils der Bevölkerung erheblich. Der finanzielle Spielraum der Familien nahm zu. Die Jugendlichen erhielten mehr Taschengeld. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Entfaltung neuer Aktivitäten war die Verkürzung der Arbeitszeit; 1957 wurde z. B. die 5-Tage-Woche eingeführt.

Durch mehr Geld und mehr Freizeit wurden neue Aktivitäten möglich, z. B. der Besuch von Kneipen, in denen oft Musikboxen (Jukeboxes) mit amerikanischen Schallplatten standen. 1957 waren in der Bundesrepublik rund 12 000 davon im Einsatz, und bis 1960 stieg ihre Zahl auf 50 000 (Maase 1992, S. 78). Ohne Musikboxen in Kneipen, Cafés, Milchbars, Eisdielen etc. wäre der internationale Siegeszug des Rock’n’Roll weit weniger beeindruckend ausgefallen.

Weitere technische Neuerungen verhalfen dem Rock’n’Roll zum Durchbruch: Folgenreich war die Umstellung des Schallplattenmaterials von Schellack auf den Kunststoff Vinyl. Gegenüber den alten 78er-Schellackplatten hatten die neuen Schallplatten viele Vorteile: Sie waren leichter, dünner und bruchsicher. Die Abspielgeräte wurden besser. Es entstanden die 45er-Singles, die auch preislich attraktiv waren. Auf dem Sektor des Radios wurde die Transistor-Technik entwickelt. Es wurden kleine, leicht zu transportierende, preislich günstige Radios hergestellt. Weitere technische Errungenschaften waren verbesserte Mikrophone und Verstärkeranlagen, auch Elektrogitarren. Seit den 1920er Jahren gab es Versuche, E-Gitarren herzustellen, aber erst seit 1950 wurden sie in Massenfertigung produziert.

Durch größeren materiellen Wohlstand und die neuen technischen Errungenschaften wurde das Musikhören erleichtert. Es erhielt einen zusätzlichen Auftrieb, seitdem die Jugendlichen in der BRD allmählich über eigene Zimmer verfügten. Noch 1953 besaßen vor allem die Jüngeren kaum eigene Radios und Plattenspieler. Schon 1960 hatte sich die Ausstattung der Jugendlichen mit solchen Geräten deutlich verbessert. Im Gefolge des Schallplatten-Booms der fünfziger Jahre gab es eine weitere Neuerung: Ende der 1950er Jahre hatte ein Bandleader die Idee, Tanzhallen nicht mehr mit einer Bühne für Musiker, sondern mit einem Plattenspieler und Lautsprechern auszustatten. Von solchen „Record Hops“, die es bald überall in den USA gab, wurden vor allem die Jugendlichen angezogen, denn die Eintrittspreise waren niedriger als bei Tanzveranstaltungen, bei denen Musikgruppen auftraten. Die Record Hops sind die Anfangsform der Diskotheken.

Die Musik der Halbstarken war der Rock’n’Roll. In der Literatur wird er im allgemeinen als eine Synthese von schwarzem Rhythm & Blues (R&B) und weißem Country & Western (C&W) charakterisiert. Der amerikanische Musikmarkt bestand damals aus drei Sektoren: der Popmusik, deren kommerzielles Zentrum die New Yorker Tin Pan Alley war; der weißen „Volksmusik“ des Country & Western (C&W) und dem schwarzen Rhythm & Blues (R&B), damals „race music“ genannt.

Die Mainstream-Unterhaltungsmusik – die Popmusik – der USA war in den fünfziger Jahren positiv, glatt, „familienfreundlich“ und moralisch „sauber“. Ihr vergleichbar ist der damalige deutsche Schlager. Die Sänger solcher Musik waren überwiegend erwachsen. Ihre Interpretationsweise orientierte sich am europäischen Belcanto. Die Zuhörer – im Alter etwa zwischen 20–40 Jahren – entstammten überwiegend der bürgerlichen Mittelschicht der weißen Bevölkerung. Der musikalische Schwerpunkt dieser Musik lag im Melodischen, die rhythmische Komponente blieb im Hintergrund. Die Melodien wurden meist von einem um­fangreichen instrumentalen Aufgebot begleitet, wobei überwiegend das traditionelle europäisch-abendländische Instrumentarium angewendet wurde: Streichorchester und Bläsergruppen. Das Klangbild war relativ weich, und die Lautstärke blieb gedämpft. Es gab keine starken dynamischen Kontraste. Deutsche Schlagersänger der fünfziger Jahre waren u. a. Peter Alexander, Vico Torriani, Freddy Quinn. In Deutschland waren in den damaligen Jahren auch Heimatfilme und -schlager populär.

Zu Beginn der 1950er Jahre stieg in den USA die Nachfrage eines überwiegend jungen weißen Publikums nach afroamerikanischer Musik. Mehrere Radiostationen gestanden ihren Programmgestaltern zu, einen gewissen Anteil an Rhythm & Blues zu senden. Besonders erfolgreich bei der schwarzen und weißen jugendlichen Zuhörerschaft war seit 1952 der Diskjockey Alan Freed mit seiner wöchentlichen Sendereihe „Moondog’s Rock&Roll-Party“; nach dieser Sendung wurde die neue Musikrichtung „Rock’n’Roll“ genannt. Die Bezeichnung „Rock’n’Roll“ stammt von den Afroamerikanern und hat ursprünglich eine sexuelle Bedeutung (s. u.).

Damals begann auch das Publikum der Rhythm & Blues-Veranstaltungen in Tanzhallen, Restaurants und Kneipen sich zu ändern: Weiße Jugendliche mischten sich unter die bisher ausschließlich schwarze Zuhörerschaft. Die Jugendlichen, die sich für R&B interessierten, begannen, sich über die Rassendiskriminierung hinwegzusetzen, und so fand eine ähnliche Entwicklung wie schon vorher beim Jazzpublikum statt. Es wurden nun auch Konzerte mit schwarzen Musikern in Räumen, die bisher weißen Musikern vorbehalten waren, veranstaltet. So gab es in der Rock’n’Roll-Kultur – zumindest teilweise – einen Abbau rassistischer Vorurteile (s. Maase 1992, S. 140 ff.).

Viele Gegner der neuen Popularmusik hingegen reagierten mit moralischer Empörung, z. Tl. auch mit rassistischen Anfeindungen, sowohl in den USA als auch in Europa und speziell in Deutschland, wo die Gedanken nachhaltig durch Nazi-Propaganda verseucht waren und der diffamierende Begriff „Negermusik“ grassierte. Bürgerliche und auch kirchliche Kreise begegneten der neuen Jugendkultur z. Tl. mit größter Intoleranz. Es kam zu harten Konfrontationen zwischen den verschiedenen Generationen. Einiges wurde unternommen, um das Interesse der Teenager vom Rock’n’Roll abzuwenden. Eine Fernsehstation z. B. strahlte eine „Polka Time Show“ im ganzen Land aus, in der Hoffnung, dass die Polka auf Jugendliche attraktiver wirkt als der Rock’n’Roll (Shaw 1978, S. 167).

Auch in der DDR hatten die amerikanischen Vorbilder Einfluss auf die Jugendlichen – zum Missfallen der SED und ihrer Jugendorganisation, der FDJ. Man versuchte (vergeblich), Gegenbilder zu schaffen. So wurde z.B. ein Tanz, der „Lipsi“, als Antwort auf den Rock’n’Roll entwickelt, aber ohne die von den Funktionären erhoffte Wirkung.

Der Rock’n’Roll wird als eine Synthese von (schwarzem) Rhythm & Blues und (weißem) Country & Western, charakterisiert. Er entstand, indem weiße Musiker den schwarzen R&B weiß nachzuspielen begannen (s. z. B. Jerrentrup 1981, S. 62). Mit ihren Coverversionen hatten sie Erfolg. Schwarzen Musikern war die Aufnahme in die Pop-Charts aufgrund der dort herrschenden Rassenschranken verwehrt. Wurde aber ihre Musik von Weißen nachgespielt, konnte sie diese Grenze ungehindert passieren. Entscheidend dabei war auch, dass die großen Plattenfirmen mit ihrem technischen Potential, ihrem besseren Vertriebswesen und ihren Möglichkeiten der Werbung den schwarzen Musikern zunächst nicht zur Verfügung standen. So hatten die schwarzen Originalaufnahmen im Konkurrenzkampf eine schwache Position, obgleich die Aufnahmen oft musikalisch interessanter waren. Insbesondere zwischen 1954–56 profitierten viele weiße Musiker in den USA von den Covers ursprünglich schwarzer Musik. „Aber es dauerte nicht lange, da mussten sich die weißen Cover-Versionen die Verkäufe mit den schwarzen Originalen teilen, und nach einer Weile verzichteten die weißen Teenager auf die weißen Imitationen und gaben den schwarzen Originalaufnahmen den Vorzug“ (Shaw 1978, S. 137).

Die Praxis der Cover-Einspielungen machte die ursprünglich schwarze Rhythm & Blues-Musik auch unter den weißen Zuhörern überregional bekannt. So wurde z. B. „Rock Around The Clock“, das zuerst der Afroamerikaner Sonny Dae sang, erst in der Version mit Bill Haley populär.

Bill Haley (der „Mann mit der Schmalzlocke“) wurde 1925 oder 1927 (unterschiedliche Angaben in der Literatur) in der Nähe von Detroit geboren, er starb 1981. Als Jugendlicher fing er an, Gitarre zu spielen. Nach Beendigung der High School verschrieb er sich der Musik. Er gründete eine Band, aus der später – bei häufiger Umbesetzung und mehrmaliger Namensänderung – die „Comets“ hervorgingen, die Gruppe, mit der Haley berühmt wurde.

Als der offizielle Start des Rock’n’Roll gilt das Jahr 1953, als Bill Haleys „Crazy Man Crazy“ die Spitze der amerikanischen Hitparaden erreichte. Dieser Titel gilt als erster Rock’n’Roll-Song. Haleys zweite Rock’n’Roll-Platte „Shake, Rattle and Roll“ war vom September 1954 an zwölf Wochen lang in den Hitparaden.

Zu internationaler Berühmtheit verhalf Haley aber erst der Song „Rock Around The Clock“. Ihn hatten 1953 zwei weiße Songschreiber aus Philadelphia geschrieben. Eine R&B-Platte davon mit dem Farbigen Sonny Dae war nicht erfolgreich (Shaw 1978, S. 145). Im April 1954 entstand die Aufnahme mit Haley und „The Comets“; zunächst fand auch sie nicht viel Beachtung. Ein wichtiger Faktor für den späteren Erfolg war, dass „Rock Around The Clock“ als Titelsong des Anfang 1955 in den USA angelaufenen Films „Blackboard Jungle“ („Saat der Gewalt“) verwendet wurde. Der Film war ein Halbstarken-Melodram, in dem es um Gewalt und Rassenhass unter Jugendlichen in einer amerikanischen Großstadt ging. Der Film befrachtete den Song mit einem Inhalt, der von den Autoren und Haley ursprünglich kaum intendiert war: „Eine unbeabsichtigte Verbindung von Rock’n’Roll und Entfremdung und Feindseligkeit der Teenager wurde geknüpft. Krawalle bei der Aufführung des Films in Princeton, New Jersey, und in Städten des Auslandes erweckten den Eindruck, der Song sei ein Aufruf zur Rebellion. Unabsichtlich wurde hiermit der älteren Generation Anlass gegeben, die neue Musik mit Rowdytum, Gewalttätigkeit und Jugendkriminalität in Verbindung zu bringen“ (Shaw 1978, S. 147).

Im Mai 1955 gelangte „Rock Around The Clock“ in die nationalen Pop-Charts, erreichte im Juli die Spitze der amerikanischen Hitparade und belegte acht Wochen lang den ersten Platz. „Rock Around The Clock“ wurde der erste internationale Hit des Rock’n’Roll (Shaw 1978, S. 247). Besonders eindrucksvoll waren auch die Darbietungen der Gruppe „The Comets“: die akrobatischen Künste des Tenorsaxophonisten Rudy Pompelli sowie des Kontrabassspielers, der sich auf den Boden warf, im Liegen spielte oder sein großes Instrument rotieren ließ.

Haley gilt als der erste weiße Rock’n’Roll-Sänger. Sein internationaler Erfolg blieb jedoch fast ausschließlich auf einen einzigen Song beschränkt: „Rock Around The Clock“, ein Song, der oft die „Nationalhymne“ oder die „Marseillaise“ der damaligen Jugendlichen genannt wird. Haley war jedoch kein Typ, mit dem sich die Jugendlichen identifizierten, er war u. a. schon relativ alt. Ein Idol der Jugendlichen wurde erst Elvis Presley: Viele wollten so sein und aussehen wie er.

Der Rock’n’Roll wurde auch nach Europa importiert. Resonanz fand er in Westdeutschland insbesondere durch den Sender AFN („American Forces Network“) der amerikanischen Besatzungsmacht. Auch der kommerzielle Sender Radio Luxemburg trug zur Verbreitung amerikanischer Musik in der Bundesrepublik bei. Popularitätsfördernd war in Deutschland, dass Elvis Presley am Ende der 1950er Jahre seine Militärzeit in Hessen verbrachte.

Bill Haley unternahm 1957 seine erste Europatournee. In England wurde er begeistert empfangen. Das Publikum tobte zwar, doch es kam nicht zu Ausschreitungen. 1958 reisten Haley und die Comets nach Deutschland. Am 26. Oktober traten sie im Berliner „Sportpalast“ auf. Es kam zu heftigen Krawallen. Randale gab es auch bei Konzerten in Hamburg und Essen.

Warum hatte „Rock Around The Clock“ eine solche provozierende Wirkung?

-          Einerseits war es der filmische Kontext, der die Rezeption des Songs bestimmte.

-          Der Song thematisiert das Rock’n’Roll-Tanzen, d.h. sich selbst, seine eigene Bedeutung und Funktion. Er enthält jedoch darüber hinaus deutliche sexuelle Anspielungen, die zumindest in den Schwarzenghettos verstanden wurden. Dort hatte „to rock and roll“ (= „wiegen und wälzen“) die Bedeutung von „Liebe, Sex machen“. Ein weiterer zentraler Begriff des Textes ist „Clock“ („Uhr“): Er ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als Instrument der Unterdrückung und Fremdbestimmung, als Symbol für das Leistungsprinzip, das dem Lustprinzip widerspricht. „Dem permanenten, unerbittlichen, reglementierenden Voranschreiten des Uhrzeigers wird die sexuelle Begegnung entgegengesetzt; dem fremdbestimmenden Leistungsprinzip das absolute Lustprinzip. Darum geht es bei diesem Song: Er protestiert gegen eine Gesellschaft, die unterdrückt und pervertiert, und setzt deren Aufhebung, zumindest für eine Nacht, zumindest für die Dauer des Songs“ (Faulstich 1983, S. 46 f.; Weiteres dazu siehe Faulstich 1983, S. 45 ff.).

-          Die Wirkung des Songs ging sicherlich nicht nur von seinem Text aus – falls der überhaupt verstanden wurde. Unmittelbar aufputschend und ekstatisch wirkte vor allem die Musik: u.a. die vielen Textwiederholungen in Verbindung mit dem monotonen, sehr dominanten Rhythmus. Hinzu kommt eine extreme Lautstärke.

Stilelemente des Rock’n’Roll sind u. a.:

- Vorherrschen schneller Tempi

- gerade Taktarten, wobei die Zählzeiten in Triolen unterteilt werden

- Der Takt wird in der „Off-Beat“-Manier akzentuiert, d. h. eine starke Betonung fällt auf die 2. und 4. Zählzeit. Die Instrumente werden primär rhythmisch und nur selten melodisch-figurativ eingesetzt.

- einfache Harmonik, Beschränkung auf kaum mehr als drei Akkorde, permanente Wiederholung einer standardisierten Akkordfolge.

- Instrumentarium: Combo-Besetzung mit solistisch vertretenem Klavier, Saxophon, elektrisch verstärkter Gitarre, Standbass und Schlagzeug

- Shout- and Scat-Gesang, beides Gesangsarten mit afroamerikanischen Wurzeln. Shout oder Shouting ist eine in afroamerikanischer Musik verbreitete ekstatische Art zu singen; Scat eine spezielle Art des Jazzgesangs, deren Wurzeln afrikanische bzw. afroamerikanische Kultmusik sein sollen. Im Scat werden Silben ohne erkennbaren Wortsinn aneinandergereiht.

- große Lautstärke, rauher, scharfer Klang, starke dynamische Wechsel. Die Faszination von „Rock Around The Clock“ z. B. erscheint kaum möglich ohne die Lautstärke.

- keine ausgearbeiteten kompositorischen Vorlagen. Die Musiker improvisierten z. Tl. und orientierten sich an Spielmustern, die während der Übungsarbeit ausgewählt wurden.

- Zur äußeren Erscheinung der Rock’n’Roll-Sänger gehörte die Repräsentation des Männlich-Jugendlichen. Das Durchschnittsalter lag bei etwa zwanzig Jahren. Als Showkleidung bevorzugten sie statt gepflegter Abendanzüge saloppe Kleidung, später u. a. Röhrenhosen – häufig Jeans –, Dreivierteljacken, spitz geformte Schuhe. Anstelle eines „sauberen“ Kurzhaarschnittes wurden die Haare nackenlang getragen, mit Pomade glatt nach hinten gekämmt, vorn eine hohe Stirnwelle geformt (die „Elvistolle“, die viele Gemüter erregte). Den Charakter des Männlichen unterstrichen Bart und Koteletten. Das Auftreten war betont lässig. Kultivierte Umgangsformen wurden vermieden, man gab sich eher roh, gereizt, aggressiv, respektlos. Es wurde ein eigener Lebensstil entwickelt, der sich alternativ zu dem Wert- und Verhaltenskodex der „gesitteten“ Erwachsenen entwickelte.

- Texte: Zentrales Thema ist die Liebe, die freier, mit deutlichen sexuellen Anspielungen und insgesamt weniger prüde als im Schlager besungen wird. Es gab im Hinblick auf das jugendliche Publikum textliche Entschärfungen: Der Song „Shake, Rattle And Roll“, den Haley von einem anderen Musiker übernahm, fing ursprünglich an: „Get outa that bed, and wash your face and hands...“ Die Anspielung auf die Bett-Szene wurde in Haleys Version eliminiert. Nun lautete die erste Zeile: „Get out in that kitchen“ (Shaw 1978, S. 146). – Häufig sind in Rock’n’Roll-Songs Nonsense-Texte, in denen sinnlose Silben aneinandergereiht werden, z. B. in „Tutti Frutti“, gesungen von Little Richard.

Einer der bekanntesten Rock’n’Roll-Musiker war Little Richard, geboren 1932 in Macon, Georgia. Seine Auftritte werden als ekstatisch, ja, als hysterisch beschrieben. Angeblich war der Text des von ihm gesungenen Songs „Tutti Frutti“ zunächst obszön; Little Richard habe ihn in Nachtclubs gesungen und später dann durch Lautmalerei ersetzt, die jedoch – so Faulstich – in Kombination mit dem Boogie-Rhythmus noch immer deutlich genug auf Sexualität ziele (Faulstich 1983, S. 48 f.).

Der Rock’n’Roll war untrennbar verbunden mit dem Tanz, dessen Charakteristika wilde, rasante Bewegungen und artistische Figuren waren, die kaum von Erwachsenen ausgeführt werden konnten. In den Tanzlokalen gab es viele Tanzwettbewerbe.

Die großen Schallplattengesellschaften ließen die neue Musikart zunächst unbeachtet. Erst 1956, als sie sich mit der Bezeichnung „Rock’n’Roll“ durchgesetzt hatte, begannen auch sie, Rock’n’Roll-Sänger an sich zu binden: die Firma RCA z. B. Elvis Presley. Schon 1956, im ersten Jahr von Presleys überregionalem Erfolg, erschienen sieben Single-Platten auf dem Markt, die letzte davon mit dem Titel „Love Me Tender“. In diesem ersten Jahr wurden ca. acht Millionen Elvis-Presley-Platten verkauft.

Elvis Presley: geboren 1935 in Tupelo, Mississippi, als Sohn eines armen Landarbeiters; gestorben im Alter von 42 Jahren (1977) in Memphis. Bevor er seit 1956 als Rock’n’Roll-Sänger hervortrat, war er Lastwagenfahrer. Sein besonderes Markenzeichen war der Gesang, der affektgeladen und exaltiert wirkte: „Er sang atemlos, nach Luft japsend. Presley sang mit einer eigenartigen rhythmischen Betonung. Er betonte völlig unkonventionell, häufig gegen den Sinn der Texte. Seine Artikulationsweise lag zwischen Sprechen und Schreien“ (Hoffmann 1981, S. 17), daher sein Spitzname „Heulboje“. Presleys Auftritte versetzten die ältere Generation und kirchliche, staatliche u. a. öffentliche Autoritäten in Aufruhr. Bei einer Radiostation in Chicago wurden täglich Presley-Platten demonstrativ während einer Sendung zerbrochen. Ein Kritiker schrieb in „Journal-American“ über Presley: „Er kann nicht die Bohne singen und versucht, seine schwache Stimme zu kaschieren, indem er sich so eigentümlich, wenn auch offensichtlich geplant bewegt, daß man sich an die Paarungstänze von aborigines erinnert fühlt“ (Shaw 1978, S. 162). Die Darbietungen Presleys schienen damals sowohl auf Fans als auch auf Gegner eine starke sexuelle Ausstrahlung zu haben. Arnold Shaw beschreibt in seinem bekannten Buch über den Rock’n’Roll der fünziger Jahre Presleys Wirkung folgendermaßen: „Sinatra war ein Sex-Image. Auch Presley hatte Sex, aber der war animalischer, und seine tiefe Stimme war wie das Knurren eines Hundes, der um eine läufige Hündin streicht“ (Shaw 1978, S. 161).

Ein weiterer wichtiger Musiker des Rock’n’Roll war Chuck Berry, ein Afroamerikaner, der 1931 (Wikipedia nennt 1926 als Geburtsjahr) in St. Louis geboren wurde. Er war gleichzeitig Komponist, Texter und Sänger; am bedeutendsten war jedoch sein Gitarrenspiel. Einer seiner bekanntesten Songs war „Maybellene“. Chuck Berry hatte Einfluss auf die späteren Super-Rockstars wie die Beatles und die Rolling Stones, Bob Dylan und die Beach Boys.

Die Plattenindustrie begann, von der „neuen“ Musikrichtung zu profitieren: 1955, im Startjahr des Rock’n’Roll-Booms, betrug der Schallplattenumsatz 277 Millionen Dollar, 1959 bereits 511 Millionen Dollar (zitiert nach Maase 1992, S. 95).

Schon nach wenigen Jahren entstanden verschiedene Mischformen zwischen Rock’n’Roll und anderen Popularmusikarten. Der „reine“ Rock’n’Roll verschwand aus den nationalen Hitparaden und verband sich mit anderen Popularmusikformen. Nur wenige Rock’n’Roll-Musiker blieben ihrem ursprünglichen Stil treu und hatten auch weiterhin eine Anhängerschaft: Fats Domino, Chuck Berry, mit Einschränkungen Bill Haley. Die Industrie verkaufte jedoch auch solche Mischformen unter dem inzwischen bewährten Etikett „Rock’n’Roll“. Auch Elvis Presley näherte sich der „weißen“ Schlagermusik („Rock’n’Pop“).

Mit der Expansion einer Teenager-Konsumindustrie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verloren die Inhalte der Musik ihren aggressiven, rebellischen Charakter. „Was immer kommerziell verwertbar schien, wurde aufgegriffen, aus seinen sozialen Zusammenhängen gelöst, geglättet und als Massenprodukt vermarktet“ (Farin 2001, S. 54). Die Jugend wurde als Quelle finanziellen Profits entdeckt. „Zum ersten Mal in der Geschichte des Marketing wurden nicht einzelne Produkte vermarktet, sondern gleich eine komplette Jugendkultur: Sog. Teenager-Musik..., Teenager-Filme, Teenager-Zeitschriften, Teenager-Klubs und sogar ein eigenes Wörterbuch der Teenager-Sprache... bildeten eine eigene (Konsum-)Welt aus Waren, die nur für Teenager produziert worden waren“ (Farin 2001, S. 55).

Inbegriff einer brav gewordenen, „sauberen“ Teenager-Kultur waren in den USA Pat Boone und in der BRD z. Tl. Peter Kraus und der einstige Kinderstar Cornelia (Conny) Froboess. Peter Kraus und Conny Froboess traten in zwei Filmen gemeinsam auf: „Wenn die Conny mit dem Peter“, „Conny und Peter machen Musik“. Ein weiterer Rock-Star im Deutschland der fünfziger Jahre war Ted Herold. (Sein eigentlicher Name war Harald Schubring.)

Der härtere Rock’n’Roll verschwand nicht, aber er wurde in der Öffentlichkeit und in den Medien zurückgedrängt durch eine Teenagerkultur, die stärker bürgerlich und auch weiblich geprägt war. Aus der Perspektive moralischer Sorge um die Jugend konnte das als Sieg traditioneller Werte und Haltungen verstanden werden. In Wirklichkeit jedoch wanderte der Scheinwerferkegel öffentlicher Wahrnehmung nur weiter, und die Impulse der Halbstarken wurden in verschiedenen subkulturellen Strömungen (Rocker, später Fußballfans) fortgeführt (vgl. Maase 1992, S. 169).

Der Rock’n’Roll war nicht auf die fünfziger Jahre beschränkt, sondern er beeinflusste auch die nachfolgenden Jahrzehnte. Es gab verschiedene Revivals. Besonders beliebt war die „alte“ Rock’n’Roll-Musik am Ende der siebziger Jahre. Tanzschulen stellten damals ein besonderes Interesse bei Jugendlichen fest, Rock’n’Roll tauchte in den Hitparaden auf. Imitatoren von Elvis Presley gibt es noch in der Gegenwart.

 

Beat, Rock- und Popmusik in den sechziger und siebziger Jahren

 

Literatur (Auswahl)

Faulstich, Werner (1983): Vom Rock’n’Roll bis Bob Dylan. Gelsenkirchen

Frith, Simon (1981): Jugendkultur und Rockmusik. Soziologie der englischen Musikszene. Reinbek bei Hamburg

Graves, Barry / Schmidt-Joos, Siegfried: Rock-Lexikon. Über­arbeitete und erweiterte Neuausgabe Reinbek bei Hamburg 1990

Hoffmann, Raoul (1980): Rock Story. Drei Jahrzehnte Rock & Pop Music von Presley bis Punk. Frankfurt/M., Berlin, Wien

Kraushaar, Wolfgang(1986): Time is on my Side. Die Beat-Ära. In: Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Hg. von Willi Bucher u. Klaus Pohl im Auftrag des Deutschen Werkbundes e. V.u. des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart. Darmstadt u. Neuwied. S. 214–223

Schmidt-Joos, Siegfried / Kampmann, Wolf (2002): Pop-Lexikon. Reinbek bei Hamburg

Schroeder, Tom / Miller, Manfred (1986): Haare auf die Szenen. Zur Gegenkultur der HIPPIEYIPPIEYEAHMAKELOVENOTWARANDFUCK&LUCK-Generation. In: Schock und Schöpfung. S. 224–232

Wagner, Peter (1999): Pop 2000. 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland (Begleitbuch zu der gleichnamigen Sendereihe des WDR in Co-Produktion mit den 3. Programmen der ARD). Hamburg. Mit 8 CDs

Wicke, Peter: Rockmusik. Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums. Leipzig 1987

Zinnecker, Jürgen: Jugendkultur 1940–1985. Opladen 1985

zahlreiche Artikel in Wikipedia (u. a. „Strawberry Fields Forever“; „Jimi Hendrix“)

 

Die sechziger Jahre waren im Vergleich mit den fünfzigern eine politisch unruhige, konfliktreiche Zeit. Die Jugendlichen wurden sich damals vieler Probleme bewusst. In den USA setzten sie sich mit den „Civil Rights“, den Bürgerrechten, kritisch auseinander. Sie engagierten sich für die unterdrückte schwarze Bevölkerung und stellten die Konsumgesellschaft und den materialistischen „American way of life“ in Frage. John F. Kennedy, seit 1961 Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, regte dazu an, nach „neuen Grenzen vorzustoßen“ und sich für Unterprivilegierte, Entrechtete und Außenseiter einzusetzen. Überall im Land wurden Ligen gegen den Rassismus und Vereinigungen gegen soziale Repression und autoritäre Macht gegründet. Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King kämpfte für die Gleichstellung der farbigen Bevölkerung. Er wurde im April 1968 ermordet.

Im Oktober 1962 erreichte die Kubakrise, die fast einen dritten Weltkrieg ausgelöst hätte, ihren Höhepunkt. Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy erschossen. 1964 gab es heftige Zusammenstöße zwischen Schwarzen und Weißen. Im Frühjahr 1965 traten die USA in den Vietnamkrieg ein.

Mitte der sechziger Jahre artikulierte sich immer deutlicher Protest. Auf Massendemonstrationen, „Sit-Ins“ und „Teach-Ins“ protestierten vor allem Schüler und Studenten gegen den beginnenden Vietnamkrieg, die Diskriminierung der Schwarzen u. a. soziale und politische Missstände. Der Aufruhr verbreitete sich in vielen anderen Ländern. Einen besonderen Höhepunkt erlebte er im Mai 1968 in Frankreich.

In bezug auf die späten sechziger Jahre spricht man von den „68er-Bewegung“ und meint damit eine Kultur überwiegend Jugendlicher, die stark politisiert war. Die Zeit der APO-Revolten (APO = Außerparlamentarische Opposition) und des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) war eine Phase, in der vieles in Frage gestellt wurde, u. a. die Autorität der Elterngeneration, die in Deutschland für die Nazi-Verbrechen verantwortlich gemacht wurde. Damals gab es auch ein sichtbares Wiederaufleben rechtsextremistischer Tendenzen: 1966 zog die NPD in die Landtage von Bayern und Hessen ein. Die Nazi-Vergangenheit mancher Politiker wurde bekannt, so z. B. die Mitgliedschaft des Bundeskanzlers Kurt-Georg Kiesinger in der NSDAP. Die Entdeckung der damaligen Jugendlichen, dass viele derer, die von ihnen als Autoritätspersonen anerkannt werden wollten (auch an den Universitäten), eine Nazi-Vergangenheit hatten, führte zu einem großen Misstrauen gegenüber Autoritäten.

In der BRD ging 1966 Kurt Georg Kiesinger eine Große Koalition mit der SPD ein. Da es nur noch eine schwache parlamentarische Opposition gab, schien die Existenz einer APO besonders gerechtfertigt.

Durch politische Ereignisse wurde die Bewegung radikaler: Am Gründonnerstag 1968 schoss der arbeitslose rechtsextremistische Josef Bachmann auf den Studentenführer Rudi Dutschke. Der überlebte zwar, schwer verletzt durch einen Kopfschuss, starb aber elf Jahre danach an den Spätfolgen des Attentats. Benno Ohnesorg war ein weiteres Opfer der Studentenrevolte. Als der Schah von Persien am 2. Juni 1967 Berlin besuchte, gab es dort eine Demonstration gegen ihn: Es war u. a. bekannt, dass der Schah Regimegegner foltern ließ. Die Situation zwischen Schah-Anhängern und -Gegnern eskalierte. Schließlich schritt die Polizei gegen die Anti-Schah-Demonstranten ein. Während der heftigen Auseinandersetzungen wurde der Student Benno Ohnesorg von einer Polizeikugel tödlich verletzt. – Die Proteste verloren ihren friedlichen Charakter: In Berlin z. B. zündeten Demonstranten Fahrzeuge des Axel-Springer-Verlags an, des Verlags, in dem die „Bild“-Zeitung erschien, die sich mit negativen Berichten über die linken Studentenproteste besonders eifrig hervortat und daher in linken Kreisen zum Feindbild avancierte.

Ein weiterer Streitpunkt war in Deutschland die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968. Sie wurde bekämpft, weil es Befürchtungen gab, dass durch die in diesen Gesetzen vorgesehene Außerkraftsetzung demokratischer Rechte totalitäre Regime in Deutschland eine neue Chance bekämen – ähnlich wie im Jahr 1933 bei der nationalsozialistischen Machtergreifung.

Im September 1969 wurde Willy Brandt zum Kanzler gewählt. Damit war die Zeit der Großen Koalition (und der schwachen parlamentarischen Opposition) zu Ende. Mit Brandt, der einst gegen das NS-Regime opponiert hatte und ins Exil gehen musste, identifizierten sich relativ viele Jugendliche. Die Studentenbewegung flaute ab. Teile der APO gingen in den politischen Untergrund. Gudrun Ensslin und Andreas Baader begannen am 2. April 1968 mit Brandanschlägen auf Kaufhäuser in Frankfurt am Main das Kapitel des linken Terrorismus.

Im Ostblock schien es in den sechziger Jahren eine Demokratisierung zu geben. In Prag wollte der Parteichef Alexander Dubcek (1921–1992) Reformen und einen freiheitlichen Sozialismus durchsetzen. Dem sog. „Prager Frühling“ wurde jedoch ein baldiges Ende bereitet: In der Nacht zum 20. August 1968 rollten Panzer der sozialistischen „Bruderstaaten“ in Prag ein.

Im Verlauf der sechziger Jahre gab es bei den Jugendlichen verstärkte Tendenzen, sich der etablierten bürgerlichen Gesellschaft (dem „Establishment“) zu widersetzen und aus ihr „auszusteigen“. Zumindest versuchte man, durch Äußerlichkeiten die Erwachsenen zu provozieren, die Männer u. a. durch lange Haare. Es gehörte zur Grundhaltung vieler Jugendlicher in den sechziger Jahren, Grenzen zu überschreiten und Gewohnheiten in Frage zu stellen.

Zunehmend spielten Drogen eine Rolle. So z. B. LSD, das in Rockkreisen populär wurde. Der amerikanische Psychologe Timothy Leary (1920–1996) propagierte in den sechziger und siebziger Jahren den freien, allgemeinen Zugang zu bewusstseinsverändernden Drogen (z. B. Meskalin, LSD). Er gehörte zu denen, die von einer bewusstseinserweiternden (psychedelischen) Wirkung bestimmter Drogen überzeugt waren.

Auch ein Teil der Musikszene wurde durch LSD beeinflusst: 1966/67 gab es unter dem Etikett „Acid Rock“ oder „Psychedelic Rock“ eine Musik, die – ähnlich wie LSD – Halluzinationen erzeugen sollte, die in den Texten verschlüsselte Hinweise auf LSD-Trips enthielt und oft unter dem Einfluss von Rauschmitteln gespielt wurde (z.B. Iron Butterfly, Vanilla Fudge, The Byrds). Populär wurden damals auch sanftere Drogen wie Haschisch und Marihuana.

Die Tendenz, gesellschaftliche Konventionen in Frage zu stellen, zeigte sich auch im Tanz. Im Verlauf der sechziger Jahre dominierte der „Freestyle“, ein Tanzen ohne diejenigen Regeln, die man in der „Tanzstunde“ gelernt hatte. „Das war weder Paar- noch Gruppentanz, sondern – Negation und Steigerung zugleich – ein kollektiv praktizierter Individualtanz“ (Kraushaar 1986, S. 218). „Das durch Twist und Beat angestachelte Bewegungsbedürfnis löste ein neues Körpergefühl, eine Erotisierung des Auftretens auch im Alltag aus“ (Kraushaar 1986, S. 220).

Zu den viel propagierten Zielen gehörte die Befreiung von strengen sexuellen Tabus. Großen Einfluss auf die Jugendlichen hatte dabei die „Antibaby-Pille“, die sich auch in Deutschland während der sechziger Jahre verbreitete – allen Vorbehalten etwa der katholischen Kirche und anderer Kreise zum Trotz. Die „Pille“ wurde von vielen als Befreiung empfunden, auch angesichts der Tatsache, dass Abtreibung nach § 218 StGB mit Gefängnis bestraft wurde. Damals gab es noch nicht die Angst vor Aids...

Es wurden neue Formen des Zusammenlebens ausprobiert. Die Ehe galt vielen nicht mehr als Lebensziel. Es entstanden Wohngemeinschaften (WGs) Jugendlicher – heute etwas Selbstverständliches, damals etwas Anrüchiges. Darunter gab es auch „Polit-WGs“, die erste seit Anfang 1967 in Berlin-Charlottenburg: die „Kommune 1“ (mit Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und Uschi Obermeier). Die „K1“ wurde zu einem Zentrum der Studentenbewegung in Deutschland. Die Kommunarden fielen in der Öffentlichkeit vor allem durch Clownerien und Provokationen auf.

Die englische Beat-Musik entstand Anfang der sechziger Jahre in den Arbeitervierteln von Liverpool, Birmingham, Manchester und Newcastle. „Beat“ (ursprünglich eine Bezeichnung für den Grundschlag des Jazzrhythmus) wurde zwischen 1961–65 die englische Popmusik (Beatles, Rolling Stones, Animals u. a.) genannt; später setzte sich der amerikanische Terminus Rock auch für diese Musik durch. Beat-Musik stammte aus dem Untergrund: aus den Kellerlokalen englischer Industriestädte.

In der Musik wurde mit neuen technischen Möglichkeiten experimentiert. Das wichtigste Instrument wurde die elektrische Gitarre. Beat-Musiker „revolutionierten mit elektronischen und elektrotechnischen Effekten die Ästhetik und emotionale Ausdrucksweise der traditionellen Blues-Musik“ (Hoffmann 1981, S. 83). Sie entdeckten neue Klänge, z. B. das Feedback bzw. Rückkopplungsspiel. Das Verstärker„geheul“ wurde bald zu einem wichtigen Ausdrucksmittel der Rock-Musik.

Während der frühe Rock’n’Roll auf 17-cm-Schallplatten verbreitet wurde, setzten sich nun für die Rock-Musik 30-cm-Langspielplatten durch. Diese technische Veränderung – so Hoffmann – habe „bei der Emanzipation von reiner Unterhaltungsmusik zur ernstgenommenen Musik eine Rolle“ gespielt und sei „die eigentliche kommerzielle und künstlerische Plattform des Welterfolgs der Beat-Musik im zweiten Jahrzehnt“ gewesen (Hoffmann 1981, S. 83).

Liverpool war von 1961–63 das Zentrum der englischen Beat-Bewegung. Aus Liverpool kamen die Beatles. Hier gab es damals über eintausend einheimische Beat-Bands (Hoffmann 1981, S. 84). Man sprach vom speziellen „Mersey-Sound“, benannt nach dem Fluss, an dem Liverpool liegt. Anfang der sechziger Jahre hatte Liverpool die höchste Arbeitslosenziffer und einen sehr niedrigen Lebensstandard. Die meisten Stadtviertel waren Slums. Für die Jugendlichen, die wenige Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten hatten, blieb nur die Beat-Musik.

Unter dem Namen „Beatles“ traten seit dem Dezember 1960 in einem Vorort von Liverpool auf: John Lennon (voc, g), Paul McCartney (voc, bg), George Harrison (g, voc) und Pete Best (dr). Lennon, McCartney und Harrison hatten schon seit 1956 unter verschiedenen Gruppennamen Musik gemacht; als „The Silver Beatles“ (mit fünf Musikern, von denen der Drummer Stuart Sutcliffe 1962 starb) gingen sie zu Gastspielen u. a. nach Hamburg, wo sie im „Star Club“ auftraten.

Dort lernten sie die Fotografin Astrid Kirchherr kennen, die ihnen die später weltbekannten Frisuren („Pilzköpfe“) verpasste. Die Frisur wurde zu einem vorrangigen Imagemerkmal. „Länge und Glätte der Haare akzentuierten den femininen Einschlag besonders stark“ (Kraushaar 1986, S. 217) und sie wirkten mit ihrem Verstoß gegen damals dominierende Vorstellungen von Männlichkeit äußerst provozierend. Die Tendenz zur Effemination wurde außerdem betont durch die Kleidung der Beatles: „Jeans und Lederjacken, die Düsterkeit und eine latente Neigung zur Gewalt symbolisierten, wurden durch adrette Samtanzüge ersetzt“ (Kraushaar 1986, S. 216 f.), die im Vergleich mit dem früheren Outfit weich wirkten. Die weiche Welle durchdrang auch die Musik.

An die Stelle des Schlagzeugers Pete Best trat Ringo Starr, der vorher im Hamburger „Kaiserkeller“ in einer Skifflecombo spielte. 1962 kehrte die Gruppe nach Liverpool zurück und galt dort als die beliebteste Band. Brian Epstein, ein Liverpooler Schallplattenhändler, bot sich ihnen als Manager an und vermittelte ihnen 1962 einen Schallplattenvertrag beim Londoner Musikkonzern EMI. Der Song „I Want To Hold Your Hand“ von 1963 verhalf den Beatles zum internationalen Durchbruch und leitete die „Beatlemania“, die euphorische Begeisterung für die Beatles, ein, die von nun an für Schlagzeilen, Superlative und Umsatzrekorde sorgte. In den US-Charts belegten die Beatles die ersten fünf Plätze gleichzeitig. Bis zu ihrer Trennung im Jahr 1970 verkauften sie weit über eine Milliarde Tonträger.

1965 entstand der Film „Help!“. Seit 1964 begann – nicht zuletzt unter dem Einfluss von Drogen – eine Veränderung: Die Beatles verwendeten nun u. a. exotische Instrumente (Sitar) und esoterische, teilweise fremdsprachige Lyrik. Songtitel dieser Phase sind u. a.: “Michelle”, “Norwegian Wood”, “Yellow Submarine”, “Strawberry Fields Forever”, “Lucy In The Sky With Diamonds” (LSD = Lucy / Sky / Diamonds). Die technischen Effekte der späteren Songs ließen sich nicht mehr live auf der Bühne reproduzieren. Die LP „Sergeant Peppers’s Lonely Hearts Club Band“ (1967) wurde mit einem großen technischen und finanziellen Aufwand hergestellt: Versucht wurde hier eine Synthese von Rock’n’Roll und Kunst-Musik; beteiligt waren außer elektronischen Apparaturen 120 Orchesterspieler und Bläserchöre. Auch die LP „Magical Mystery Tour“ war eine reine Studioproduktion. Die Folge war u. a., dass die Beatles solche Stücke nicht live aufführen konnten. Zwar produzierten sie weitere LPs, „mit der fehlenden Live-Praxis aber war der Band gleichsam das musikalische Lebenselixier verlorengegangen... Ihre Musik war reines Artefakt geworden“ (Kraushaar 1986, S. 223).

1967 starb der Manager Brian Epstein, danach gab es künstlerische und finanzielle Misserfolge. Auf religiösen Trips nach Indien suchten die Beatles u. a. Befreiung von ihren Drogenproblemen. Die Gemeinschaft der Gruppe zerbrach allmählich. Die inoffizielle Trennung erfolgte im April 1970.

Eine weitere international bekannte Gruppe waren die „Rolling Stones“. Unter den Jugendlichen kam es in den sechziger Jahren zu einer Spaltung in Beatles- und Stones-Fans.

The Rolling Stones: Mick Jagger studierte in den sechziger Jahren an der „London School of Economics“, Keith Richard an einer Kunstschule. In Londoner Jazz- und Rhythm&Blues-Lokalen trafen sie den Gitarristen und Mundharmonika-Spieler Brian Jones. Mit ihm gründeten sie 1962 eine Band. Später traten Bill Wyman und Charlie Watts, ehemals Drummer in der Blues-Band von Alexis Korner, bei. Die fünf nannten sich „The Rolling Stones“ nach einem Blues von Muddy Waters. Sie spielten Blues und blieben auch, als sie ihre Songs selbst schrieben, dem Blues treu. Brian Jones starb 1969, und er wurde durch den Blues-Gitarristen Mick Taylor ersetzt. Die Rolling Stones hatten den Ruf, die „bad boys“ der Rock-Musik zu sein, sie verkörperten das Gegenbild zu den Beatles. In der Öffentlichkeit gaben sie sich als aggressive, rebellische und obszöne Drop-outs. Durch Skandale, die immer wieder Schlagzeilen in den Medien machten, pflegten sie ihr Negativ-Image als „asoziale Elemente“ – machten dabei jedoch gute Geschäfte und sie behaupten sich bis in die Gegenwart.

Mitte der sechziger Jahre war London das Zentrum der Rock-Musik, vor New York, San Francisco und Hamburg. „Mit der Verlagerung des Zentrums von Liverpool nach London ging ein großes Stück Authentizität verloren. Aus der eher amateurhaften Beat- war eine professionelle und artifizielle Pop-Musik entstanden, die durch Studiotechnik, Kommerzialisierung und Internationalisierung der Absatzmärkte von Anfang an gekennzeichnet war. Zusammen mit dem Westcoast-Sound aus Kalifornien wurde die Pop-Musik zu einem globalen Phänomen der Kulturindustrie“ (Kraushaar 1986, S. 220).

Im Zuge dieser Entwicklung veränderte sich die Musik: Die Singles wurde abgelöst durch LPs, die ausdehnte solistische Darbietungen ermöglichten. Deutlich wurde diese Entwicklung etwa an Jimi Hendrix (1942–1970). „Mit ihm hatte die Rock-Musik eine einzigartige Kultfigur bekommen und war zugleich in eine heroisierend selbstdestruktive Phase eingetreten“ (Kraushaar 1986, S. 222).

Weitere bekannte englische Beat-Musiker waren:

-          The Kinks

-          The Animals: mit Eric Burdon; größter Hit “The House Of The Rising Sun”

-          The Who: stammten aus dem Londoner Stadtteil Sheperd’s Bush; Komponist der Gruppe war Pete Townshend; ihren größten kommerziellen Erfolg hatte sie mit der Rock-Oper „Tommy“. Sie repräsentieren den „Hard Rock“, der eine Fortentwicklung des alten Rock’n’Roll ohne Mischung mit anderen Musizierarten darstellt. Sie traten seit 1965 hervor und blieben bis in die achtziger Jahre hinein für ihre Generation tonangebend.

-          Joe Cocker

Im Laufe der sechziger Jahre entwickelte sich die Rock-Musik zum Bestandteil einer gigantischen internationalen Massenmedien-Industrie. Sie bestand nicht nur aus Musikern und Musikgruppen, aus Schallplattenfirmen und Rundfunksendern, sondern auch aus Konzertdirektionen und Künstleragenturen, Instrumenten- und Verstärkerbauern, Zeitschriften- und Buchverlagen, Filmgesellschaften und TV-Produktionsfirmen. Diese Unterhaltungsmedien waren meist im Besitz von Großkonzernen, die zudem Banken, Versicherungsgesellschaften, Tabakindustrien, Autoverleihfirmen, Hotels u. a. besaßen. Die Führung dieser Unternehmen lag oft in einer Hand, und so konnten konzertierte Aktionen gestartet werden, um ein Produkt bekannt zu machen. Die größte Plattenfirma der Welt und Muttergesellschaft der Beatles war EMI. Sie kon­trollierte Fernsehgesellschaften, Kinos, Theater, Musikverlage, Instrumentenfertigungen, Plattenvertriebsgesellschaften, Plattenproduktionsfirmen, Plattenstudios und Plattengeschäfte. Sie besaß außerdem ein riesiges Netz von Talent- und Künstleragenturen etc. In den sechziger Jahren entstanden „Entertainment-Empires“ als multinationale Unternehmen. „Rock-Musik war gleichzeitig Nutznießer und Opfer dieser globalen Entwicklung“ (Hoffmann 1981, S. 101 f.).

Grund für die Massenwirkung der frühen Beatles-Musik war auch die relativ leichte Reproduzierbarkeit vieler von deren Songs. Man benötigte z. B. keine besonderen Fähigkeiten auf der Gitarre. Es wurden u. a. Wettbewerbe veranstaltet, so 1964 im Hamburger „Star-Club“; Motto: „Wer spielt so wie die Beatles?“. Nicht nur die Musik, sondern auch Frisur und Outfit der Beatles wurden nachgeahmt – zum Entsetzen der Erwachsenen-Generation. Auch die deutschen Gruppen sangen in englischer Sprache, Deutsch kam bei den Jugendlichen damals nur schwer an.

Auch in der DDR wurden Beatles-Songs u. ä. auf englisch gesungen. Das war offiziell allerdings nicht erlaubt. Da man in der DDR kein Englisch lernte, schrieb man die Texte phonetisch auf. Die SED ließ die Jugendlichen zu Beginn der sechziger Jahre zunächst gewähren. Mit DT 64 wurde ein eigener Radiosender installiert. Die staatliche Plattenfirma Amiga veröffentlichte auch Beatles-Platten. Allerdings gab es gegenüber solchen Erscheinungen gegensätzliche Auffassungen: Manche sahen die Gefahr der Aushöhlung des Sozialismus durch die „dekadente“ westliche Beat-Musik. Solche konservativen Kritiker bekamen gegen Mitte der sechziger Jahre die Oberhand. Beim 11. Plenum der SED 1965, das der Disziplinierung von Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern diente, kam das Ende der Beat-Gruppen. Walter Ulbricht (1893–1973), Staatsratsvorsitzender der DDR, äußerte: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen? Mit der Monotonie des ‚Jeee Jeee Jee‘, oder wie das alles heißt, sollte man Schluß machen“ (Wagner 1999, S. 41). Beat-Musik verschwand nun aus den Medien. Doch war sie nicht mit einem Schlag tot, denn sie war eine sehr vitale Erscheinung, die sich nicht per Dekret beseitigen ließ. Sie zog sich an private Orte zurück oder auf das Land. So gab es weiterhin Konzerte, bei denen die Musiker immer auf der Hut vor staatlichen Kontrolleuren sein mussten. Am Ende der sechziger Jahre gab es in der DDR wieder eine stärkere Unterstützung der Beat-Musik durch die Medien. Allerdings wurde eine Bedingung gestellt: Es musste in deutscher Sprache gesungen werden.

Auch in der BRD gab es Widerstand gegenüber der Begeisterung für die Beat-Musik. Doch bekamen ab dem 25. September 1965 die Beat-Fans ihre eigene Fernsehsendung – einmal im Monat für 30 Minuten: den „Beat-Club“, die erste Musiksendung im Fernsehen speziell für Jugendliche. Diese Fernsehsendung wurde für deutsche Bands wie The Boots, The Rattles, The Lords, The Yankees u. a. zu einem Sprungbrett ihrer Karriere.

Eine der bekanntesten deutschen Bands waren die Rattles, gegründet 1960 von Achim Reichel (geb. 1944). 1963 gewann sie einen Beat-Band-Wettbewerb im Hamburger „Star-Club“ und ging als eine der wenigen deutschen Bands viermal auf Tournee durch England. 1966 setzte die Einberufung Reichels zum Militär den Erfolgen ein jähes Ende. Danach versuchte Reichel sich – mit wechselndem Erfolg – weiterhin als Musiker.

Am Ende der sechziger Jahre gab es auch auf musikalischem Gebiet eine starke Tendenz, Neues auszuprobieren. Bands wie Tangerine Dream, Amon Düül II oder Can experimentierten mit neuen musikalischen Konzepten und wurden zur Avantgarde der deutschen Rock-Musik, zunächst allerdings ohne Auswirkungen auf die Charts. Man suchte auch gegenüber der angloamerikanischen Szene nach eigenen Wegen. Mitglieder der Gruppe Can, die 1968 in Köln gegründet wurde, studierten bei Karlheinz Stockhausen in Köln und wurden von dessen elektronischen Experimenten stark beeinflusst. Der Organist Irmin Schmidt (geb. 1937) studierte bei Karlheinz Stockhausen acht Jahre lang Musik, er wirkte u. a. als Theaterkapellmeister, hatte also auch eine klassische Ausbildung. Holger Czukay (geb. 1938) verbrachte vor seiner Can-Zeit drei Jahre in den Elektronik-Studios von Stockhausen, Pousseur, König und Brown. Kennern galt die Gruppe Can als eine der talentiertesten Experimental-Rockgruppen.

Die Gruppe Amon Düül II löste sich 1968 vom Stamm der kurz zuvor gegründeten Musikantenkommune Amon Düül. Sie benannte sich nach dem ägyptischen Sonnengott Amon von Theben und einer türkischen Phantasiegestalt. Ihr erstes Album war „Phallus Dei“ (1969): Darauf gab es elektronisch verfremdete Gregorianik-Gesänge in altertümelndem Deutsch, vermengt mit Reports von futuristischen Desastern mit alttestamentarischen Katastrophenberichten. Zum Teil kopierte die Gruppe Pink-Floyd-Musik (s. Das neue Rock-Lexikon).

Neben New Yorks „Greenwich Village“ und London war in den sechziger Jahren Kalifornien das dritte Zentrum der Rock-Musik, insbesondere die Stadt Los Angeles. Seit 1961 gab es dort „The Beach Boys“, die kalifornische Freizeitkultur produzierten und vermarkteten: Ihre frühen Hits kreisen um die Themen Strandleben, Surfen, Sonnenanbeten, Geschwindigkeitsrausch. Die Gruppe wurde damit 1963/64 die Star-Band der amerikanischen Teenager-Welt, löste eine ganze Moderichtung von „Surf“- und „Fun“-Gruppen aus. Doch wurde auch die Musikszene von Los Angeles infiziert von gesellschaftskritischen Tendenzen. Gruppen wie Canned Heat, Electric Prunes, Iron Butterfly, Love, Pacific Gas & Electric, Spirit und Steppenwolf brachten das Gegenteil der Beach Boys-Musik: wilden Sound, vom Blues und Rhythm & Blues inspiriert; Hardrock & Heavy-Rock. Am wildesten gebärdeten sich in Los Angeles The Doors mit dem Sänger Jim Morrison. Jim Morrison hatte an der University of California Film- und Theaterwissenschaften studiert, er kannte sich in der Literatur aus, z. B. in der Psychoanalyse Sigmund Freuds oder in der Philosophie Nietzsches. Morrison sang Hymnen auf Sex, Chaos und Tod. In schwarzes Leder gehüllt, zerfetzte er auf der Bühne die amerikanische Flagge, rief seine Zuhörer zum Widerstand gegen Polizeigewalt auf, entblößte sich etc. Am 3. Juli 1971 starb Morrison in einem Pariser Hotel an Herzversagen.

Noch ekstatischer gaben sich The Mothers of Invention mit Frank Zappa (1940–1993). Zappa wurde 1941 in Baltimore, Maryland, als Sohn eines Chemikers griechisch-arabisch-sizilianischer Abstammung geboren. Ab 1964 trat er mit The Mothers of Invention auf, die einen Underground-Sound entwickelten. Sie machten u. a. mit schockierenden Shows auf sich aufmerksam: z. B. dem Massaker von Babypuppen, einer ins Publikum ejakulierenden Stoffgiraffe. Zappas Musik wirkte chaotisch. Er äußerte: „Kein Akkord ist häßlich genug, all die Scheußlichkeiten zu kommentieren, die von der Regierung in unserem Namen verübt werden“ (Hoffmann 1981, S. 128). Musikalisch adaptierte er u. a. Klangstrukturen von Igor Strawinsky, John Cage, Edgar Varèse und elektronische Klänge. Seine Musik wurde bald vom internationalen Musik-Establishment akzeptiert. Zappa äußerte, er sei mehr an künstlerischem Ausdruck als an Hit-Schallplatten interessiert.

1967 avancierte die kalifornische Hauptstadt San Francisco zur Hochburg der Hippies. Die Hippies waren junge Leute, die in Kleidungsstil, Haartracht, Lebensführung und politischer Einstellung ihre Losgelöstheit von überkommenen Verhaltensweisen demonstrierten und Befreiung von den Normen der Leistungsgesellschaft in Stadtflucht, Drogenerlebnissen und religiöser Mystik suchten. Man sprach von der „Flower Power“-Generation. „Flower Power“ wurde 1967 in der internationalen Rockszene zur dominierenden Mode. Sie war ursprünglich die gewaltlose Demonstration einer Gruppe von Hippies um 1966 an der kalifornischen Westküste, die sich Blumen als Symbol der Unschuld und Friedfertigkeit ins Haar steckten und den Ordnungskräften der Nationalgarde bei den Campus-Rebellionen Rosen in die Gewehrläufe schoben. In euphorischen Songs priesen sie Liebe, Glückseligkeit (mit Hilfe von Drogen) und Brüderlichkeit.

Das Zentrum von „Flower Power“ war die Haight Ashbury Street in San Francisco, die Ähnlichkeit mit Greenwich Village in New York hatte. Man experimentierte mit neuen Formen einer Alternativ-, Sub-, Gegen- oder Antikultur: einer „Underground“-Kultur, zu der als wesentlicher Bestandteil die Rock-Musik gehörte. In der Nähe war die Studentenstadt Berkeley Schauplatz der ersten Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen an der Westküste der USA. Hier fanden „free speeches“ gegen die amerikanische Gesellschaftspolitik – wie schon vorher an der Ostküste – statt.

San Francisco beeinflusste die internationale Rock-Kultur. In Berlin und München entstanden die ersten deutschen Untergrund-Zeitungen, und es wurden neue Formen des antiautoritären Zusammenlebens erprobt.

„Free Concerts“ mit Rock-Musik wurden veranstaltet. Beim ersten „Free Festival“, das 1967 in Monterey (Kalifornien) vor 50 000 Besuchern ablief, traten Jefferson Airplane, Jimi Hendrix und der indische Sitarspieler Ravi Shankar auf.

Ein gigantisches Popmusik-Festival fand im August 1969 auf einem großen Farmgelände in Bethel, N. Y. in der Nähe der Musikerkolonie Woodstock statt. Ca. 400 000 Jugendliche nahmen daran teil. Die friedliche Atmosphäre versetzte viele in Euphorie. Auf diesem Festival trat u. a. Jimi Hendrix auf. Dafür stellte er eine neue Band zusammen: Gypsy Sun & Rainbows. Bei diesem Konzert präsentierte Hendrix eine umstrittene Interpretation der US-amerikanischen Nationalhymne „The Star-Spangled Banner“. Durch Spieltechnik und den Einsatz von Effekten ließ er zwischen den bekannten Motiven der Hymne Kriegsszenen hörbar werden, darunter verblüffend deutlich Maschinengewehrsalven, Fliegerangriffe und Geschosseinschläge.

Im Dezember 1969 fand das Festival von Altamont in der Nähe von San Francisco statt. Zum Finale einer USA-Tournee veranstalteten die Rolling Stones dort ein Free Concert für ca. 300 000 Fans. In der Menge ereigneten sich viele schwere Unfälle, bei denen Menschen getötet wurden. Es gab Verletzungen, Schlägereien u. ä. Die Rockertruppe Hell’s Angels, die von den Veranstaltern als Ordner verpflichtet war, terrorisierte unter Alkoholeinfluss das Publikum. Als die Stones „Sympathy for the Devil“ anstimmten, droschen die Hell’s Angels wahllos auf die Zuhörer ein. Ein 18-Jähriger wurde unmittelbar vor der Bühne erstochen, doch die Show ging weiter.

Die siebziger Jahre

Hoffmann nennt die siebziger Jahre die „elektrische Ära“. Neue elektronische Musikinstrumente wie Mellotrone und Synthesizer bestimmten die Entwicklung der Rockmusik. Die Elektrogitarre blieb weiterhin das wichtigste Instrument in der Rock-Szene. Dabei gab es seit den Anfängen unterschiedliche Tendenzen. Erst war die Elektrogitarre Begleiter der Rock’n’Roll-Sänger der fünfziger Jahre; in den sechziger Jahren war sie dominierender Klangerzeuger der Beat-Epoche, wobei oft mehrere Elektrogitarren gleichzeitig eingesetzt wurden; Ende der sechziger Jahre, als sich Rockmusik von Tanz- zu Konzertmusik emanzipierte, wurde sie Soloinstrument; Stargitarristen waren Jimi Hendrix, Jeff Beck und Ritchie Blackmore. Damals wurden auch besondere Zusatzgeräte für die Gitarre entwickelt.

In den 1970er Jahren wurde der technische Aufwand in der Rockmusik immer größer. Außer der E-Gitarre wurden nun auch andere Instrumente wichtig, vor allem Tasten- und Elektronikinstrumente (z. B. Keyboards und Electronics).

Als eine der ersten Bands experimentierten bereits die Beatles mit elektronischen Klängen, z. B. in „Strawberry Fields Forever“ (1967).

Vor allem die englische Band Pink Floyd förderte die Tendenz zum Keyboard- und Electronic-Sound in der Rockmusik („Electronic Rock“). Sie verwendete außer akustischen auch visuelle Effekte. Die Musiker von Pink Floyd galten einigen als musikalische Experi­mentatoren, „Avantgardisten“ und „Revolutionäre“ in der Musik. Sie hatten Einfluss auf andere Gruppen. Manche Kritiker behaupten jedoch, dass die zunächst neuen Mittel und Wirkungen ihres Elektronik-Rock später zur Konsumware verkommen seien.

Einige Rock-Musiker wandten sich Anfang der siebziger Jahre von den Elektrogitarren ab und den Tasten- und Elektronikinstrumenten zu, weil in dieser Zeit ein neues Gerät auf den Markt kam: der Synthesizer, den der amerikanische Physiker, Hochfrequenztechniker und Musiker Robert A. Moog Mitte der sechziger Jahre konstruiert hatte. Rock-Bands wie Emerson, Lake & Palmer, The Yes und Pink Floyd verwendeten dieses Instrument nun bei Konzerten. Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte der Synthesizer erstmals, als Walter Carlos im August 1968 auf einer LP Kompositionen von Johann Sebastian Bach „vermoogte“ („Switched on Bach“). Diese LP avancierte in den USA zu einem Bestseller und machte den Synthesizer bekannt. Als einer der ersten benutzte Keith Emerson von Emerson, Lake & Palmer das neue Instrument.

Durch diese technische Entwicklung konnten Rock-Bands nun die größten Hallen füllen und auf Festivals vor einem Massenpublikum spielen. Die negative Seite dieser Entwicklung war, dass Rock-Konzerte zum „ohrenbetäubenden Energie-Spektakulum“ verkamen, wo Technik nicht selten dominierte und Musik zur Nebensache wurde (Hoffmann 1981, S. 190). Im „Heavy Rock“ (z. B. Led Zeppelin) wurde die Lautstärke essentiell für den Gruppenstil. Die „Roadies“ (Abk. von „Road Manager“) wurden die wichtigste Hilfstruppe der Musiker in den siebziger Jahren. Sie waren verantwortlich für die technischen und organisatorischen Probleme während einer Tournee. Sie präparierten viele Stunden lang vor jedem Auftritt den umfangreichen technischen Apparat: Verstärker, Lautsprecher, Instrumente, Steuergeräte.

Auch die Ausstattung der Aufnahme-Studios wurde umfangreicher und komplizierter. Durch die neuen technischen Bedingungen spielten die Musiker bei Studioaufnahmen nur noch selten zusammen. Sie wurden getrennt aufgenommen und später gemischt.

Eine weitere Besonderheit der siebziger Jahre waren auch das Streben vieler Musiker nach Originalität und eine sich daraus entwickelnde Vielfalt von Personalstilen und -moden. Es entstanden Stilmischungen, z. B. Jazz-Rock (Al Kooper mit der Gruppe Blood, Sweat & Tears, das Mahavishnu Orchestra, die englische Gruppe Soft Machine, Gentle Giant).

In Europa drang die Musik der abendländischen Tradition in die Rock-Musik ein („Art Rock“). 1966 verwendete die Gruppe The German Bonds die „Sonata facile“ von W. A. Mozart. Procol Harum verwandelte 1967 eine Bachfuge zum elektrifizierten „A whiter shade of pale“. Andere Rock-Musiker taten sich mit Sinfonieorchestern zusammen, z. B. Deep Purple mit dem London Symphony Orchestra, Ekseption mit dem London Royal Philharmonic Orchestra. Durch diese Verbindung erreichten die Rock-Musiker, dass sie von Kritikern und Musikhörern beachtet wurden, die vorher ausschließlich klassische Werke wahrgenommen hatten und Rock-Musik als vulgär ablehnten. Manche jedoch kritisierten solche „Aufgüsse“ klassischer Musik. Die englische Band The Nice unter der Leitung von Keith Emerson adaptierte die „Karelia Suite“ von Jean Sibelius, Bachs 3. Brandenburgisches Konzert und Tschaikowskys „Pathétique“. Emerson verwendete – zuerst bei The Nice, später bei Emerson, Lake & Palmer – konsequent klassisches Material (z. B. Mussorgski: „Bilder einer Ausstellung“) und verzichtete oft völlig auf den Einfluss von Blues und Rock’n’Roll. Er beeinflusste damit auch die Gruppen Genesis und Jethro Tull. Bei der Integration klassischer Musik wurden nicht immer Themen und Werke kopiert, sondern manchmal nur Stilmerkmale.

Nach künstlerischer Emanzipation strebten auch Musiker, die umfangreichere Werke und schließlich auch Rock-Opern schrieben. Manche Rock-Musiker kamen von der Klassik her, so Jean-Luc Ponty aus Frankreich. Er spielte zuerst Klassik, vor allem die französischen Impressionisten Debussy und Ravel, besuchte Musikkonservatorien und spielte eine Zeitlang in Sinfonieorchestern. Danach studierte er Jazz. Ende der siebziger Jahre spielte er Rock-Musik auf einer E-Geige. – Frank Zappa ließ sich von musikalischen Werken des 20. Jahrhunderts (Igor Strawinsky, Alban Berg, Edgar Varèse) anregen und stellte Synthesen mit Jazz und Pop her. Er verwendete auch Alltagsgeräusche, Lärminstrumente (Trillerpfeifen, Kuhglocken), Musikfetzen verschiedenster Provenienz u.v.a.

Einige Musiker beschäftigten sich mit politischen und sozialen Problemen. Themen der siebziger Jahre waren Umweltschutz, Kernkraftwerke, alternative Lebensformen.

Drogen spielten in der Rock-Szene seit Mitte der sechziger Jahre eine große Rolle. Viele Musiker bekannten sich öffentlich dazu. Es gab Verhaftungen: John Lennon, George Harrison und Joe Cocker standen wegen Rauschmittelbesitzes vor Gericht. Die Rolling Stones wurden mehrmals wegen Drogenmissbrauchs zu Gefängnisstrafen verurteilt. Rauschmittel spielten bei mehreren Todesfällen eine Rolle: bei Jimi Hendrix, Janis Joplin, Brian Jones, Keith Relf, Paul Kossoff, Alan Wilson, Jim Morrison, Keith Moon, Elvis Presley. Unter dem Einfluss der Drogen entstand Varianten des Rock: Meditativ-, Acid- oder Psychedelic-Rock mit einem z. Tl. ruhigen und gelassenen Charakter und einem Hang zu Mystik und Religiosität.

Es gab auch bald eine Gegenbewegung, eine Anti-Drogen­welle: Als die Gefahren des Drogenkonsums bekannt wurden, waren viele Rock-Musiker desillusioniert und wandten sich nun in ihren Songs gegen Drogen.

Die elektrische Rock-Musik setzte sich nicht nur in der industrialisierten Welt durch, sondern auch in zahlreichen Ländern der „Dritten Welt“. Dort wurden in den sechziger und besonders den siebziger Jahren viele Bands gegründet. Sie imitierten anfänglich oftmals Gruppen wie die Beatles und die Rolling Stones, entwickelten aber bald eine eigene, originelle Musik: Mischungen aus angloamerikanischen und einheimischen, aus modernen und traditionellen Musikstilen finden sich z. B. im „Reggae“ und „Afro Rock“.

In Brasilien verband sich Rock-Musik mit dem Samba. Am Ende der fünfziger Jahre entstand aus einer Mischung aus Cool Jazz und Samba der „Bossa Nova“. Zentrum der neuen Popularmusik wurde Rio de Janeiro. Viele Musiker stammten aus den ärmsten Regionen. Nicht selten waren die Texte sozialkritisch. – In Jamaika entwickelte sich in den sechziger Jahren der „Reggae“, eine Musikform mit einem langsamen, monoton-repetitiven Rhythmus, in der sich westafrikanische Einflüsse mit dem Rock’n’Roll vermischten. „Reggae“ entstand vor allem in den Hinterhöfen der Elendsviertel und den Rum-Bars auf dem Land. Er war anfänglich die Musik der Armen und der Slums, und die Unterhaltungsindustrie lehnte ihn deshalb zunächst ab. Das änderte sich, seitdem am Ende der sechziger Jahre zahlreiche englische Rock-Musiker nach Jamaika kamen und sich von Reggae-Rhythmen inspirieren ließen, so dass der Reggae-Stil international bekannt wurde. In England gab es eine große Anzahl von Einwanderern aus Jamaika, die zur Basis für den weltweiten Reggae-Erfolg wurden. Jimmy Cliff, Bob Marley (1945–81), Peter Tosh u. a. brachten den Reggae nun mit Erfolg unter die europäischen Musikfans. Im Reggae sind viele Texte gesellschaftskritisch, denn die meisten Musiker stammten aus der sozialen Unterschicht. Zu den verschiedenen Arten von Musik gehört im allgemeinen auch ein spezielles Outfit: zum Reggae das der „Rastafari“ mit einer speziellen Frisur, bunten Ballonmützen u. a. Reggae-Musiker sind oft Anhänger des Rastafari-Kultes, einer religiösen Bewegung, die in den dreißiger Jahren in Jamaika entstand und auf die Ideen eines afroamerikanischen Politikers zurückgeht. Der äthiopische Kaiser Haile Selassie I. wurde von den Rastafari als Gott verehrt, der die in der Welt verstreuten Schwarzen in ihre Heimat Afrika zurückholen würde.

Auch in Südafrika beeinflussten europäische und amerikanische Gruppen bzw. Interpreten junge Musiker, meist solche aus der sozialen Unterschicht. Manche von ihnen mischten den angloamerikani­schen Sound mit afrikanischen Elementen. Aus Johannesburg kam z. B. die Sängerin Miriam Makeba. Mit 23 Jahren ging sie in die USA ins Exil. Seit 1968 lebt sie mit ihrem Mann, Stokely Carmichael, einem ehemaligen Führer der amerikanischen „Black Panther“-Bewegung, in Guinea. Nach ca. dreißig Jahren Exil kehrte sie nach Südafrika zurück. – Die Gruppe „Osibisa“, der ghanaische, nigerianische und karibische Musiker angehören, mischt Rock-Rhythmen mit afrikanischen Klängen.

Vom Beginn der Rock-Musik bis zum Ende der sechziger Jahre hatten im internationalen Plattengeschäft angloamerikanische Formationen dominiert. Anfang der siebziger Jahre jedoch spielten sich kontinental-europäische Bands in den Vordergrund. Auch in der BRD entwickelte sich eine eigenständige Szene. Einige Bands unternahmen die ersten Auslandstourneen. Mitte der siebziger Jahre erschienen ihre LPs in vielen außereuropäischen Ländern. Einige Zeit belegten deutsche Bands Spitzenplätze in Hitparaden des Auslandes. Sehr bekannt wurde die Düsseldorfer Band Kraftwerk (gegründet 1970), ebenso die Gruppen Nektar und Triumvirat. 1976 kam die Berliner Band Tangerine Dream häufig in die britischen „Top Twenty“. Am bekanntesten wurden die deutschen Rock-Musiker jedoch in Frankreich.

Einige Städte spielten bei diesem Erfolg von „Deutsch-Rock“ – auch „Kraut“- oder „Teutonen-Rock“ genannt – eine entscheidende Rolle: Berlin (Tangerine Dream; Ton Steine Scherben = Agitprop; Lokomotive Kreuzberg); München (Amon Düül; Embryo; Out of Focus); Köln (The Can, gegründet 1969; Floh de Cologne mit Polit-Rock) und Düsseldorf (Kraftwerk). Auch in Hamburg gab es eine ausgeprägte Rock-Szene: In den sechziger und siebziger Jahren wurde die dortige Musikkultur stark geprägt durch englische Musiker. Der Engländer irischer Abstammung John O’Brian-Docker gründete in den sechziger Jahren die City Preachers, die erste deutsch singende Folk- und Pop-Gruppe, die sich allerdings schon 1969 auflöste. Weitere bekannte deutsche Rock-Musiker: Nina Hagen, Udo Lindenberg. Es gab auch Gruppen, die sich politisch engagierten, z. B. im Widerstand gegen Atomkraftwerke die bayerische Band Sparifankal.

 

Die Folkbewegung in der BRD

Literatur

Degenhardt, Franz Josef (1979): Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen. München

Mitscherlich, Alexander und Margarete (1977): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Neuausgabe München, Zürich (1. Auflage 1967)

Probst-Effah, Gisela (1995): Lieder gegen „das Dunkel in den Köpfen“. Untersuchungen zur Folkbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Essen

Steinbiß, Florian (1984): Deutsch-Folk: Auf der Suche nach der verlorenen Tradition. Die Wiederkehr des Volksliedes. Frankfurt am Main

Steinitz, Wolfgang (1954 / 1962): Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. 2 Bände. Berlin (DDR) (Sonderausgabe in einem Band Frankfurt am Main 1979)

 

In den sechziger Jahren entstanden in der BRD – wie auch in anderen Ländern – verschiedene jugendliche Teilkulturen. Eine davon war die Folk- und Liedermacherszene. Ihr frühes Zentrum war die Burg Waldeck im Hunsrück. Die Burg war seit den zwanziger Jahren Heimstatt des Nerother Wandervogels, einer Organisation innerhalb der bündischen Jugend. Sie wurde während des „Dritten Reiches“ aufgelöst. Ihre Gründer Robert und Karl Oelbermann wurden Opfer des Nationalsozialismus. Robert Oelbermann wurde 1936 inhaftiert und starb nach fünfjähriger Gefangenschaft im Konzentrationslager Dachau. Karl Oelbermann emigrierte mit einer Gruppe nach Afrika und kehrte erst 1950 nach Deutschland zurück.

Die deutsche Jugendbewegung war eine der Wurzeln der Folkbewegung in der BRD, d. h. insbesondere  Teile der bündischen Jugend, die sich während des „Dritten Reiches“ nicht systemkonform, sondern gelegentlich oppositionell verhalten hatten. Es waren Gruppen der Jugendbewegung, die auch nach 1945 politisch relativ aufgeschlossen waren. In ihnen war es selbst in der Ära des „Kalten Krieges“ u. a. möglich, Lieder kennenzulernen, die aus dem gängigen bundesrepublikanischen Repertoire verbannt waren, die aber später innerhalb der Folkbewegung populär wurden: Lieder aus demokratischer Tradition, darunter Lieder aus der Revolution von 1848, antifaschistische Lieder, Lieder aus den Konzentrationslagern. Viele Repräsentanten der Folkbewegung entstammen dieser „progressiven“ Richtung der Jugendbewegung: Hein und Oss Kröher, Peter Rohland, Franz Josef Degenhardt, Walter Mossmann.

In den Jahren 1964 bis 1969 wurde auf der Burg Waldeck das Festival „Chanson Folklore International“ veranstaltet. Es entwickelte sich zu einem der zentralen Ereignisse der frühen Folkbewegung in der BRD. Die wachsende Bedeutung drückte sich u. a. in der steigenden Anzahl der Zuhörer aus: Kamen zum Festival 1964 nur 400 Besucher, so sollen es 1965 bereits 2000 gewesen sein. 1966 wurde von 6000 Zuhörern berichtet. Manche verglichen nun das Waldeck-Festival mit dem gigantischen Newport Folk Festival in den USA. (Beim Newport Festival 1964 soll es 70 000 Besucher gegeben haben.)

Die Folkszene der BRD war Teil einer internationalen Bewegung. Sie war beeinflusst von amerikanischen Vorbildern. In den USA war die Folksongbewegung eng verknüpft mit der Bürgerrechtsbewegung (Civil Rights Movement), die sich für die Gleichberechtigung der farbigen Bevölkerung engagierte, und mit der Bewegung gegen den Vietnamkrieg. Bekannte amerikanische Folksinger waren Pete Seeger, Joan Baez, Tom Paxton, Bob Dylan, Phil Ochs, Judy Collins.

Andererseits war die deutsche Liedermacherszene der sechziger Jahre inspiriert vom französischen Chanson. Französischer Einfluss zeigte sich u. a. bei Franz Josef Degenhardt und Peter Rohland. Rohland gilt als einer der Initiatoren der bundesrepublikanischen Folkbewegung. Er wurde 1933 geboren, er starb 1966. 1962 ging er nach Paris und trat dort in Kabaretts auf. Rohland gehörte trotz der französischen Prägung zu den ersten deutschen Folklore-Sängern, die auch deutsche Lieder sangen. Das war damals unter vielen Jugendlichen verpönt, vor allem wegen des Missbrauchs vieler Lieder im „Dritten Reich“. Weil Rohland gegenüber der Tradition ebenfalls vorsichtig war, betonte er seine Distanz zu den Ideologisierungen der Vergangenheit: „Ich glaube, es ist an der Zeit, den Nebel auseinanderzublasen, mit dem die Romantiker und die völkischen Ideologen unsere Volkslieder umgeben haben.“

Anknüpfungspunkte für ein gegenwärtiges Volksliedsingen sah Rohland u. a. in der weitgehend unbekannten, in nur wenigen Liederbüchern überlieferten Tradition demokratischer Lieder. Die bekannteste Sammlung solcher Lieder war 1954 und 1962 in der DDR veröffentlicht worden: die zweibändige Sammlung „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“ von Wolfgang Steinitz. In Steinitz’ Sammlung entdeckte Rohland u. a. das „Bürgerlied“ („Ob wir rote, gelbe Kragen“) und „O König von Preußen“, Lieder, die – wie auch andere – wenige Jahre später im Repertoire fast eines jeden Folkmusikers vorkamen. Die Liedsammlung von Wolfgang Steinitz avancierte im Verlauf der siebziger Jahre zur „Bibel“ der Folk- und Liedermacherszene.

Das „Bürgerlied“ („Ob wir rote, gelbe Kragen“) ist eines der Lieder, die Peter Rohland in Steinitz’ Sammlung fand. Der Textautor des Liedes ist ungewiss (s. dazu Steinitz II, S. 157 ff.). Der Text entstand in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Er ist ein Aufruf an die Bürger, die Gedanken der französischen bürgerlichen Revolution von 1789 auch in Deutschland zur politischen Wirklichkeit werden zu lassen; er ist ein Appell, sich trotz aller sozialen und ideologischen Schranken solidarisch zu verhalten. Die Melodie wurde dem Lied „Prinz Eugen, der edle Ritter“ entlehnt.

Nachdem Peter Rohland das „Bürgerlied“ in sein Repertoire aufgenommen hatte, gehörte es bald zum festen Liedrepertoire bundesrepublikanischer Folksänger. Es entstanden in der Folgezeit auch zahlreiche Kontrafakturen davon, die aus verschiedenen aktuellen Anlässen – sowohl von regionaler als auch von überregionaler Bedeutung – verfasst wurden. Das Parodie- oder Kontrafakturverfahren, das bereits in der Vergangenheit – besonders auch im Bereich des politischen Liedes – eine große Rolle gespielt hat (Gründe: Popularität und leichtere Verbreitung, Schutz vor der Zensur), wurde innerhalb der Folk- und Liedermacherszene häufig angewendet. Denn in ihr ging es nicht nur um die Wiederbelebung traditioneller Lieder, sondern vor allem auch um deren Gegenwartsbezug: So wurden für aktuelle Situationen oft neue Texte verfasst.

Ein weiteres traditionelles Lied, das in der Folkszene populär wurde, ist „O König von Preußen“ (s. Steinitz Bd. I, S. 317 ff.). Es handelt sich um ein Soldatenlied (eigentlich ein Anti-Soldatenlied), das wegen seines oppositionellen Inhalts nicht in die offiziellen Liederbücher Eingang fand. Der oppositionelle Charakter war aber der Grund, weshalb dieses Lied, das nach Steinitz aus der Zeit um 1840 stammt, ins Repertoire der Folkbewegung gelangte. Da es auf die Kampfbereitschaft keineswegs stimulierend wirkte, fiel es im 19. Jahrhundert der Zensur zum Opfer, denn kein Druckereibesitzer wagte es, kein Zensor ließ es zu, die schroffen Anklagen zu drucken. Dennoch war es im 19. Jahrhundert anscheinend ziemlich bekannt, denn es ist in zahlreichen handschriftlichen Soldatenliederbüchern überliefert.

Zu Rohlands Themenkreisen gehörten auch jiddische Lieder; damit beeinflusste er nachhaltig die deutsche Folkszene, die zu einer starken Wiederbelebung jiddischer Lieder führte.

An den verschiedenen Interpretationen des Liedes „Tsen brider“ von Rohland und Zupfgeigenhansel lässt sich u. a. eine Entwicklungstendenz der Folkszene verdeutlichen: Der Schwerpunkt verlagerte sich zunehmend vom Text auf die Musik (Weiteres dazu siehe unten).

Ein häufig zitiertes Lied aus der frühen Folkbewegung ist „Die alten Lieder“; Autor ist Franz Josef Degenhardt, ein Liedermacher, der bereits auf der Burg Waldeck auftrat. Degenhardt schrieb in den sechziger Jahren das Lied

Die alten Lieder

            Wo sind eure Lieder,

            eure alten Lieder?

            Fragen die aus andren Ländern,

            wenn man um Kamine sitzt

            matt getanzt und leer gesprochen

und das highlife Spiel ausschwitzt.

            Ja, wo sind die Lieder,

            unsre alten Lieder?

            Nicht für’n Heller oder Batzen

            mag Feinsliebchen barfuß ziehn,

            und kein schriller Schrei nach Norden

            will aus einer Kehle fliehn.

            Tot sind unsre Lieder,

            unsre alten Lieder.

            Lehrer haben sie zerbissen,

            Kurzbehoste sie verklampft,

            braune Horden totgeschrien,

            Stiefel in den Dreck gestampft

            (Degenhardt 1979, Nr. 51).

Dieser Liedtext skizziert den historischen und gesellschaftlichen Hintergrund der frühen Folk- und Liedermacherszene und ihr Verhältnis zur nationalen volksmusikalischen Tradition: Das deutsche Volkslied galt unter damaligen Jugendlichen als textlich-musikalischer Ausdruck einer Überlieferung, die von Schulen und Jugendbünden getragen worden war und die in das Grauen des „Dritten Reiches“ mündete. Volkslied schien diesen Jugendlichen identisch mit Gemeinschaftsgesängen, die die Wirklichkeit vernebelten und die individuelle Denk- und Kritikfähigkeit auslöschten. Demgegenüber plädierte die Folkbewegung für einen bewussten Umgang mit Liedern; sie ersetzte – zumindest in den Anfangsjahren – den in der Jugendbewegung beliebten gemeinschaftlichen Gesang durch solistischen Gesang mit Gitarrenbegleitung. Ein wesentlicher Akzent lag auf der Textverständlichkeit.

Skepsis und Misstrauen der jugendlichen Generation richteten sich damals nicht nur auf Bereiche der musikalischen Überlieferung, sondern auf Tradition allgemein. Degenhardts Lied wurde 1966 geschrieben. Ein Jahr vorher hatte in Frankfurt am Main der Prozess gegen Angehörige des Vernichtungslagers Auschwitz begonnen, in dessen Verlauf bei vielen Jugendli­chen Fragen nach der Vergangenheit der älteren Generation auftauchten. 1967 erschien Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“, in dem die Autoren die Ursachen jugendlicher Identitätskonflikte analysieren:

            „Nach dem Ausmaß der Katastrophe, die hinter uns liegt, kann es nicht zu einer Traditionsorientierung kommen; die Tradition war gerade das, was durch die nationalso­zialistische Herrschaft am nachhaltigsten zerstört wurde, und es war zuvor schon eine höchst problematische Tradition geworden“ (Mitscherlich 1977, 20 f.).

Demnach hatte die bundesrepublikanische Folk- und Liedermacherszene trotz ihres inter­nationalen Charakters auch ganz spezifische geschichtliche Voraussetzungen, die das anfangs zitierte Lied von Degenhardt andeutet: Durch den Nationalsozialismus und seine Wegbereiter wurde das Verhältnis zur volksmusikalischen Tradition als gestört empfunden, und es schien sich dabei um ein spezifisch deutsches Identitätsproblem zu handeln.

Die eigene Liedtradition tauchte in der frühen Folkbewegung öfter nur als Fragment, als Reminiszenz auf: in Degenhardts Lied als Textzitat. Die zweite Strophe enthält Anspielungen auf zwei beim Militär gern gesungene Lieder, „Ein Heller und ein Batzen“ und „Wildgänse rauschen durch die Nacht“ (vgl. Hans Baumann, Morgen marschieren wir, Potsdam 1939) sowie auf das durch Zuccalmaglio überlieferte „Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehen“. Degenhardt erwähnt diese drei Lieder stellvertretend für eine Musikkultur, von der er sich distanziert.

Deutschsprachiges trat in der Folkbewegung zunächst auch nicht mit dem Etikett „Volkslied“ hervor. Um den Begriff zu umgehen, gab es die verschiedensten begrifflichen Kreationen: Statt von „Volkslied“ sprach man z. B. von „Deutsch-Folk“. Aus dem Ausland übernahm man die Begriffe „Folk Music“, „Folksong“ und deren Abkürzung „Folk“. Zwar war die Bezeichnung „Folksong“ während des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an Herders Begriff „Volkslied“ entstanden; als man sie jedoch in den sechziger Jahren bei uns übernahm, verstand man sie nicht als ein englischsprachiges Synonym, sondern als einen Gegensatz zum deutschen Volkslied. Der Begriff „Volkslied“ schien allzu ideologieverdächtig.

Bei den Waldeck-Festivals lag ein starker Akzent auf gesellschaftskritischen und politisch engagierten Liedern. Das führte am Ende der sechziger Jahre unter dem Einfluss der Studentenbewegung zu einer starken Politisierung. 1968 war das Jahr vieler studentischer Protestaktionen, die durch politische Ereignisse (u. a. die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg) ausgelöst worden waren. Während des Waldeck-Festivals von 1968 traten Gruppen unter den Zuhörern auf, die politische Diskussion verlangten. Einige Teilnehmer forderten, das Singen und Musizieren zugunsten politischer Aktion aufzugeben: „Sänger werden bei revolutionären Aktionen nicht mehr benötigt... Also: stellt die Gitarren in die Ecke!“

1969 fand das letzte der großen Waldeck-Festivals statt. (Danach gab es nur noch kleinere Veranstaltungen.) Trotz dieses „sang- und klanglosen“ Endes der Waldeck-Festivals begann in den siebziger Jahren ein regelrechter Festival-Boom. Im Frühjahr 1975 wurden ca. fünfzehn Folk- und Liedermacherfestivals gezählt, für das Jahr 1977 nannte jemand 46 größere Folkfestivals, nicht eingerechnet die zahlreichen Folkabende in Clubs, Jugendzentren und Konzertsälen.

Mit der Quantität änderte sich auch die Qualität der Veranstaltungen. Auf der Burg Waldeck waren die Musiker noch unentgeltlich aufgetreten; nur Unterkunft und Verpflegung waren für sie kostenlos. Man war gegenüber dem kommerziellen Kulturbetrieb misstrauisch, betrachtete sich als Alternative dazu. Seit den siebziger Jahren wurden viele Festivals aus städtischen Mitteln vorfinanziert. Die Musiker bezogen eine (im allgemeinen nicht hohe) Einheitsgage. Öffentliche Subventionen blieben in der Szene umstritten, weil man eine Bevormundung bei der Programmgestaltung durch die Geldgeber fürchtete. Eine solche Fremdbestimmung widersprach der Intention der Folkbewegung, eine Alternative zur Kulturindustrie und allgemein zu allen etablierten kulturellen und politischen Institutionen (dem „Establishment“) zu sein.

Nach der politischen Phase in der Folkbewegung am Ende der sechziger Jahre gab es im Verlauf der siebziger Jahre auch eine Tendenz zur Entpolitisierung. Damals traten in der BRD viele Musiker und Musikgruppen, die zuvor schottische und irische Musik gespielt hatten, mit deutschen Liedern und Tänzen hervor. In ihren Programmen tauchten zwar weiterhin die politischen Lieder der sechziger Jahre auf (das „Bürgerlied“, „Trotz alledem“, „O König von Preußen“), doch gab es nun auch einen Trend zu „unpolitischen“, unterhaltsamen Liedern. Er war wesentlich beeinflusst von Vorbildern aus dem Ausland, wo man ein weniger kompliziertes Verhältnis zur Tradition zu haben schien.

In den siebziger Jahren setzte in der Bundesrepublik eine „Irlandwelle“ ein. Viele Jugendliche reisten zu der Insel, von der sie fasziniert waren: An ihr bewunderten sie eine vermeintliche Ursprünglichkeit, Vitalität und Spontaneität sowie eine scheinbar ungebrochene Tradition – alles Merkmale, die sie in der eigenen Tradition verschüttet oder verloren sahen. Die Dubliners und Eddie und Finbar Furey gastierten in der BRD mit großem Erfolg. Sie lockerten ihre Darbietungen mit Witzen und Geschichten auf und animierten das Publikum zum Mitklatschen. Unter ihrem Einfluss wurden schließlich auch traditionelle deutsche Lieder im Stil schottisch-irischer Folklore interpretiert.

Die kulturelle Bedeutung der Folkbewegung lässt sich an der Geschichte des Moorsoldatenliedes besonders gut aufzeigen. Es ist eines der frühesten Lieder aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Es entstand 1933 im KZ Börgermoor bei Papenburg, einem von fünfzehn Gefangenenlagern im Emsland, in denen seit 1933 überwiegend politische Oppositionelle aus dem Rhein- und Ruhrgebiet – in der Mehrzahl Kommunisten – inhaftiert waren. Es war die Aufgabe der Häftlinge, die riesigen Moore mit Hacken und Spaten - d. h. ohne die Hilfe moderner Maschinen – zu kultivieren.

In den Lagern wurde insbesondere durch Kommunisten eine illegale Widerstandsarbeit aufgebaut. Auf kulturellem Gebiet wurden Formen entwickelt, um die seelischen und geistigen Kräfte der Gefangenen gegenüber den unmenschlichen Existenzbedingungen im Lager zu aktivieren. So wurden u. a. politische Gesprächskreise, Lehrgänge, Theater- und Musikgruppen illegal organisiert.

Das Moorsoldatenlied wurde für eine Kulturveranstaltung im Lager Börgermoor verfasst, und zwar von dem Bergarbeiter Johann Esser, dem Schauspieler und Regisseur Wolfgang Langhoff und Rudi Goguel, einem kaufmännischen Angestellten mit einem abgebrochenen Musikstudium. Es wird berichtet, dass das Moorsoldatenlied bei seiner Uraufführung eine überwältigende Wirkung hatte – nicht nur auf die Gefangenen, sondern auch auf die Wachmannschaften.

Vom KZ Börgermoor aus gelangte es in viele andere Lager; es wurde eines der bekanntesten KZ-Lieder. Auch außerhalb der Lager wurde das Lied schnell bekannt, sowohl in Deutschland als auch im Ausland.

1935 lernte Hanns Eisler es während eines Aufenthaltes in England kennen. Er bearbeitete die ihm mündlich mitgeteilte Melodie für den Sänger Ernst Busch. So werden im allgemeinen zwei Hauptfassungen des Liedes unterschieden: die originale und die von Eisler.

Es gibt viele Übersetzungen des Liedes: u. a. eine englische, eine französische, eine niederländische und eine italienische. Es wird berichtet, dass in den sechziger Jahren während eines Festivals in Bologna ein algerischer Sänger eine arabische Übersetzung gesungen habe.

Das Moorsoldatenlied gelangte auf dem Umweg über Spanien bzw. durch den Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) in das Repertoire des bekannten amerikanischen Folksingers Pete Seeger, der als der „Vater“ des amerikanischen Folk Revivals gilt. So wurde es innerhalb der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den USA populär. In diesem politischen Zusammenhang und in der englischsprachigen Version wurde es in den sechziger Jahren in der bundesrepublikanischen Folk- und Liedermacherszene bekannt. Manche glaubten, das Lied sei im Original englisch; über den Herkunftsort wussten sie noch nichts, so z. B. die beiden Folksänger Hein und Oss Kröher, die das Lied seit dem Ende der vierziger Jahre in der Jugendbewegung kennenlernten, die es einfach nur schön fanden, seinen Ursprung und seine Bedeutung zunächst jedoch nicht kannten.

In der BRD war das Moorsoldatenlied in den ersten Jahrzehnten nach 1945 nur wenigen bekannt. Die Situation des „kalten Krieges“ zwischen Ost und West bestimmte auch das Verhältnis zu Teilen der musikalischen Tradition: Lieder, die – wie das Moorsoldatenlied – in der DDR von Staat und Regierung besonders gefördert wurden, stießen in der BRD auf Misstrauen oder Ablehnung.

So tauchte das Moorsoldatenlied nur ganz vereinzelt in bundesrepublikanischen Liederbüchern auf. Erst 1962 gab es in der BRD eine Schallplattenaufnahme des Liedes, gesungen von einem Münchener Gewerkschaftschor. In Schulbüchern existierte das Moorsoldatenlied lange Zeit überhaupt nicht. Am Ende der siebziger Jahre, als es in einigen Kreisen längst populär geworden war, war es in Schul- und Liederbüchern noch immer kaum zu finden. Und es erregte trotz wachsender Popularität weiterhin Anstoß: Noch im Jahr 1980 wurde das Schulbuch „Banjo“ aus dem Ernst-Klett-Verlag für den Gebrauch an den Haupt- und Realschulen vom Kultusminister des Landes Baden-Württemberg nicht zugelassen. Die Ablehnung wurde u. a. damit begründet, dass die Auswahl der Lieder nicht toleriert werden könne: so das italienische „Bella Ciao“, „Die Moorsoldaten“ und das Lied „von der Kuh des Pastoren“ als Atomkraftwerksgegnerlied. Einer der Autoren von „Banjo“ teilte mir mit, dass auch im sozialdemokratisch regierten Nordrhein-Westfalen die Zulassung des Buches wegen der Liedauswahl zunächst gescheitert und nur über persönliche Kontakte erreicht worden sei.

Zum damaligen Zeitpunkt gehörte das Moorsoldatenlied längst zum Standardrepertoire der Folkszene. Manche nannten es deshalb spöttisch einen „Stimmungsschlager“ oder auch die „Heimatschnulze der Linken“. Einige Musiker sangen das Lied in jedem ihrer Konzerte, manchmal gemeinsam mit dem Publikum, das gelegentlich dazu tanzte. Die Kehrseite der an sich erfreulichen Popularität war, dass das Singen zu einem gedankenlosen, leeren Ritual erstarrte.

In der Art eines „Stimmungsschlagers“ singt auch Hannes Wader auf einer LP aus dem Jahr 1977 das Moorsoldatenlied („Hannes Wader singt Arbeiterlieder“). Der Liedermacher Wader trat in den sechziger Jahren auf der Burg Waldeck erstmals hervor. Damals galt er als ein besonders „unpolitischer“ Sänger. Später wurde Wader überzeugtes Mitglied der DKP. Die Politisierung veränderte sein Verhältnis zu seinen Liedern. Schrieb der frühe Wader noch Lieder, die nicht auf Massenwirkung zielten, so sah sich der spätere Wader in der Rolle eines „Volkssängers“. Er glaubte, er könne politisch „progressive“ Inhalte durch die Verwendung von Stilmitteln und Präsentationsformen der Schlagermusik zu breiter Popularität verhelfen.

Innerhalb der bundesrepublikanischen Folkbewegung lassen sich verschiedene Veränderungsprozesse beobachten: Durch den Einfluss ausländischer Volksmusik und die Wiederentdeckung älterer Traditionen stieg das Interesse an historischen, bei uns nicht oder kaum mehr gebräuchlichen Musikinstrumenten wie Drehleier, Waldzither, Krummhorn, Dudelsack u. a. In den sechziger Jahren wurden solche Instrumente nur selten gebraucht, es dominierte damals der Sologesang zur Gitarrenbegleitung. Ein Schwerpunkt lag auf den Texten, die verständlich sein sollten. In den siebziger Jahren verlagerte sich der Akzent auf die Musik. Zentral wurde das Instrumentarium, das Arrangement.

Hein und Oss Kröher wie auch Peter Rohland sangen das Moorsoldatenlied solistisch und mit einer Gitarrenbegleitung, die sich der Vokalstimme unterordnete und auf Textverständlichkeit achtete. In späteren Bearbeitungen des Liedes wurde die Bedeutung des Instrumentalparts oft angehoben, so dass er nicht mehr nur begleitende Funktion hatte. Die Gruppe Liederjan z. B. spielt das Lied in einer größeren Besetzung mit Vokalstimme, Gitarre, Waldzither und Mandoline. Den Anfang bildet eine längere Instrumentaleinleitung.

 

Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR

Literatur

Kirchenwitz, Lutz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker, Kaisergeburtstagssänger. Berlin 1993

 

Eine Traditionslinie, an die die DDR am Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre anknüpfte, war das politische Lied der Arbeiterbewegung. In der Phase heroischer Illusionen wurde das politische Massenlied besonders gefördert und verbreitet.

Die Folksongbewegung der sechziger Jahre in den USA stieß auch in der DDR auf großes Interesse, insbesondere bei Jugendlichen. Eine wichtige Rolle bei der dortigen Folksong-Rezeption spielte der seit 1959 in Ostberlin lebende kanadische Sänger Perry Friedman, der Hootenannies (konzertartige Veranstaltungen improvisatorischen Charakters) durchführte. Als Keimzelle der Singebewegung entstanden Hootenanny-Klubs. Mitglieder der ersten Klubs waren u. a. Reinhold Andert, Hartmut König, Bettina Wegner und Barbara Kellerbauer. Gesungen wurden vor allem internationale Folklore, Ostermarschlieder, Dylan- und Seeger-Titel.

Gegen Ende der sechziger Jahre wurde die FDJ-Singebewegung mit propagandistischem Aufwand offiziell gefördert. Seitdem verlief die Singebewegung widersprüchlich: Sie wurde zum Teil politisch instrumentalisiert, ihres spontanen Charakters beraubt, andererseits erfuhr sie Förderung; es blieben gewisse Freiräume erhalten, weil es zwischen den Behörden in der Kulturpolitik nicht immer übereinstimmende Auffassungen gab.

Im Februar 1967 wurde einer der Hootenanny-Klubs in Ostberlin unter Einfluss der SED in „Oktoberklub“ umbenannt. Damals begann in der ganzen DDR eine Kampagne gegen westliche Einflüsse. Die englische Sprache wurde großenteils eliminiert, Beatgruppen und Schlagersänger z. B. mussten ihre englischen Namen ablegen. Nach dem Beispiel des Oktoberklubs wurde eine Vielzahl ähnlicher Singeklubs gegründet.

Offiziell propagiertes Ziel der Singeklubs war der gemeinschaftliche Gesang – ähnlich wie in der Jugendmusikbewegung. Doch ging die Entwicklung in eine andere Richtung: Der Darbie­tungscharakter der Musik nahm zu, weil Künstler und Publikum mehr Qualität wollten. Die Lieder wurden anspruchsvoller und schwerer nachsingbar für die „Gemeinschaft“.

Anfang der siebziger Jahre löste Erich Honecker Walter Ulbricht als Parteichef ab. Honecker galt bei vielen als Hoffnungsträger eines liberalen, menschlicheren Sozialismus. Die restriktive Kulturpolitik der sechziger Jahre wurde gelockert.

In den siebziger Jahren nahm das Interesse der Jugendlichen an der Singebewegung ab; sie lehnten vor allem die agitatorischen Lieder ab. In ihr wurzelnd, jedoch in demonstrativer Abstoßung von ihr entwickelte sich Mitte der 1970er Jahre eine Liedszene mit Liedermachern, Liedtheatern und Folkloregruppen. Reinhold Andert, Kurt Demmler, Barbara Thalheim und Bettina Wegner kamen aus dem Oktoberklub, aus anderen Singeklubs Gerhard Gundermann, Stefan Körbel, Stephan Krawczyk, Gerulf Pannach. Weitere Gruppen: Brigade Feuerstein, Folkländer (in Leipzig, mit Jürgen B. Wolf), Karls Enkel (in Berlin) und Schicht. Das Festival des politischen Liedes (Ostberlin) fand von 1970 bis 1990 statt, es entwickelte sich von relativ bescheidenen Anfängen mit sechs Veranstaltungen und „nur“ 3000 Zuhörern zu einem riesigen Festival mit 40–50 Veranstaltungen und insgesamt 60–70 000 Zuschauern. Daran nahmen auch viele ausländische Musiker teil. Ab 1971 fanden kontinuierlich deutsch-deutsche Kontakte statt: Süverkrüp, Degenhardt, Wader, Floh de Cologne, Liederjan, Zupfgeigenhansel, Ute Lemper, Heinz-Rudolf Kunze und Konstantin Wecker traten auf. Die Attraktivität der Veranstaltung beruhte selbstverständlich auch darauf, dass es in der DDR sonst keine internationalen Rock- und Folkfestivals gab. So bot diese Veranstaltung eine der wenigen Möglichkeiten zu internationalen Kontakten. Doch hatte das Festival des politischen Liedes einen zwiespältigen Charakter: Lieder wurden verboten, Plakate nicht genehmigt, Festivalzeitungen zensiert. Kontroverse Debatten drangen nicht nach außen, Dissidenten aus realsozialistischen Ländern und kritische Künstler ließ man nicht auftreten.

Den Anstoß zu einem Folk Revival in der DDR gab – wie schon einige Jahre vorher in der BRD – die Musik irischer und schottischer Gruppen, deren Musizierstil auf die eigenen Lieder angewandt wurde, wobei westdeutsche Vorbilder (Zupfgeigenhansel, Liederjan, Hannes Wader) aufmerksam beobachtet wurden. Man betrieb Quellenstudium, gab eigene Liederhefte heraus und besann sich auf traditionelle Instrumente wie Dudelsack, Drehleier, Brummtopf u. a. Bei historischen Liedern mit kritischen oder oppositionellen Zügen betonten die Gruppen deren aktuelle Bedeutung. Solche Aktualisierungen widersprachen dem Verständnis von Staat und Regierung, die die traditionellen Lieder als Dokumente vergangener Klassenkämpfe interpretierten. Das Ministerium für Kultur und das Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig beobachteten die Bewegung argwöhnisch und versuchten, sie in den Griff zu bekommen. Freien, „wilden“ Festivals wollte das Kulturministerium wegen ihres spontanen Charakters und der oft aufmüpfigen Darbietungen Einhalt gebieten.

Künstlerisch produktiv war Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre das Liedtheater. Hier wurde die Abfolge thematisch unzusammenhängender Lieder ersetzt durch geschlossene Programme, wobei der Sänger szenisch agierte und der Liedvortrag durch szenische Mittel erweitert wurde; die gesamte Darbietung wurde durch eine Regie festgelegt. Liedtheater-Gruppen waren: Schicht, Karls Enkel.

Vor allem in Veranstaltungen – weniger in den Medien – ließen sich gewisse Spielräume erkämpfen. Es gab keine einheitliche Auffassung über Inhalte und Formen der Kulturpolitik. Viele Künstler versuchten, durch vorsichtige Balanceakte das jeweils Mögliche durchzusetzen.

In den achtziger Jahren kristallisierte sich ein Netz von Jugend-, Studenten- und Kulturbundklubs, von Kulturhäusern, Theatern, Kinos und Museen heraus, die regelmäßig Veranstaltungen mit Liedermachern und Chansonsängern durchführten. Ein wichtiger Veranstalter für die Liedszene war trotz des Niedergangs der Singebewegung auch in den achtziger Jahren die FDJ.

Die Liedszene der 70er und 80er Jahre entwickelte sich weitgehend ohne die Medien. Rundfunk und Fernsehen waren in der DDR direkt der Abteilung Agitation des ZK der SED unterstellt, so dass eine Liberalität wie in der Kulturpolitik nicht möglich war. In den siebziger Jahren fiel das engagierte Lied in den Medien fast ganz der Zensur zum Opfer. Für kritische Liedermacher gab es kaum noch angemessene Sendeformen in Rundfunk und Fernsehen. Spezielle Chanson- und Liedermacher-Sendungen gab es zeitweise überhaupt nicht. Eine besondere Rolle für die Liedszene spielte – wie schon zur Zeit der Singebewegung – der Sender DT 64.

Schallplatten wurden in der DDR nur von einer Firma hergestellt, die nach ökonomischen, politischen und künstlerischen Kriterien auswählte. Für die Künstler gab es keinerlei Alterna­tiven: Unter dem Label „Amiga“ erschienen Chansons, Liedermacher, Rock und Pop; unter „Eterna“ Klassik.

Besonders einschneidend wirkte sich 1976 die Ausbürgerung Wolf Biermanns auf die Szene aus. Sie riss eine tiefe Kluft zwischen Staat / SED und der kritischen Intelligenz auf und führte dazu, dass viele Künstler die DDR verließen.

Wolf Biermann hatte 1976 nach elf Jahren Berufsverbot seinen ersten öffentlichen Auftritt – vom Staat zwar nicht genehmigt, jedoch geduldet – in der Prenzlauer Nikolaikirche. Nachdem Visa-Anträge für Auftritte im Westen 1974 und 1975 abgelehnt worden waren, wurde ihm 1976 die Ausreise erlaubt. Am 13. November 1976 trat Biermann vor ca. 6500 Zuschauern in der Kölner Sporthalle auf. Bei dem Konzert übte er Kritik an den bürokratischen Verkrustungen in der DDR, betonte aber, dass er weiterhin dort leben wolle und dass er den Sozialismus für die bessere Zukunftsperspektive halte. Am 16.11.1976 um 16 Uhr teilte die Nachrichtenagentur ADN mit, Biermann habe mit seinem „feindseligen Auftreten“ die Pflichten eines Staatsbürgers der DDR verletzt, ihm sei deshalb „das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen“ worden. Die Nachricht führte zu heftigen Protesten im Westen und im Osten. DDR-Bürger – auch SED-Mitglieder – kritisierten diese Maßnahme ihrer Staats- und Parteiführung. Dreizehn Künstler, unter ihnen Jurek Becker, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Christa Wolf, verfassten eine Erklärung, der sich mehr als einhundert Unterzeichner, darunter Manfred Krug, Eva-Maria und Nina Hagen, Bettina Wegner, Gerulf Pannach, Kurt Demmler, anschlossen.

Die SED sei – so Kirchenwitz - von der Unbotmäßigkeit der Künstler wohl überrascht gewesen. Sie versuchte, so schnell wie möglich die Wogen zu glätten und entschloss sich, zustimmende Äußerungen von Künstlern einzuholen und zu veröffentlichen. Eine Erklärung in ihrem Sinne gaben u. a. die Gruppe Jahrgang 49 und der Sänger Ernst Busch ab. Auch die westdeutschen Liedermacher Franz-Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp kritisierten, Biermann habe sich für antikommunistische Zwecke missbrauchen lassen.

Eine der Folgen der Biermann-Ausbürgerung war ein Exodus der Künstler in den Westen. Einige gingen aus eigenem Entschluss, andere unfreiwillig: die Schriftsteller/innen Jurek Becker, Sarah Kirsch, Erich Loest; die Schauspieler/innen Angelika Domröse, Manfred Krug, Armin Müller-Stahl; die Sängerinnen Eva-Maria und Nina Hagen und der Musiker Klaus Jentzsch (Renft). Gerulf Pannach, Jürgen Fuchs und Christian Kunert wurden im November 1976 verhaftet und aus der Untersuchungshaft im August 1977 in den Westen abgeschoben. Bettina Wegner gehörte zu den Künstlern in der DDR, die kaum mehr Arbeitsmöglichkeiten hatten und aus dem Land vergrault wurden.

Eine Art „politischer Asylraum“ in der DDR, in dem Regimekritik offen geäußert werden konnte und verbotene Künstler auftraten, war die Evangelische Kirche. Sie wurde auch Zufluchtsort für viele Liedermacher. Wolf Biermanns erster Auftritt nach elf Jahren fand 1976 in einer Prenzlauer Kirche statt.

Zu einer Symbolfigur der Bürgerrechtsbewegung wurde Stephan Krawczyk. Er hatte sich über Singebewegung und Folkszene zum Liedermacher entwickelt und schrieb ab 1984 – stark beeinflusst von seiner damaligen Lebensgefährtin Freya Klier – selbst Texte, die zunehmend kompromissloser wurden. 1985 erhielt er Auftrittsverbot und spielte seitdem nur noch in Kirchen. Bei der Teilnahme an einer illegalen Demonstration wurde er zusammen mit mehr als dreißig Personen am 17. Januar 1988 verhaftet. Verhandlungen zwischen Staat, Staatssicherheit und Kirche führten dazu, dass die inhaftierten Bürgerrechtler (darunter Krawczyk) in den Westen abgeschoben wurden.

Am 10. Juni 1989 fand in Leipzig ein Straßenmusikfestival statt. Spontanes Musizieren auf der Straße war in der DDR nicht erlaubt und wurde stets von der Polizei beendet. Das führte zu dem Plan, bei den Behörden ein Straßenmusikfestival anzumelden, trotz oder gerade wegen der Gewissheit, dass es abgelehnt würde: Man wollte provozieren. Die Veranstaltung wurde trotz der erwarteten Ablehnung in der DDR bekannt gemacht. Am 10. Juni fanden sich etwa fünfzehn Musik- und Theatergruppen im Leipziger Zentrum ein und spielten, zunächst unbehelligt, vor einigen hundert Zuhörern z. Tl. inhaltlich provozierende Lieder. Dem Aufruf eines SED-Funktionärs, das Festival zu beenden, wurde nicht gefolgt, und so begann um 13.30 Uhr der Polizeieinsatz. Es gab 140 Festnahmen, z. Tl. mit brutaler Gewalt. Dabei entstand aber auch eine spontane Protestdemonstration, und einige Wochen später fand im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Kurt Masur eine öffentliche Diskussion über die Ereignisse des 10. Juni statt (s. Kirchenwitz 1993).

Im September 1989 traten verschiedene oppositionelle Gruppierungen mit Aufrufen an die Öffentlichkeit, so die Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ und das „Neue Forum“. In Erfurt wurde die Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ gegründet. 200 Mitglieder des Schriftstellerverbandes forderten einen demokratischen Dialog. Rockmusiker und Liedermacher verfassten einen gemeinsamen Aufruf, in dem es u. a. hieß: „Wir fordern Änderung der unaushaltbaren Zustände.“ Der Aufruf wurde von 3000 Künstlern u. a. Persönlichkeiten unterzeichnet und zu Beginn vieler Konzerte unter dem Beifall des Publikums verlesen (Kirchenwitz 1993).

Einen Höhepunkt der oppositionellen Bewegung stellte die Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz dar, auf der eine halbe Million Menschen demokratische Reformen forderte.

Für die Liedszene von besonderer Bedeutung war die Heimkehr der ausgebürgerten Liedermacher mit einem Biermann-Konzert am 1.12. in Leipzig und der Veranstaltung „Verlorene Lieder – verlorene Zeiten“ am 2.12. im Berliner Haus der jungen Talente, in der außer Biermann die einst Ausgebürgerten Eva-Maria Hagen, Stephan Krawczyk, Gerulf Pannach und Bettina Wegner auftraten; außerdem Jürgen Eger, Gerhard Schöne, Barbara Thalheim und Wenzel / Mensching.

 

Dialektrenaissance

Lange Zeit fristeten Mundarten im offiziellen Kulturbetrieb ein marginales Dasein. Das Jahr 1975 markiert einen Einschnitt: Dialekt drang ein in Filme, Fernseh- und Hörspiele und in die Lyrik. Auf der Bühne wurden neue Dialektstücke gespielt, die sich vom herkömmlichen volkstümlichen Genre abgrenzten. Es kamen Dialektlieder auf, die nicht mehr eine „heile Welt“ darstellen, sondern auch die negativen Sektoren der Realität – z. Tl. in grotesker Verzerrung – ins Blickfeld rückten. Als einer der ersten Repräsentanten des neuen, nicht mehr „regionalchauvinistischen“ Dialektliedes gilt der Österreicher Wolfgang Ambros. Einige seiner Lieder erinnern an Gedichte von H. C. Artmann, der schon am Ende der fünfziger Jahre Mundart als Ausdrucksmittel des Makabren verwendete.

Als neuartig galt die Verbindung von Dialekt und einer nicht „bodenständigen“ Musik. Um 1970 wurde in vielen Regionen der BRD Dialekt-Blues gesungen. Musiker, die von der Beat-Welle beeinflusst waren, kopierten zunächst die bekannten angloamerikanischen Vorbilder, entwickelten dann jedoch ein Bedürfnis nach „eigenem“ Ausdruck. Vielen erschien Mundart anstelle von Englisch zu ihrer Musik passender als Hochdeutsch. Am Anfang der siebziger Jahre wurde der „Neckarbrücken-Blues“, gesungen von der deutschen Sängerin Erna Strube alias Joy Fleming, zum Hit.

Die Auseinandersetzungen in Wyhl am Kaiserstuhl, wo ein Kernkraftwerk geplant war, und in Marckolsheim (Elsass), wo eine Bleisulfatfabrik gebaut werden sollte, bewirkten eine Politisie­rung des Dialektliedes. In der damaligen Protestbewegung fungierte die Mundart als ein Instrument der Selbstbehauptung von Bevölkerungsgruppen, die von diesen Projekten zwar unmittelbar betroffen waren, jedoch an wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen kaum beteiligt wurden.

Während der Platzbesetzungen durch Bürgerinitiativen entstanden u. a. Dialektlieder. Die Sprache, die sie verwendeten, war nicht – wie in „mund-art“-Produkten – künstlerisches Ausdrucksmittel, sondern Alltagssprache eines Teils der protestierenden Bevölkerungsgruppen. Eines der bekanntesten Lieder wurde die Umtextierung des traditionellen „In Mueders Stübele“ von Walter Mossmann.

Bei den Auseinandersetzungen in Wyhl und Marckolsheim änderten sich Funktion und Thematik der Dialektlieder sowie die Rolle einiger Liedermacher, die zuvor nur auf Podium und Bühne aufgetreten waren. Die damaligen Ereignisse wurden oft als Beweis dafür angeführt, dass „lebendige Volkskultur“ noch in der Gegenwart möglich sei und dass die Folkszene ihr verbal oft und gern bekundetes politisches Engagement in die Tat umzusetzen vermochte.

In der damaligen Situation bedeutete Mundart auch eine Absage an nationales Denken. Im Konflikt mit den wirtschaftlichen und politischen Machtzentralen besann man sich auf regionale Zusammengehörigkeit über trennende Staatsgrenzen hinweg, eine Zusammengehörigkeit, die sich auch sprachlich äußert, denn alemannisch spricht man sowohl in einem Teil Deutschlands als auch im (französischen) Elsass und der deutschsprachigen Schweiz.

Wyhl und Marckolsheim wurden Vorbilder für Protestaktionen in vielen Regionen. Auch andernorts sang man im Dialekt, oft Übertragungen der Lieder aus Wyhl und Marckolsheim auf neue Situationen und in die Sprache der jeweiligen Region.

Mit wachsender örtlicher und zeitlicher Distanz zur Ursprungssituation ergibt sich insbesondere für Dialektlieder ein Problem: Die Sprache erschwert das Textverständnis und wirkt sich auf die Kommunikation nicht mehr fördernd, sondern hemmend aus. Dialekt, herausgerissen aus seiner alltäglichen, lebenspraktischen Funktion, kann sich so zum „exotischen Tupfer“ in einer Warenwelt verwandeln.

In der Folkszene gab es häufig Verklärungen des Dialekts. Es wurden Vorstellungen reproduziert, die seit Herder entwickelt worden waren: Mundart repräsentiere das „Echte“, „Unverfälschte“, „Ursprüngliche“ etc. Mundartlieder dienten nicht selten zur Befriedigung nostalgischer Sehnsüchte. Dialekt wurde auch als Mittel gebraucht, einen allgemeineren, weniger auf konkrete Probleme bezogenen Protest gegen „soziale Vermassung“ und „kulturelle Gleichschaltung“ auszudrücken, denn in ihm schien ein Stück regionaler Vielfalt und Individualität zu überleben. So wurde Dialekt als Verteidigungswaffe im Einsatz für autochthone Kulturen gegen die Überflutung mit europäisch-amerikanischer Massenware gebraucht. Dies deckte sich mit dem Verständnis von Folkmusik insgesamt als Gegensatz zur vorherrschenden „Plastikmusik“ und kulturellen Nivellierung.

 

Punk

Literatur

Buckley, Jonathan / Ellington, Mark (Hg.) (1998): Rock Rough Guide. Stuttgart: Metzler

Büsser, Martin (1998): If The Kids Are United. Von Punk zu Hardcore und zurück. 4., überarb. u. erw. Aufl. Mainz (6. Aufl. Mainz 2003)

Colegrave, Stephen /  Sullivan, Chris (2005): Punk. Deutsche Ausgabe Collection Rolf Heyne: München

Frith, Simon (1981): Jugendkultur und Rockmusik. Reinbek

Galenza, Ronald (2005): Zwischen „Plan“ und „Planlos“: Punk in Deutschland. In: Rock! Jugend und Musik in Deutschland. Begleitbuch zu der Ausstellung im Haus der Geschichte der BRD in Bonn. Berlin: Ch. Links Verlag

Galenza, Ronald / Havemeister, Heinz (Hg.) (1999): Wir wollen immer artig sein. Punk, New Wave, HipHop, Independent-Szene in der DDR 1980–1990. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2. Aufl. (überarb. u. erweiterte Neuausgabe ebd. 2005)

Graf, Christian (2003): Punk! Das Lexikon – erweiterte Neuausgabe. 3. Aufl. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf

Kögler, Ilse (1994): Die Sehnsucht nach mehr. Rockmusik, Jugend und Religion. Graz, Wien, Köln

Lau, Thomas (1992): Die heiligen Narren. Punk 1976–1986. Berlin: De Gruyter

Naumann, Michael / Penth, Boris (1986): Stiltransit. Gedanken zur Ästhetik des Punk. In: Bucher, Willi / Pohl, Klaus (Hg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt / Neuwied. S. 119–127

Ott, Paul / Skai, Hollow (Hg.) (1983): Wir waren Helden für einen Tag. Aus deutschsprachigen Punk-Fanzines 1977–1981. Hamburg: Rowohlt

 „Punk“. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie (Stand: 13.12.2006)

Reimitz, Monika (1986): Punk-Räume. In: Bucher, Willi / Pohl, Klaus (Hg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt / Neuwied. S. 130–134

„Sex Pistols“. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie (Stand: 13.12.2006)

„Sid Vicious“. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie (Stand: 4.12.2006)

Skai, Hollow (1981): Punk. Versuch einer künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung. Hamburg

Stark, J. / Kurzawa, M. (1981): Der große Schwindel? Punk – New Wave – Neue Welle, Freie Gesellschaft. Frankfurt am Main

Thiel, Wolfgang / Wirth, Hans-Jürgen (1986): Über Geschmack lässt sich streiten. In: Bucher, Willi / Pohl, Klaus (Hg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt / Neuwied. S. 148–152

Teipel, Jürgen (2001): Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Zimmermann, Peter (1984): Rock’n Roller, Beats und Punks. Rockgeschichte und Sozialisation. Essen

 

Der Begriff „Punk“

stammt aus dem Englischen und variiert in seiner Bedeutung: In Wörterbüchern taucht er in der Bedeutung von „faules Holz“ oder „Zunderholz“ auf. Übertragen auf andere Bereiche meint „Punk“ etwas Minderwertiges, bezogen auf Personen soviel wie „Outlaw“ (Lau 1992, S. 9).

Seit 1976 wurde der Begriff „Punk“ oder „Punkrock“ verwendet, um eine neue Richtung der Rockmusik zu bezeichnen. Lau hat die folgenden Definitionen von „Punkrock“ zusammengetragen (Lau 1992, S. 10):

- „(late 1970s) loud, fast, violent style of rockmusic“ (Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English 1981)

- „a form of hard-driving rock music characterized by an extremely bitter treatment of alienation and social unrest“ (The American Heritage Dictionary 1982)

- „a type of pop music involving outrage and shock effects in music, behavior, and dress“ (Oxford American Dictionary, 1980)

- „a loud fast moving style of rock music characterized by aggressive and deliberately outrageous lyrics and performance“ (A Supplement to the Oxford English Dictionary 1982)

Im Duden von 1986 wird der „Punker“ definiert als ein Jugendlicher, „der durch exaltiertes, oft rüdes Verhalten und auffallende Aufmachung (z.B. grell gefärbte Haare) seine antibürgerliche Einstellung ausdrückt“ (zit. nach Lau 1992, S. 10). Der Begriff „Punk“ bezieht sich demnach nicht mehr nur auf eine bestimmte Musikrichtung, sondern darüber hinaus auf Jugendliche, die in ihrem Verhalten und Outfit Protest gegenüber der Gesellschaft äußern.

Amerikanischer Punk stellte seit Mitte der sechziger Jahre eine Spielart des Rock dar, die voller Energie und Aggressivität war, aber auch eine starke Tendenz zum Dilettantismus hatte. Sie grenzte sich gegen den Rock-Kult der siebziger Jahre ab. Der Punkrock lehnte Musikkommerz und Starkult ab. Meist wurde er von Schülerbands gespielt, die in Garagen probten („Garage Bands“) und nur in kleinen Clubs vor einem lokalen Anhängerkreis auftraten.

Der Punk brachte sich nicht nur durch Musik, sondern auch durch Kleidung, Frisuren, Grafiken etc. zum Ausdruck. Er betont das Hässliche. Seine Haltung gegenüber dem gesellschaftlichen Mainstream war respektlos, provokant, resigniert („no future“) und aggressiv. „Der Punk stellt sich gegen alle Konventionen, gegen die Konsumgesellschaft und gegen das Bürgertum... Der Punk kennt keine Ideale, keine Anführer und keine Ziele. Er wendet sich in einer strikten Antihaltung gegen alles“ („Punk“, in: Wikipedia).

Zur Geschichte des Punk

Die Anfänge des Punk liegen in den späten 1960er Jahren in den USA. Punk war eine Reaktion auf die Hippie-Bewegung. „Er richtete sich gegen den Idealismus und gegen die friedvolle Haltung der Hippies. Demgegenüber gab sich der Punk illusionslos und setzte auf offene Ablehnung der Gesellschaft“ („Punk“, in: Wikipedia). Als eine seiner frühesten prominenten Vertreterinnen gilt Patti Smith.

Mitte der siebziger Jahre gab es eine ökonomische Krise, die u.a. durch neue Technologien ausgelöst wurde. Große Teile der Bevölkerung sahen ihre Arbeitsplätze bedroht. Dazu kam die Angst gegenüber einer atomaren und chemischen Verseuchung der Erde. Studien wie „Global 2000“ prognostizierten einen katastrophalen Zusammenbruch für die Zukunft, wenn die „Grenzen des Wachstums“ (Club of Rome) weiter missachtet würden.

Angesichts einer düsteren Zukunft empfanden viele Jugendliche ihr Leben als sinnentleert und hoffnungslos. Eine Form der Widerstands war der provozierende Stil der Punk. Er durchbrach gängige Verhaltens- und Kleidungsregeln und lenkte damit die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich.

Um 1976 entwickelte sich der Punk in London zu einer Bewegung, deren Beginn durch das Auftreten der Gruppe „Sex Pistols“ in England markiert wurde. Punkgruppen der ersten Jahre waren u. a.: Sex Pistols, Clash, The Damned, The Slits (eine der wenigen Frauen-Punkbands), The Stranglers, Crass („Punk“, in: Wikipedia).

Der englische Punkrock nahm verschiedene musikalische Einflüsse in sich auf. Manche Kritiker hielten ihn für eine positive Entwicklung: Die Musik sei repräsentativ für das Bewusstsein der Arbeiterjugend; sie stelle die kapitalistische Herrschaft über Massenmusik in Frage. Unter Fachleuten gab es allerdings einen Streit über den sozialen Hintergrund des Punk: Während ihn die einen für eine Arbeitslosen-Rockmusik hielten, stellte er für andere eine musikalische Richtung der Boheme dar. Die These vom „Arbeitslosen-Rock“ vertrat u. a. der britische Jugendpsychologe Peter Marsh, Leiter eines Forschungsprojekts an der Oxford University über Aggressionen in der Jugendkultur. Die Lieder der Punker spiegelten nach seiner Auffassung Frustration und Verzweiflung der Jugendlichen wider. Dafür sprach, dass die Punkszene in England mit der höchsten Arbeitslosenquote Jugendlicher seit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zusammenfiel. Vor allem die sozialen und politischen Themen der Punk-Gruppe „Clash“ stützten Marshs Interpretation. Andere wiederum bestreiten die proletarische Herkunft des Punk. Als seinen Erfinder nennt Frith Studenten an englischen Kunst-Schulen, die seit jeher Großbritannien mit Rockmusikern versorgten. Z. B. entstammte der Manager der Punk-Gruppe Clash einer solchen Schule. Punk-Rock ist für Frith Boheme-Musik.

Punk wurde demnach nicht nur von arbeitslosen Arbeiterjugendlichen gehört oder gemacht, wohl aber ist seine Entstehung und seine breite Rezeption ohne die fortschreitende Arbeitslosigkeit Jugendlicher – in einigen Gebieten Großbritanniens waren fast 90 Prozent der Jugendlichen ohne Beschäftigung – und die damit verbundene Perspektivlosigkeit, Frustration, Langeweile und Verzweiflung kaum denkbar. „Punk konnte nur deshalb erfolgreich sein, weil er die Stimmung dieser Jugendlichen, die zu einem hohen Prozentsatz aus dem Arbeitermilieu kamen, wiedergab. Der Einfluss der englischen Kunstschulen auf die Rockmusik und besonders auf den Punk ist unbestritten“ (Kögler 1994, S. 163). Ein populärer Slogan der Punkbewegung hieß „no future“; er signalisierte Angst vor der Zukunft, die durch Probleme wie Massenarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und Angst vor einem Atomkrieg verursacht war, und Verweigerung gegenüber den (An-)Forderungen der Gesellschaft.

Nach einem Abklingen der Bewegung begann Anfang der 1980er Jahre der Punk aufs neue zu erstarken. Diesmal verbreitete er sich weltweit: in fast allen Ländern Europas, in Amerika, in Ostasien, auch in den kommunistischen Staaten des Ostblocks. Anfang der achtziger Jahre trat die Gruppe Dead Kennedys aus San Francisco / USA zum ersten Mal in Deutschland auf. Entgegen der Einschätzung „Punk’s dead“ produzierte die Gruppe The Exploited aus Großbritannien 1981 eine sehr erfolgreiche Platte mit dem Titel und dem Titelsong „Punk’s Not Dead“.

1982 wurden in Hannover erstmals „Chaostage“ veranstaltet. Später gab es auch andernorts „Chaostage“, die allerdings nicht mehr nur Treffpunkte einer speziellen Punkszene waren (Lau 1992, S. 28). Der Ruf der Punk-Bewegung in der Öffentlichkeit litt öfter durch Krawalle und die Zerstörungswut einiger Teilnehmer der Chaos-Tage.

„New Wave“ ist ein Begriff, der ca. 1977 zunächst innerhalb der Punk-Bewegung verwendet wurde. Im Laufe der Zeit kamen ihm jedoch verschiedene Bedeutungen zu; teils übernahm der „New Wave“ Elemente des Punk, teils grenzte er sich gegen ihn ab. Eine deutschsprachige Variante des New Wave war seit 1976 die Neue Deutsche Welle (NDW): u. a. mit den Gruppen Fehlfarben, DAF, Einstürzende Neubauten, Nina Hagen Band. Ein besonderes Merkmal der New-Wave-Epoche war der verstärkte Einsatz von elektronischen Instrumenten.

Der Punk war Ausgangspunkt des New Wave, der ihn allerdings veredelte und gesellschaftsfähig machte – zum Missfallen der Anhänger/innen des echten Punk. Zur Verwandlung des Punk trug u. a. bei, dass die Musikindustrie den neuen Trend als profitträchtig entdeckt hatte. In den späten achtziger Jahren wurde Punk Teil eines jugendkulturellen Mainstreams. In Deutschland repräsentierten ihn u. a. Gruppen wie Die Toten Hosen und Die Ärzte.

Eine weitere bekannte deutsche Punkgruppe waren die Böhsen Onkelz, die niemals von einer großen Plattenfirma unterstützt wurden. Doch auch ohne Werbung fanden sie viel Resonanz. „Sie gelten als Teil der rechten Skinhead- oder Neonazi-Szene, obwohl sie sich mehrfach entgegengesetzt geäußert und beispielsweise an Veranstaltungen der Reihe Rock gegen Rechts teilgenommen haben“ („Punk“, in: Wikipedia). 2005 löste sich die Gruppe auf.

Eine eigene Stilrichtung ist der „Hardcore Punk“, der Anfang der achtziger Jahre entstand. Seine Anhänger tragen Baseballkappen, Kapuzenpullis, Kopftücher und Turnschuhe. Sie kennen sich teilweise aus der gemeinsamen Punkzeit, werden von den verbleibenden „Nieten-Punks“ manchmal abfällig „Slammer“ genannt (Lau 1992, S. 36). Detaillierte Beschreibungen der Entstehung des Hardcore aus dem Punk: siehe Büsser 1998 (vgl. Literaturverzeichnis).

Geographische Verbreitung

Punk breitete sich von England ausgehend zunächst auf dem europäischen Kontinent aus. Auch im Ostblock entstand eine Punk-Szene, z. Tl. – so etwa in der DDR – mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung. Die Veranstaltung von Konzerten etc. war hier sehr erschwert.

Unter Namen wie Demokratische Konsumenten, Schleim-Keim, Zwitschermaschine, Rosa Extra, Ornament & Verbrechen, Saalschutz, Namenlos wurden zu Beginn der 1980er Jahre in der DDR Punkbands gegründet. Das dortige Regime betrachtete sie als eine Gefährdung der Staatssicherheit und trat einer Verbreiterung der Szene mit allen Mitteln entgegen. Die einzelnen Punks wurden namentlich registriert. Durch die Aufnahme in eine Registrierungskartei wurden Punks zu Staatsfeinden, die die sozialistische Lebensweise in Frage stellten (Galenza / Havemeister 1999, S. 75). Die Staatssicherheit unter Erich Mielke als Stasi-Minister wollte Konzerte, die z.B. in leerstehenden Altbauten oder anderen halb verfallenen Gebäuden veranstaltet wurden, unterbinden (ebd.). Was sich schon bei „Trampern, Asozialen und Langhaarigen bewährt hatte“ (ebd.), sollte auch hier wieder zur Anwendung kommen. 1984 wurden die Mitglieder der Gruppe Namenlos zu Gefängnisstrafen zwischen einem und anderthalb Jahren verurteilt. Auch andere Punk-Bands wurden aufgelöst und ihre Mitglieder verhaftet.

Der staatliche Druck stärkte jedoch letztlich den Zusammenhalt der Szene. Sie wurde von Teilen der Kunst-Avantgarde in der DDR unterstützt, die Bands zu Veranstaltungen einlud. Auch die Kirche engagierte sich: Viele Konzerte fanden in kirchlichen Räumen statt.

Die Verbreitung von Musiktexten sowie die Produktion eigener Tapes oder Platten waren in der DDR erschwert. Die Öffentlichkeit hatte keinen Zugang zu Kopiergeräten. Außer den staatlichen Plattenfirmen wurden zwar auch kleine Independent Labels gegründet, die ersten eigenen Platten mussten aber im Ausland produziert werden. Dennoch konnte sich trotz der schwierigen Bedingungen auch in der DDR eine Punkszene entwickeln und halten, bis sie in der Mitte der 1980er Jahre – wie auch anderswo – Zersetzungserscheinungen erkennen ließ.

Auch außerhalb von Europas Grenzen entwickelt sich eine Punk-Kultur. Lau erwähnt die Existenz von Punk-Bands in Mittelamerika (Mexiko), Südamerika (Peru, Brasilien, Argentinien) und Asien (Japan, Philippinen) (Lau 1992, S. 20).

Texte und Musik

Der Punk-Rock wird von den Bands meist in einer Dreifachbesetzung gespielt, bestehend aus Bass, Gitarre und Schlagzeug. Nur selten werden Keyboards oder Blasinstrumente eingesetzt. Anfänglich wurde ein Dilettantismus propagiert, der es jedem ermöglichen sollte, zugleich Publikum und / oder Entertainer zu sein. In der Fanzeitschrift „Sniffin Glue“ erschien die Abbildung dreier Gitarrengriffe; darunter stand: „This is a chord. This is another. This is a third. Now form a band“ (zit. nach Lau 1992, S. 76).

Mit dieser Einfachheit war eine Absicht verbunden: Die „sagenumwobene Welt der Rockgiganten“ sollte „entzaubert“ werden (Lau 1992, S. 59). Punk wollte Starkult vermeiden. Musikmachen sollte für jedermann und mit geringem technischem Equipment möglich sein.

Charakteristisch für den Punkrock sind ein schneller, harter Beat, große Lautstärke, schreiender, röchelnder Gesang mit teilweise stark verzerrter Stimme. Die Musik soll nicht harmonisch schön, sondern grell und laut klingen. Musikalisch abgrenzen will sich der Punk gegen den „Bombast-Rock“ der siebziger Jahre. Es gibt keine aufwendigen Arrangements der Stücke und Songs und auch keine Instrumentalsoli, bei denen einzelne Musiker hervortreten und durch Virtuosität beeindrucken könnten. Punk-Rock ist Live-Musik. Man konnte sie für wenig Geld in Pubs oder Jugendzentren hören.

Die Texte sind sehr provokativ. Der Punk-Generation wird im allgemeinen unterstellt, dass sie den Glauben an die Zukunft verloren habe: Ihre defätistische Parole „no future“ entstammt dem Song der Sex Pistols „God Save the Queen“, mit dem der Gruppe der Durchbruch gelang. Darin kommt mehrfach hintereinander die Phrase „no future“ vor, die der gesamten Punkbewegung als Etikett angehängt wurde. Lau bemerkt dazu, dass der weitgehend unbekannte Kontext dieser Phrase „There is no future in England’s dreamin“ darauf hindeutet, dass Punk entgegen der verbreiteten Auffassung nicht die Zukunft verweigert, sondern eine andere Zukunft fordert, keineswegs diejenige, die dem retrospektiven kollektiven Traum der englischen Bevölkerung entspricht (Lau 1992, S. 62).

Bereits die Namen der Bands sollten provozieren. Es wurden auffällig viele militaristische Begriffe sowie Tabu-Begriffe verwendet, z. B.: SS Hitler, Crude SS, Wehrkraftzersetzer, Partisans, Idiot, L’attentat, Epileptics, Neurotic Arseholes, Kidnap. Manche Punker trugen Hakenkreuze, wobei es ihnen auf den Schockeffekt ankam, nicht auf die Demonstration einer politischen Gesinnung. Im allgemeinen sympathisierten sie nicht mit dem rechten Extremismus, sondern sie verstanden sich eher als politisch links.

Der Punk propagierte oft eine (keineswegs von politischen Theorien untermauerte) Anarchie und eine radikale Ablehnung der Konsumgesellschaft und der politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Institutionen. Die politische Perspektive fehlte dabei meistens. Es war unvereinbar mit dem Punk, Ideale zu „predigen“ oder politische Ziele mit missionarischem Eifer zu verfolgen.

Vermarktung, Konzerte

Viele Bands stellen Tapes und Platten in Eigenproduktionen her, es wurden sehr viele kleine Labels, sogenannte Independant-Firmen („Indies“), gegründet, die die Platten vermarkteten. Der Wechsel zu einer großen Firma galt als Verrat, und es wurde dementsprechend den wenigen „Großen“ im Geschäft, den Toten Hosen, den Dead Kennedys u. dgl., unterstellt, keine richtigen Punks mehr zu sein (Lau 1992, S. 65). Aber das Beschreiten eigener Vermarktungswege abseits von den großen Firmen geschah auch aus der Not heraus und in Ermangelung anderer Möglichkeiten. Tapes und Platten wurden überwiegend bei Konzerten und in kleinen szeneeigenen Plattenläden verkauft.

Punk-Konzerte hatten als Treffen Gleichgesinnter eine wichtige Bedeutung. Teilweise war das Herum- und Abhängen in der näheren Umgebung eines Konzertes wichtiger als der Besuch der Veranstaltung selbst (Lau 1992, S. 69). Neu an der Punkszene war, dass die Musik aus den großen Veranstaltungsräumen wieder herausgeholt wurde. Punk-Konzerte fanden eher in kleineren Veranstaltungsräumen der Subkultur statt. Sie waren relativ kurz, dauerten oft nicht viel länger als eine Stunde. In einem Fanmagazin („Fanzine“) findet sich die folgende Charakterisierung: „Ein echtes Punk-Konzert gliedert sich immer in ein Ganz vorher, ein Vorher, ein Nachher und ein böses Ende“ (Ott 1983, S. 35).

Bei den Konzerten wurde auf besondere Weise getanzt: Die Bezeichnung „Pogo“ hat sich für diese spezielle Tanzform durchgesetzt. Es wird auf beiden Beinen gehüpft, Anrempeln ist erlaubt. Reichlich wird dabei Alkohol konsumiert. Ein besonderes Ritual bildet das vor allem später im Hardcore kultivierte „Stagediving“: Punks aus dem Publikum betreten die Bühne und springen von dort aus zurück in die Menge bzw. werden von Sicherheitsleuten von der Bühne befördert.

Szenetypische Erscheinungen

Die Anfänge des Punk waren zunächst äußerlich recht unauffällig. Bandmitglieder und Fans begannen mit Kurzhaarfrisuren oder unordentlichen „Stachelfrisuren“ – eine Reaktion auf die Langhaarfrisuren bei Männern, die einst Anstoß erregt hatten, nun aber gerade salonfähig geworden waren. Ursprünglich resultierte das abgerissene Outfit der Punker aus der Not, denn es war kein Geld für neue Kleidung da. Erst allmählich wurde es zum Kult, und es wurden z. B. Löcher in neue, intakte Kleidung hineingeätzt, Ärmel ausgeschnitten und zerfranst etc. (Lau 1992, S. 83–97).

Seit den 1980er Jahren kristallisierte sich ein typisches, innerhalb der Szene vorherrschendes, jedoch nicht verpflichtendes Erscheinungsbild des Punk heraus. Zur Ausstattung gehörten Accessoires wie Sicherheitsnadeln, Piercings, zerlöcherte, abgerissene Kleidung, karierte Kleidung, Springerstiefel oder Doc Martens-Schuhe, Nietengürtel, Lederjacken ohne Ärmel oder mit halb abgerissenen Ärmeln, Strümpfe mit Löchern, ausgebleichte und durchlöcherte Jeans sowie ausgefallene, teilweise sehr aufwendig gefärbte und gestylte Frisuren. Hier ist besonders der Irokesenschnitt (genannt „lro“) mit einem Haarkamm von der Stirn bis zum Nacken und kahl rasierten Seiten zu nennen; es wurden aber auch andere Variationen der Teilrasur der Kopfhaut getragen. Tätowierungen kamen in Mode, an Ohren, Nasen und anderen Stellen wurden Ringe getragen. Aus den Sicherheitsnadeln entwickelte sich vermutlich das Piercing an allen (un)möglichen Körperstellen.

Seit Anfang der achtziger Jahre wurden Elemente der Punk-Mode in Boutiquen angeboten und die Frisuren durch New Wave veredelt – seit 1982 gab es Wet Gel, seit 1983 Haarlack (Lau 1992, S. 85). Angesichts der zunehmenden Kommerzialisierung wandten sich manche Punker anderen Strömungen zu.

Punkfrauen – auch „Punkette“ genannt – trugen oft Miniröcke in Kombination mit durchlöcherten, zerrissenen Strümpfen und klobigen Schuhen – eine provokative und widersprüchliche Mixtur: Der Minirock ermöglicht den Blick auf die Beine und gilt im allgemeinen als „sexy“. Doch der Blick prallt auf durchlöcherte, zerrissene Strümpfe – der Alptraum für ordentliche Bürger.

In der Punkszene dominieren Männer. Bands und Fanzines werden überwiegend von Männern betrieben. „Um dem Machismo etwas entgegenzusetzen..., bildete sich die Riot-Grrrl-Bewegung, in der Frauen und Mädchen sehr aktiv und engagiert als Veranstalterinnen, Urheberinnen von Labels, Autorinnen von Fanzines und besonders als Musikerinnen auftraten“ („Punk“, in: Wikipedia).

The Sex Pistols

mit Paul Cook (Schlagzeug), Steve Jones (Gitarre), Glen Matlock (Bass), Johnny Rotten (Gesang) traten am 28. Januar 1976 zum ersten Mal in Großbritannien im „St. Albans Bash“ auf. Mehrere Auftritte in Großbritannien und einer im Ausland folgten. Im Oktober unterzeichneten sie einen Plattenvertrag mit EMI.

Ein spektakulärer Bühnenauftritt und vor allem das anschließende Interview (in Thames TV ausgestrahlt) endete damit, dass EMI im Januar 1977 seinen Plattenvertrag mit den Sex Pistols auflöste und der Interviewer einige Wochen vom Dienst suspendiert wurde (Lau 1992, S. 42). Er war von den Bandmitgliedern mit „dirty bastard“, „dirty fucker“ und „fucking rotter“ tituliert worden, nachdem er sie zuvor aufgefordert hatte, „something outrageous“ zu sagen. Nach Angaben des „Rock Rough Guide“ hatte der TV-Moderator seine Gäste sowohl zu Alkoholkonsum als auch zu den oben genannten Schimpfwörtern animiert (Buckley / Ellington 1998, S. 697). Es gab nach diesem Interview viele Proteste. Eine geplante England-Tournee der Sex Pistols schien zu platzen, weil die meisten Veranstalter nicht mehr den Mut hatten, die Band auftreten zu lassen. Auftritte der Band waren von Gegendemonstrationen konservativer Bürgervereine begleitet.

Glen Matlock verließ die Gruppe 1977 und wurde durch Sid Vicious (eigentlich John Simon Ritchie; *1957, †1979 durch eine Überdosis Heroin) ersetzt. Sid Vicious übernahm die Rolle des Bassisten, obwohl er kaum Bass spielen konnte und seine Basspartien durch jemand anderes eingespielt wurden; „seine Rolle war mehr die des personifizierten Punks in der Band“ („Sid Vicious“, in: Wikipedia).

Die Sex Pistols unterzeichneten einen Plattenvertrag mit der Firma A&M. Dort sollte die Platte „God save the Queen“ erscheinen, sie wurde jedoch noch vor der Veröffentlichung eingestampft. Die Gruppe erhielt daraufhin einen Vertrag bei „Virgin“, wo „God save the Queen“ 1977 veröffentlicht wurde. Die Sex Pistols sangen ihre Version des „God save the Queen“ anlässlich des silbernen Kronjubiläums der englischen Königin. In diesem provokanten Lied wurde nicht nur die Nationalhymne verunglimpft, sondern auch die Königin und das angeprangrt, wofür sie in den Augen der Sex Pistols stand: ein faschistisches Regime, eine unmenschliche, geldorientierte und kriminelle Gesellschaft. Möge Gott eine Königin retten, die eine solche Gesellschaft repräsentiert. „God save the Queen“ erreichte trotz – oder vielleicht gerade wegen – des BBC-Banns, des Verkaufsverbots einiger großer Ladenketten, des Auftrittsverbots der Sex Pistols sowie der empörten Stimmung im Land den ersten Platz in der englischen Hitparade.

Es folgten Tourneen der Sex Pistols durch Skandinavien, die Niederlande und schließlich die letzte Tournee in die USA, bei der die Gruppe sich zu Beginn des Jahres 1978 auflöste. Während ihrer Konzerte und auf ihren Reisen verstießen die Sex Pistols durch rüdes Benehmen immer wieder gegen gesellschaftliche Konventionen. Empörte Reaktionen auf solche Regelverstöße wirkten insofern oft „scheinheilig“, als schlechtes Benehmen zum Image der Gruppe gehörte, deren Markenzeichen war und den Erwartungen der medialen Öffentlichkeit entsprach.

 

Skinheads

Literatur (Auswahl)

Assheuer, Thomas / Sarkowicz, Hans (1992): Rechtsradikale in Deutschland. Die alte und die neue Rechte. 2. aktualisierte Aufl. München

Farin, Klaus (Hg.) (1998): Die Skins. Mythos und Realität. 2. durchges. Aufl. Berlin

Farin, Klaus. / Seidel-Pielen, Eberhard (1993): Skinheads. München

Funk-Hennigs, Erika (1989): Welche Rolle spielt die Musik bei den Rechtsextremisten in der Bundesrepublik Deutschland? In: Musikpädagogik zwischen Traditionen und Medienzukunft. Musikpädagogische Forschung, Bd. 9. Hg. v. Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung durch Christa Nauck-Börner. Laaber. S. 91–107

Funk-Hennigs, Erika (1994a): Zur Musikszene der Skinheads – ein jugendkulturelles und / oder ein rechtsextremistisches Phänomen unserer Gesellschaft? In: R.D. Kraemer, H. Gembris u. G. Maas (Hg.), Musikpädagogische Forschungsfragen 1993. Augsburg

Funk-Hennigs, Erika (1994b): Über die Rolle der Musik in der Alltagskultur der Skinheads. In: Beiträge zur Popularmusikforschung 13. Hg. v. Arbeitskreis Studium populärer Musik e. V. durch Helmut Rösing. Baden-Baden. S. 46–78

Funk-Hennigs, Erika (2006): Abgrenzung oder Anpassung? Musikalische und politische Wandlungsprozesse innerhalb einer Jugendkultur – dargestellt an der Skinheadszene. In: Musik als Kunst, Wissenschaft, Lehre. Festschrift für Wilhelm Schepping zum 75. Geburtstag. Hg. v. Günther Noll, Gisela Probst-Effah u. Reinhard Schneider. Münster. S. 163–175

Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg: Skinheads. 2 Hefte. 1993

 

Die Skinheads rückten verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit durch Gewalttaten in den neunziger Jahren in

- Hoyerswerda (Herbst 1991)

- Rostock (August 1992)

- Mölln (November 1992)

- Solingen (Mai 1993)

Zuvor galten sie überwiegend als unpolitisch und lediglich an Krawallen und Randale interessiert.

Die Skinhead-Szene hat ihren Ursprung gegen Ende der sechziger Jahre in englischen Arbeiterstädten. Ihr fühlten sich vor allem arbeitslose Jugendliche aus dem Arbeitermilieu zugehörig. Der Schwerpunkt der Aktivitäten lag im Besuch von Fußballstadien, wo die Skinheads gemeinsam mit den Hooligans (den aggressiven Fußballfans) agierten. Später suchten englische Skinheads Kontakt zu linken Gruppen, doch hatte die massive Kampagne der rechtsextremistischen „National Front“ gegen den verstärkten Zuzug von Ausländern eine politische Kehrtwende zur Folge.

Seit den siebziger Jahren gab es auch in der BRD Skinheads. Assheuer / Sarkowicz datieren die ersten Skinheadgruppen in der BRD in die frühen achtziger Jahre, sie seien von Anfang an durch militante Ausländerfeindlichkeit aufgefallen (S. 86). Im Jahr 1990 schätzte der Verfassungsschutz die Zahl der deutschen Skinheads auf 2500–3000, davon seien 500 militant. 1991 meldete das Bundeskriminalamt 247 Brandanschläge in den alten und 91 in den neuen Bundesländern. Dabei wurden mehrere Menschen getötet und eine große Zahl z. T. schwer verletzt. Ende 1991 wurde die Zahl militanter Skinheads auf 6000 geschätzt.

Charakteristika der Skinhead-Gruppen: ein übersteigerter „Männlichkeitswahn“, exzessiver Alkoholgenuss. Die Mitglieder sind überwiegend Männer im Alter zwischen 17 bis 40 Jahren, die meisten sind zwischen 18–20 Jahre alt. Weibliche Skinheads – in der Szene „Renée“ genannt – finden „nur als Lustobjekt bzw. in der Rolle der Frau und Mutter ... Anerkennung“ (Funk-Hennigs 1994b, S. 52).

Äußere Kennzeichen der Skinheads: Bomberjacken, hochgekrempelte Jeans mit breiten Hosenträgern, Doc Martens-Stiefel oder Springerstiefel, Keltenkreuz (das die Zugehörigkeit zur „nordischen weißen Rasse“ symbolisieren soll), Odalsrune, Glatze oder millimeterkurz ge­schnittenes Haar. Doch treten inzwischen manche Skinheads, u. a. als Reaktion auf staatliche Exekutivmaßnahmen, äußerlich unauffällig als „Normalbürger“ auf.

Innerhalb der Szene gibt es verschiedene Strömungen. (Die folgenden Einteilungen der Szene sind älter und wahrscheinlich nicht mehr aktuell.)

- die „antifaschistischen Skins“, die sich „Redskins“ oder „S.H.A.R.P.“ (Skinhead Against Racial Prejudice) nennen; sie sind gegen Rechtsextremismus und Rassismus.

- „Oi-Skins“: Sie suchen vor allem Spaß, nicht politische Aktion und Agitation, betrachten sich zwar als rechts orientiert, lehnen jedoch rechtsextremistische Vorstellungen ab.

- „Nazi-Skins“ („White-Power-Skins“): auch „Faschos“ oder „Boneheads“ genannt; politisch die aktivste Gruppe. Das Denken der „anpolitisierten“ Skinheads ist geprägt von Antisemitismus, Rassismus und einem übersteigerten Nationalismus, doch liegt ihm kein politisches Konzept oder eine ideologische Auseinandersetzung zugrunde. Politisches Denken und Handeln werden bestimmt durch Bruchstücke rechtsradikaler Welterklärungsmuster. Sie gehören zum Sympathisantenkreis der FAP und Nationalen Front.

Trotz aller Politisierung, so betonen manche Autoren, bevorzugen auch politisch aktivere Skinheads gegenüber organisierten Strukturen spontane Aktionen, die oft durch gemeinsamen Alkoholgenuss ausgelöst werden. Gewalt sei oft Selbstzweck, Ausdruck eines Männlichkeitswahns und einer „Just for fun“-Mentalität. Da sich die Skinheads schwer disziplinieren lassen, seien manche Vereinnahmungsversuche neonazistischer Organisationen gescheitert. Für rechtsextremistische politische Gruppen fungieren Skinheads oft als „Schlägertrupps“ bei ihren Veranstaltungen. – Assheuer / Sarkowicz stellen in ihrer Publikation von 1992 fest, die Politisierung der Skinheads habe in den letzten Jahren zugenommen. Grund hierfür seien u. a. die vielen öffentlichen Diskussionen über die Asylbewerber. Politiker verschiedener Parteien hätten das Problem so dargestellt, als gefährde die Zuwanderung von Ausländern den Wohlstand und die innerer Stabilität.

Funk-Hennigs unterscheidet unter den Skinheads folgende Gruppierungen:

- Nazi-Skins (s. o.): die am stärksten politische Gruppe

- rechtsextreme Skinheads: ohne feste organisatorische Strukturen, doch mit deutlich rechtsextremistischer Einstellung

- unpolitische Skinheads: die bei Saufgelagen, Fußball, Musik und Randale vor allem Spaß suchen, unter Alkoholeinfluss jedoch auch gewalttätig werden

-S.H.A.R.P.-Skinheads: treten demonstrativ für Asylbewerber und Ausländer ein, indem sie vor deren Wohnheimen Wachposten beziehen; haben gegenüber den rechtsorientierten Skins eigene Fanzines

- Red-Skinheads (Anarcho-Skins): linksextremistisch, politisch stark engagiert, haben nur wenige Mitglieder

Funk-Hennigs betont, es gebe außerdem verschiedene Generationen von Skinhead-Gruppen, die untereinander kaum Kontakte hätten, u. a. weil die Älteren die Jüngeren als zu brutal betrachten (Funk-Hennigs 1994b, S. 54 f.)

Von den rechtsextremistischen Gruppierungen versuchte insbesondere die FAP, Einfluss auf Skinheads zu gewinnen; auch die Nationalistische Front und die Jungen Nationaldemokraten warben um sie.

Psychologisch erklären Assheuer / Sarkowicz den Zusammenhalt und das Verhalten der Skinhead-Gruppen u. a. folgendermaßen: Sie seien mit ihren festen Regeln und hierarchischen Strukturen „eine Art Familienersatz“. „Wer schon im Elternhaus Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung kennengelernt hat, wird kaum zögern, auch selbst Gewalt zu gebrauchen, um vermeintliche oder wirkliche Konflikte zu lösen“ (Assheuer / Sarkowicz 1992, S. 88). Skinheads betrachten sich als Ordnungshüter, und so erscheint ihnen ihr Handeln legitim.

Funk-Hennigs interpretiert die Skinhead-Szene als ein jugendkulturelles Phänomen; durch ein provozierendes Verhalten grenze sie sich gegen die Welt der älteren Generationen ab.

Der Verbreitung der rassistischen, nationalistischen Ideologie dienen „Fanzines“ (= Abkürzung für „fan“ und „magazine“), geschrieben von Fans für Fans, die intern kursieren. Sie werden im Selbstverlag gedruckt und vertrieben. Bewusstseinsprägend wirken insbesondere auch Musikgruppen, in England vor allem die Band „Skrewdriver“, die die Szene in Deutschland entscheidend prägte; in Deutschland u. a. die Gruppen „Noie Werte“, „Volkszorn“, „Endsieg“, „Störkraft“. Die Texte der selbst produzierten „Demotapes“ (Musikkassetten) der Musikgruppen weisen deutlichere rechtsextremistische Bezüge auf als die der offiziellen LPs und CDs. Die Demotapes enthalten meist keine Angaben zu den Herstellern oder Bandmitgliedern, so dass sich die Verfasser der extremistischen Texte mit strafrechtlich bedeutsamem Inhalt schwer feststellen lassen. Die Tonaufnahmen sind meist nicht in regulären Plattenläden erhältlich; sie werden häufig nur innerhalb der Szene über den Versandhandel vertrieben oder kopiert und von Hand zu Hand weitergegeben. Konzertveranstaltungen finden meist ohne Vorankündigungen auf Plakaten oder in anderen Veröffentlichungen statt; die Veranstaltungstermine und -orte (zumeist kleine Dörfer) werden in der Regel nur mündlich bekannt gegeben. Die Konzerte sollen das Gemeinschaftsgefühl und den inneren Zusammenhalt besonders stärken. „Es kann als gesichert gelten, dass die Skin-Bands entscheidenden Einfluss auf die politische Orientierung des Skinhead-Spektrums ausüben“ (Landesamt für Verfassungs­schutz Baden-Württemberg, Skinheads, S. 6). Eine große Rolle bei den Zusammenkünften spielt auch der exzessive Alkoholgenuss, der Hemmschwellen beseitigt. „Als Folge des Zusammenspiels zwischen aggressiver Musik und Alkohol wird dann häufig spontan beschlossen, nun konkret gegen die Gegner vorzugehen“ (ebd., S. 7).

Zum Teil werden Lieder aus der Nazi-Zeit aufgegriffen. Sie sowie die im Hardrock gespielten neueren Songs propagieren – ebenso wie die Fanzines der politisierten Skinheads – Gewalt und Ausländerhass.

Ursprünglich wurden von den Skin-Bands Elemente der Reggae- bzw. Punk-Musik verwendet. Im Laufe der Zeit wandelte sich der Stil aber immer mehr in eine Mischung von Hardrock und Heavy Metal. Charakteristika: einfache Melodien, dominiert von harten, schnellen, stakkatoartigen Rhythmen; die Vortragsweise ist laut und aggressiv. Textteile werden durch häufige Wiederholungen regelrecht „eingehämmert“. Die Aufnahmen werden meist selbst produziert, sie besitzen im allgemeinen nur eine geringe technische Qualität.

In einem 2006 veröffentlichten Aufsatz betont Erika Funk-Hennigs, dass sich die rechtsextremistische Musikszene gewandelt habe: Es lasse sich beobachten, dass sie stilistisch vielfältiger geworden sei. Ein „neuer“ Trend seit Mitte der neunziger Jahre bestehe etwa darin, bekannten Schlager- oder Volksliedmelodien rechtsextremistische, volksverhetzende Texte zu unterlegen (Funk-Hennigs 2006, S. 173). Eine der Kultbands ist z. Zt. die 2003 als kriminelle Vereinigung verklagte Band „Landser“, die volkstümliche, von schlichten Gitarrenakkorden begleitete Melodien und Countrysongs benutzt. Rechtsextremistische Tendenzen zeigen sich auch in jugendkulturellen Musikstilen wie „Dark Wave“, „Black Metal“, der Gothic-Szene und dem „Apocalyptic Folk“. „In der Technoszene, die als weitgehend ideologieresistent gilt,  schmückt sich vor allem die Gabber-Szene mit Untertiteln, die nationalsozialistisches Vokabular enthalten. In den Fanzines der HipHop-Szene streiten sich die Anhänger seit 2001 darüber, ob die von mehreren Rappern formulierten Parolen als rechtsextrem einzustufen seien oder lediglich als Provokationen verstanden werden sollten“ (Funk-Hennigs 2006, S. 173). Auch die Liedermacherszene verbreitet rechtsextremistisches Gedankengut (z. B. Frank Rennicke, Annett Moeck, Swantje Swanhwit).

 

HipHop

Literatur (Auswahl)

Androutsopoulos, Jannis (Hg.) (2003): HipHop. Globale Kultur – lokale Praktiken. Bielefeld

Buhmann, Heide / Haeseler, Hanspeter (Hg.) (2001): HipHop XXL. Fette Reime und Fette Beats in Deutschland. Schlüchtern. Mit 2 CDs

Buß, Christoph: Staatsexamensarbeit über Rap, HipHop. Köln (unveröffentlicht)

Buß, Christoph (2002): „Rap op the Eck“ – Rap in Köln. Regionale Bezüge einer urbanen Poesie. In: Phleps, Thomas (Hg.): Heimatlose Klänge? Regionale Musiklandschaften – heute. Karben. S. 103–122 (Beiträge zur Popularmusikforschung 29 / 30)

Buß, Christoph (1998): 21st Century Blues… From Da ’Hood. Aspekte zum Thema Rap-Music. In: jazzforschung / jazz research 30 (1998). S. 9–99

Dufresne, David (1997): Rap Revolution. Geschichte, Gruppen, Bewegung. Aus dem Französ. übersetzt von Jutta Schornstein. Taschenbuchausgabe Zürich, Mainz

Fuchs, Mechthild (1994): Rap und HipHop. Zum Umgang mit medienvermittelten Erfahrungen. In: Musik und Unterricht 28 (1994). S. 25–80

Henkel, Oliva / Wolff, Karsten (1996): Berlin Underground. Techno und HipHop zwischen Mythos und Ausverkauf. Berlin

Kellner, Sarah (1999): Rap und HipHop in Köln. Staatsexamensarbeit Köln (unveröffentlicht)

Kimminich, Eva (Hg.): Rap: More than Words. Frankfurt am Main 2004 (Welt – Körper – Sprache. Perspektiven kultureller Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, Bd. 4)

Krekow, Sebastian / Steiner, Jens / Taupitz, Mathias (1999): HipHop-Lexikon. Rap, Breakdance, Writing & Co. Das Kompendium der HipHop-Szene. Berlin

Shusterman, Richard (1994): Die hohe Kunst des Rap. In: Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus. Hg. von Richard Shusterman. Aus dem Amerikan. übersetzt von Barbara Reiter. Frankfurt am Main. S. 157–208

Toop, David (1992): Rap Attack. African Jive bis Global HipHop. Aus dem Englischen von Diedrich Diedrichsen. Andrä-Wördern

Verschiedene Artikel in Wikipedia: Hip-Hop (Subkultur); Hip-Hop (Musik); Rap

 

HipHop gilt neben Techno als die große Jugendkultur der 1990er Jahre.

HipHop besteht aus verschiedenen Bereichen: aus Musik (Rap,  DJing), Tanz (Break Dance) und Malerei (Graffiti). Dazu gehört außerdem eine bestimmte Kleidung (Trainingsanzug, Tennisschuhe, umgekehrt aufgesetzte Baseballmütze).

Der HipHop hat seine Ursprünge in den USA, längst jedoch ist er international. Seine Heimat ist die New Yorker Bronx. Man nennt HipHop eine Asphaltkultur, weil er auf den Straßen der Städte groß geworden ist. Dies war lange, bevor er international bekannt wurde. Seit dem Ende der sechziger Jahre war wegen wirtschaftlicher und sozialer Probleme die Jugendkriminalität in New York besonders hoch. Den Bandenkriegen setzten schwarze Jugendliche eine Alternative entgegen, wobei die Auseinandersetzung und der Wettstreit der Jugendgangs ohne körperliche Gewalt ausgetragen wurden. Statt dessen gab es erbitterte sportliche Wettkämpfe der Tanzakrobaten. Deren musikalischen Hintergrund lieferte zunächst Diskomusik, die aus großen Kassettenrecordern, den „Ghettoblasters“, ertönte.

Der Rap, die Musik der HipHop-Szene, hatte seine Anfänge in Diskos, wo schwarze DJs (z.B. DJ Hollywood, Grandmaster Flash, Afrika Bambaataa, Kurtis Blow) mit skandiertem Sprechgesang in Reimen, vorgetragen in einem rasanten Tempo, und Passagen des Call-and-Response die Tanzenden anfeuerten. Sie entwickelten eine eigene Mischtechnik, bei der sie verschiedene Titel, die parallel auf mehreren Plattentellern liefen, zu einer neuen Nummer „mixten“. Da es fast unmöglich war, dass eine Person gleichzeitig mixte und rappte, sorgte ein DJ für den instrumentalen Background, während der MC (Master of Ceremony, Mike Chanter oder Rapper) die Show und den Sprechgesang übernahm. 1984 kam das Sampling hinzu, bei dem natürliche und künstliche Klangstrukturen durch einen Computer – den Sampler – gespeichert und wiedergegeben wurden, so dass kein DJ mehr aus verschiedenen Platten manuell eine neue Nummer zusammenmischen musste.

HipHop wurde zu einem Kommunikationsmittel: Es transportierte u. a. Nachrichten aus den Ghettos, über die die US-Medien kaum berichteten. Rap ist ursprünglich die Musik der „B-Boys“, der städtischen schwarzen Jugendlichen. Die Texte waren ein Mittel der Auseinandersetzung. Es ging darum, schlagfertig zu sein, den Gegner zu provozieren, sich Respekt zu verschaffen, d. h. verbal auszufechten, wer der Größte und Stärkste ist. Einige Rapper behandelten auch soziale und politische Themen, so z.B. Afrika Bambaataa, Brother D, Grandmaster Flash and The Furious Five.

1979 wurde von der „schwarzen“ Schallplattenfirma Sugarhill aus New Jersey eine Singleplatte mit dem Titel „Rapper’s Delight“ herausgebracht, die innerhalb von kurzer Zeit in den amerikanischen, kanadischen und europäischen Hitparaden gespielt wurde. Nach diesem Durchbruchs breitete sich der HipHop international aus.

Mitte der achtziger Jahre gab es eine „New School“ des Rap: Rapper wie Run  D. M. C., LL Cool J (Ladies Love Cool James; * 1968 in Queen / New York City) und die Beastie Boys, eine weiße Rap-Gruppe aus New York. Es entstanden nun verschiedene Richtungen des Rap: z. B. Pop-Rap, Reggae-Rap, weißer Rap, schwarzer Rap, multinationaler Rap und Latin HipHop.

Die „Next School“ verstärkte radikale Positionen (u. a. Public Enemy; Boogie Down Productions = BDP, ein HipHop-Duo). Die Gruppe Public Enemy verbreitete militante Botschaften und löste eine Welle des schwarzen Nationalismus und Afrozentrismus, auch des Rassismus aus. „Chuck D“, der „Prophet of Rage“, möchte den Schwarzen einen neuen Stolz und ein neues politisches Selbstbewusstsein geben. Politische Rapper initiierten das „Stop the Violence Movement“, das sich gegen die Gewalt von Schwarz gegen Schwarz in den Ghettos richtet. Viele der Musiker sind in den Ghettos aufgewachsen und kennen die Gewalt aus eigener Erfahrung. Der Chef der Boogie Down Productions, KRS-One (Lawrence Krisna Parker), lebte früher auf der Straße. Nun versucht er neben dem „Stop the Violence Movement“ auch, eine Verbesserung des Bildungssystems für schwarze Kinder zu erreichen.

Im weiteren Verlauf der 1980er Jahre wurde Rap immer mehr mit dem Chaos in den Ghettos identifiziert. Zu diesem Image trugen Rap-Gruppen der Westküste bei, die von Sex und Gewalt in den Ghettos sprachen. Es gab sexistische und obszöne Raps, z. B. von 2 Live Crew oder Ice-T. Der Ruf nach Zensur und Verboten wurde nun öfter laut, und es wurde der Vorwurf der Gewaltverherrlichung erhoben. „Gangsta Rap“ (auch „Hardcore Rap“) ist die Bezeichnung für dieses Genre, das mit den Namen „N.W.A.“ (Niggas with Attitude), Ice Cube (*1969 in Los Angeles) und Ice-T verbunden wird.

HipHop in Deutschland

Der deutsche HipHop entwickelte sich seit dem Anfang der achtziger Jahre, als er im Zuge der Breakdance-Welle nach Europa gelangte. Sogleich begann auch seine Kommerzialisierung; so gab es z. B. Breakdance-Kurse im Fernsehen. Nach der ersten Begeisterung ging dieser Trend jedoch rasch zurück, und es blieb nur noch eine kleine Fangemeinde bestehen, die sich als Subkultur einen eigenen Raum schuf und sich auf sogenannten „Jams“ traf.

Ende der achtziger Jahre machte HipHop erneut von sich reden. Mit ihm identifizierten sich vor allem gesellschaftliche Minderheiten, so die Kinder von Einwanderern. 1988 erschien die erste deutsche Rap-Produktion: „Your the Posse“ von der Gruppe Rock Da Most. Zunächst war es üblich, auf Englisch zu rappen.

1991 erschien die erste Platte der Stuttgarter Band Die Fantastischen Vier mit dem Titel „Jetzt geht’s ab“. Dies war die Premiere des deutschsprachigen HipHop. Der erste Rapper, der auf deutsch freestylte (spontanes Rappen zu Musik aus dem Stegreif), war Torch von der Band Advanced Chemistry. Er gilt als der „Vater“ der HipHop-Szene in Deutschland.

1992 wurden als Reaktion auf die rassistischen Übergriffe in Hoyerswerda mehrere verschiedene politische Platten veröffentlicht. Die erste Single der Gruppe Advanced Chemistry trug den Titel „Fremd im eigenen Land“. Auf ihr werden vor allem die Probleme nicht deutschstämmiger Bevölkerungsgruppen – vor allem der Afrodeutschen – in Deutschland thematisiert. Weitere Bands, die politisch Stellung beziehen, sind Fresh Family aus Ratingen, TCA aus Köln, deren Texte z. T. auch in türkischer und italienischer Sprache geschrieben sind; Kartell aus Berlin mit türkischem Rap.

1992 veröffentlichten Die Fantastischen Vier die Single „Die da?“ und die LP „4 gewinnt“. HipHop aus Deutschland wurde von nun an von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und anerkannt.

Die Fantastischen Vier wurden sehr populär, aber auch stark  kommerzialisiert und deshalb von der „echten“ HipHop-Szene geächtet. Es gab viele Diskussion über einen „echten“ und einen „kommerziellen“ HipHop. Man darf dabei jedoch nicht vergessen, dass durch die Kommerzialisierung und speziell durch den Erfolg der Fantastischen Vier ein Markt für deutschen HipHop entstand, von dem auch andere Bands profitierten.

Es werden Freestyle-Wettbewerbe veranstaltet: Hier besteht die Kunst darin, sich spontan zu einem vorgegebenen Beat einen Text auszudenken; der Sprechgesang soll dabei nicht nur zu dem Beat passen, sondern sich zudem reimen und möglichst interessant sein. Auch andere künstlerische Disziplinen, wie Breakdancing und DJing, sind auf den Wettbewerben vertreten.

War die HipHop-Gemeinde am Ende der 1980er Jahre noch sehr übersichtlich, so gibt es heute in jeder größeren Stadt eigene Szenen, z.B. in

Hamburg: HipHop in Hamburg wird geprägt durch die Bands Eins Zwo, Fettes Brot und Fünf Sterne Deluxe.

Stuttgart: HipHop aus Stuttgart ist vertreten durch die Fantastischen Vier und die Kolchose Erwähnenswert ist auch die Gruppe Freundeskreis, die musikalisch und textlich äußerst vielfältig ist.

Viele deutsche Rapper versuchen, sich sowohl textlich als auch musikalisch von der amerikanischen  Szene unabhängig zu machen. Die Texte werden mit eigenen Inhalten gefüllt. Da die deutschen Rapper oft der Mittelschicht angehören, wird nicht mehr über Ghetto, Armut und Waffengewalt gerappt, sondern – und dies natürlich wesentlich glaubhafter – über das alltägliche Leben.

 

Techno

Literatur (Auswahl)

Böpple, Friedhelm (2001): Wir wollen nichts bewegen, außer uns selbst. In: Artificial Tribes. Jugendliche Stammeskulturen in Deutschland. Hg. von Klaus Farin und Hendrik Neubauer. Berlin. S. 198 ff.

Leinhos, Gabriele: Die Darstellung des Phänomens Techno-Musik. Hausarbeit zum Seminar Erika Funk-Hennigs „Musikalische Jugendkulturen“ (unveröffentlicht)

„Loveparade“. In: Wikipedia (Stand: 15.01.2007)

Poschardt, Ulf (1995): DJ-Culture. Hamburg

„Techno“. In: Wikipedia (Stand: 11.01.2007)

 

Der Begriff „Techno“ bezeichnet nicht nur eine bestimmte Musik, sondern auch den Bereich der Kunst, der damit verbunden ist, sowie ein bestimmtes Lebensgefühl: „Techno is a state of mind & the images & the music.“

Techno wurde durch die Entwicklung moderner Technologien möglich. Als musikalisches Phänomen hat es den Anspruch, Musik der Gegenwart mit Mitteln der Gegenwart herzustellen, d. h. moderne Computertechnologie zu nutzen. Dabei werden vorhandene oder neu kreierte Sounds und Melodien modifiziert und neu zusammengesetzt und mit einem Rhythmusmuster unterlegt, das eine starke Bewegungsstimulation erzeugt. Techno-Musik ist vor allem Party- und Tanzmusik und eignet sich wenig zum Zuhören an der heimischen Stereoanlage.

Die Musik entstand aus der Unzufriedenheit mit der Pop- und Rockkultur heraus. Deren Rollenklischees (z. B. das Verhältnis Star – Publikum) galten als überholt. Neu war der bewusste Verzicht auf herkömmliche Instrumente und die Verwendung eines rein technischen Instrumentariums. Techno-Musik bricht mit den herkömmlichen Vorstellungen: Sie erfordert nicht die übliche Praxis des Übens auf einem Musikinstrument und in der Gruppe. Sie entsteht statt dessen in Einzel- oder Partnerarbeit im Homestudio.

Zur geschichtlichen Entwicklung

Techno entwickelte sich aus dem Musikstil House, der in der Chicagoer Diskothek „The Warehouse“, einer ehemaligen Lagerhalle, durch den Diskjockey Frankie Knuckles begründet wurde. Im Warehouse perfektionierten seit dem Ende der siebziger Jahre DJs die Kunst des Musikmischens. House-Musik bestand aus elektronischen Klängen, gespielt wurde sie vor allem als Tanzmusik in Clubs.

In der Autoindustriestadt Detroit entwickelte sich eine Musik, die von Schwarzen aus unterprivilegierten Verhältnissen getragen wurde. Detroit wird als die Wiege des Techno bezeichnet, als Pionier des Techno Juan Atkins, dessen 1985 erschienene Platte „No UFOs“ vielen als die erste Techno-Platte gilt.

Die House-Szene bestimmte neben dem HipHop die Musik der Diskotheken in den achtziger und frühen neunziger Jahren. Junge DJs produzierten fernab von den großen Firmen mit billiger Ausstattung Platten, zudem ab Mitte der achtziger Jahre Drumcomputer und Sampler billig zu erwerben waren.

Mit dem Aufkommen der House-Musik veränderten sich die Diskotheken: Dunkle Räume, Stroboskope, Halogenscheinwerfer und Trockeneisnebel gehörten zur Grundausstattung, buntes Licht wurde nicht mehr verwendet.

Am Ende der achtziger Jahre, bevor Techno zur Massenbewegung wurde, kam der Acid House auf. Er verbreitete sich besonders in England und auf der Ferieninsel Ibiza. Äußerlich glich er einem Hippie-Revival: Freie Liebe und der Genuss von Rauschmitteln wurden propagiert. Als Erkennungszeichen der Musik und der Szene fungierten sog. Smileys. Der Trend wurde sehr schnell vermarktet. Als jedoch bekannt wurde, dass „Acid“ ein Synonym für die Droge LSD war und dass auch das Rauschmittel Ecstasy in der Szene sehr populär war, gab es strenge Polizeikontrollen und Razzien. Die Warenhäuser nahmen sämtliche Smiley-Artikel aus ihrem Sortiment, Radiostationen weigerten sich, Acid House-Musiktitel zu spielen, auch wenn sie unter den Top Ten waren. Die Folge des Boykotts war das schnelle Verschwinden der Szene (s. „Techno“ in Wikipedia).

Elektronische Musikinstrumente, Technik, musikalischer Aufbau

Bei Techno werden die Töne nicht auf einem mechanischen Instrument erzeugt, sondern auf elektronische Weise. Hier gab es verschiedene Vorläufer. Seit den 1920er Jahren wurde versucht, Töne auf rein elektronischem Weg zu erzeugen. In den frühen siebziger Jahren produzierte die Gruppe Kraftwerk, auf die sich die Techno-Musik oft bezieht, vollsynthetische Musik und trug damit zur Popularisierung elektronischer Musik bei („Elektropop“). Kraftwerk war eine Band, die Studenten der Kunstakademie Düsseldorf im Jahr 1968 gründeten. 1975 löste sich die Band von den in den bisherigen Alben verwendeten traditionellen Instrumenten wie Flöte, Violine und Schlagzeug und benutzte für das fünfte Album „Autobahn“ einen Minimoog-Synthesizer, eine billigere Variante des Synthesizers, die damals aber noch soviel wie ein Kleinwagen kostete. Sie koppelten die Drum Machine via Sequencer mit dem Synthesizer und kreierten den elektronischen Pop oder Robot Pop. Damit gelangten sie in die US-Top-Ten. Das Album „Autobahn“ war nicht nur musikalisch neu, sondern auch verbunden mit einem neuen Outfit der Gruppenmitglieder, die sich als Arbeiter an Maschinen und als Wissenschaftler verstanden und die ihre Musik „industrielle Volksmusik“ nannten. Das Image der Mensch-Maschine perfektionierten sie später, indem sie Puppen zu Pressekonferenzen schickten. Weitere Alben von Kraftwerk: „Trans Europa Express“ (1977), „Die Mensch-Maschine“ (1978), „Computerwelt“ (1981) und „Electric Café“ (1986).

1983 erschien der Synthesizer Yamaha DX-7, ein elektronisches Tasteninstrument. Eine weitere wichtige Rolle spielte der Sampler, den es seit Anfang der achtziger Jahre gibt; eine bedeutende Rolle auch der Roland TR- 808, ein Drumcomputer aus den 1980ern, und der noch ältere Bass-Synthesizer TB-303, der dumpfe Bassschläge erzeugt.

Der Rhythmus (Beat) von Techno-Musik wird nicht mit dem üblichen Schlagzeug hergestellt, sondern mit gesampelten Schlagzeugklängen, die am Bildschirm verändert werden, so dass sie schärfer und künstlicher klingen. Der technotypische Grundklang besteht aus einem synthetischen Bassdrumsound, der auf den Grundschlägen des 4/4-Taktes liegt, meist das ganze Stück hindurch geht und den Motor des Techno bildet. Um diesen durchgehenden Beat werden verschiedene andere Rhythmen gelegt, die mit einem Tasteninstrument eingespielt werden. Mittels eines Sequenzerprogramms werden diese Rhythmen quantifiziert, d. h. rhythmische Irregularitäten werden geglättet und die Töne in völlig gleichmäßigen Rhythmen wiedergegeben. Daher kommt der maschinenmäßig gleichförmige Beat, der einen starken Bewegungs- und Stimmungsanreiz erzeugt. Die einzeln eingespielten Rhythmen werden auf dem Bildschirm zu einem Grundmuster (Pattern) zusammengefasst und serienmäßig hintereinander kopiert. Dadurch entstehen ständig identische Wiederholungen. Nun werden die Basslinie und verschiedene Klangfiguren hinzugefügt. Innerhalb eines Stückes wird das Pattern bis zu zweihundert Mal wiederholt, unterbrochen nur durch einen vier- oder achttaktigen Break oder eine Bridge (Überleitung). Das Einsetzen anderer Instrumente oder Abschnitte erfolgt meist nach acht- bis sechzehntaktigen Einheiten.

Techno-Musik wird in Einzelarbeit im Homestudio gemacht, mitunter auch zu zweit, wobei ein Homerecording-Fachmann mit einem DJ zusammenarbeitet. Die meisten DJs haben keine musikalische Ausbildung an einem Instrument – zu den Ausnahmen gehört DJ Cosmic Baby –, besitzen dafür aber Kenntnisse im Umgang mit Computern und anderen technischen Geräten, außerdem müssen sie ein Gespür für musikalische Details und Abläufe haben.

Die Arbeitsstätte ist neben dem Homestudio die Diskothek bzw. der Club, wo der DJ unmittelbar die Tanzbarkeit und Wirkung seiner Stücke überprüfen kann. Das Instrumentarium eines DJs im Club besteht aus einem Mischpult, zwei Plattenspielern und einem Kopfhörer. In der Disko gibt es die Praxis des Cueings: die genaue Temposynchronisation zwischen zwei Musikstücken. Daher ist die Tempoangabe BPM (beats per minute) auf der Schallplatte für den DJ sehr wichtig. Noch während die erste Platte über die Lautsprecheranlage gespielt wird, hört der DJ über Kopfhörer die Musik der zweiten Platte vor und gleicht deren Geschwindigkeit mittels Reglern an die der laufenden Musik an. Er sucht nun die geeignete Stelle, um möglichst bruchlos den Übergang von der einen zur nächsten Platte zu gestalten. Auf einem bestimmten Beat der ersten Platte startet er den Beat der zweiten Platte – im Tempo des vorangegangenen –, wobei gleichzeitig die Musik der ersten Platte ausgeblendet wird. Die Kunst des Cueings besteht darin, dass der Hörer den Wechsel auditiv nicht wahrnimmt. Das Tempo in der Disko liegt zwischen 115 und 130 bpm, bei der härteren und schnelleren Variante Tekno findet man 150 bis 185 bpm.

Neben dem DJ gibt es den Lightjockey (LJ), der die Musik mit Lichtquellen begleitet, deren Stärke und Farbgebung veränderbar sind. Zur Steuerung der Lichtquellen benötigt der LJ ein Mischpult mit an die hundert Schaltern. Ein LJ, der die Musik des DJs kennt, erweckt den Anschein, als spiele er mit Strahlen, Farben und Blitzen nach der Musik des DJ.

Zu den populärsten DJs gehören

Marusha (mit bürgerlichem Namen Marion Gleiss), eine DJane, die in Nürnberg den ersten Techno-Club gründete. Zusammen mit dem DJ WestBam und seinem Bruder veranstaltete sie die erste „Mayday“ (Techno-Großveranstaltung). Zu ihren populärsten Stücken gehören „Somewhere over the rainbow“ (nach einem Song aus den 1930er Jahren) und die CD „Raveland“.

Cosmic Baby (mit bürgerlichem Namen Harald Blüchel): Einer der wenigen DJs mit einer soliden musikalischen (klassischen) Ausbildung; u. a. studierte er in Berlin Komposition und Tontechnik. Er verhalf dem Musikstil „Trance“ zu großer Popularität.

Aphex Twin: der Engländer Richard James

Djax: Saskia Sleger aus Holland

Sven Väth aus Frankfurt, ein internationaler Star der Techno-Szene. Um Kraft zu schöpfen, fährt er alljährlich nach Goa in Indien, einem Ort, zu dem seit Jahrzehnten Hippies pilgern und der auch für die Anhänger der Techno-Szene von großer Attraktivität ist. Sven Väth spielt „Trance“, eine ruhige, melodiöse meditative Tanzmusik.

WestBam: Maximilian Lenz aus Münster

DJs veröffentlichen ihre Stücke oft unter Pseudonymen. Grund hierfür ist die ablehnende Haltung gegenüber der herkömmlichen Vermarktung von Musikprodukten und dem Starkult. Hinter dem Pseudonym „Cybotron“ verbirgt sich Juan Atkins, hinter „Off“ Sven Väth. Die Pseudonyme wechseln z. Tl. von einer Produktion zur nächsten.

Musikstile in der Techno-Szene

Parallel zu Techno entwickelten sich zahlreiche verwandte Musikrichtungen, die sich nicht nur auf der musikalischen, sondern auch auf der soziokulturellen Ebene voneinander unterscheiden.

Elektronischer Hardcore: aggressive Grundstimmung, eine lärmende, sehr laute und sehr schnelle Musik, die provozieren will. Hardcore spielt innerhalb der Fußball-Szene eine Rolle, insbesondere in Rotterdam und Amsterdam. Vor allem die Rotterdamer Rave-Szene wirkt anziehend auf Hooligans und rechte Gruppierungen. Damit verwandt ist

Gabber, der sich von elektronischem Hardcore durch eine noch größere Geschwindigkeit unterscheidet.

Hardcore und Gabber sind aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die Geschwindigkeit der Musik zu erhöhen. Der Drang nach Masseneuphorie und die Erhöhung der aufputschenden Drogen ebneten den Weg für Hardcore, der vor allem in Amsterdam und Rotterdam wichtige Impulse erfuhr. Die Begeisterung zahlreicher Fußballfans für Gabber führte zu hohen Verkaufszahlen der Platten.

Jungle / British Hardcore: eine Vermischung der schwarzen und weißen Subkultur, musikalisch die Verschmelzung von Reggae und Hardcore. Jungle wurde in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in England von Musikern karibischer Herkunft entwickelt und produziert.

Ambient: eine Form von Musik, die als Hintergrundmusik wirkt. Ambient fungiert als Chill-out-Musik. Als „Urvater“ gilt John Cage mit seinem Stück 4’33” (1952), bei dem 4 Minuten und 33 Sekunden lang jemand an einem Piano sitzt und nicht darauf spielt.

Trance: Die Bezeichnung hat sich seit dem Sommer 1992 für einen Bereich von Techno eingebürgert, der die Zuhörer in einen tranceartigen Zustand versetzt. Trance wird oft in den frühen Morgenstunden in Chill-out-Räumen gespielt, Räumen, die dem Ausruhen nach dem Rave-Dance und der Entspannung nach dem Drogen-Trip dienen.

Trance, Drogen

Eine große Rolle spielen beim Techno Drogen, vor allem Speed und Ecstasy. Die Designer-Droge Ecstasy kam am Ende der achtziger Jahre in England auf. Chemisch ist sie eine Mischung aus LSD und Speed. Seitdem Herstellung und Vertrieb illegal sind, hat sich die Produktion von Ecstasy in Hinterhof-Labors verlagert. Beeinflusst werden durch Ecstasy u. a. das Schlafbedürfnis und Hungergefühle, Ecstasy erzeugt ein Gefühl der Zufriedenheit und des Glücks. Die Droge wird besonders auf Partys zum Tanzen und Wachhalten benutzt. Techno-Fans feiern meist das ganze Wochenende über. Ohne Ecstasy wäre es nicht möglich, das stundenlange Tanzen durchzuhalten.

Party-Kultur der Techno-Szene

Das Party-Fieber begann am Ende der 1980er Jahre in England und griff u. a. auf die Großstädte Deutschlands über. Ideale Gelände für Partys waren leere Fabrikgebäude und alte Lagerhallen. Inzwischen gibt es zahlreiche kommerzielle Großveranstaltungen, die in großen angemieteten Hallen stattfinden.

Es gibt keinen herkömmlichen Paartanz. Jeder tanzt für sich, jedoch gibt es Kontakte zu den anderen. Das gemeinsame Tanzen von Hunderten oder Tausenden von Ravern soll auch ohne Drogen intensive Glücksgefühle erzeugen. Ist die Energie der Tänzer verbraucht, können sie sich in ruhige Chill-out-Räume zurückziehen, in denen sanfte, beruhigende Musik gespielt wird.

Nach einem durchtanzten Wochenende kehren Raver – scheinbar widerspruchslos – in den Alltag zurück. Dieses Verhalten unterscheidet Techno z. B. vom Punk der achtziger Jahre. Die Punker hatten eine negative Lebenseinstellung („No future“), während Techno eher positiv stimmt. In diesem Zusammenhang wird oft von der Raving Society gesprochen, die sich auf die Grundpfeiler Love, Peace und Unity stützt. Die Szene gibt sich gewaltlos. Manches erinnert an Woodstock und die Hippiebewegung. Die Szene gilt im allgemeinen als apolitisch.

Im Zusammenhang mit Techno sind weitere Kunstgenres entstanden: z. B. kunstvoll gestaltete Flyer, dreidimensionale durch computergesteuerte Projektionsmaschinen hergestellte Bühnenbilder, Mandalas, mit Computer bearbeitete Fotos, Pyrotechnik, Computeranimationen u. a.

Labels

Es existiert eine Vielzahl oft kleiner, unabhängiger Labels („Independent“, „Indie-Label“ oder „Indie“ genannt). Einige DJs ziehen es jedoch vor, sich mit großen Plattenfirmen (Major-Labels) zusammenzuschließen. Das bekannteste kommerzielle deutsche Label ist Low Spirit Records in Berlin. Techno-Musik ist zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Faktor in der europäischen Musikindustrie geworden.

Die am meisten verbreitete Zeitschrift heißt „Frontpage“ Sie existiert seit 1989. Magazine sind – außer dem Internet – ein wichtiges Kommunikationsmittel in der Techno-Szene.

Clubs in Deutschland, Love Parade

1990 gilt als Geburtsjahr des Techno. 1991 gelang der Durchbruch in Deutschland, vorwiegend in den Städten Frankfurt und Berlin.

Der erste Club für elektronische Tanzmusik war „Dorian Gray“ in Frankfurt, gegründet 1984. Ein anderer Frankfurter Club war „Omen“; er wurde 1988 eröffnet und gilt als eine der „Geburtsstätten“ des Techno in Deutschland, in ihm trat Sven Väth auf. Das „Omen“ wurde 1998 geschlossen, das Gebäude, ein Parkhaus, abgerissen. In Köln gab es seit 1991 das „Warehouse“, das nach einer Drogenrazzia im Sommer 1994 schließen musste. In Berlin gibt es u. a. „Tresor“.

In Berlin fanden sich 1988 ca. 150 Leute zusammen und demonstrierten mit Techno-Musik auf drei Wagen für den Frieden. Im Jahr darauf erhielt dieses Zusammentreffen den Namen „Love Parade“, fünfhundert Leute kamen zusammen. 1991 erschienen 7000 Techno-Fans auf dem Kurfürstendamm. An der sechsten Love Parade in Berlin nahmen 100 000 teil, im darauffolgenden Jahr 200 000. Im Juli 2000 wurde die Zahl der Teilnehmer auf 1,3 Millionen geschätzt.

1991 fand der erste europäische Techno-Rave, „Mayday“, in Berlin statt. Zu der zweiten „Mayday“ in Köln kamen 10 000 Raver. 1993 wurde die „Mayday“ erstmals in der Dortmunder Westfalenhalle veranstaltet, wo sie inzwischen jedes Jahr vom 30. April auf den 1. Mai stattfindet.

Ursprünglich zielte Techno nicht auf den Massengeschmack und kommerziellen Erfolg. Er richtete sich gegen die etablierte Musikindustrie, war eine „Underground“-Kultur. Allmählich jedoch wurde auch Techno von der Musikindustrie vereinnahmt und wurde so zum Bestandteil des kommerziell erfolgreichen Mainstreams.

© 2006 Gisela Probst-Effah