Impairment als sozio-kulturelle Konstruktion - der ADHS-Diskurs der Sonderpädagogik 

Doktorand: Benjamin Haas, SoL

Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADHS) avancierte innerhalb der letzten 10 Jahre zu der am häufigsten diagnostizierten kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheit. Obgleich die Ätiologie des Phänomens nicht hinreichend geklärt ist und es laut diagnostisch-statistischem Handbuch Psychischer Störungen (DSM-IV) keine objektiv messbaren Parameter zur Feststellung einer biologischen Dysfunktion gibt, ist ein Trend zur medikamentösen Behandlung deutlich erkennbar. Eine solche Medikalisierung, welche das Vorhandensein biologischer Ursachen postuliert, steht im Gegensatz zum sozialen Modell von Behinderung und zur These, dass Verhaltensauffälligkeiten sozio-kulturell konstruiert sind; sie lässt sich als „Umdeutung oder Etikettierung unterschiedlicher sozialer Probleme oder ‚natürlicher' Umbruchphasen als behandelbare Krankheiten" (Karsch 2011: 272) auffassen.

Ausgehend von dieser Situation will das Promotionsprojekt möglichen Auswirkungen biomedizinischer Diskurse auf dem Feld der Sonderpädagogik nachspüren und untersuchen, auf welche Weise das Phänomen ADHS in der sonderpädagogischen Fachliteratur konstituiert wird. Die forschungsleitenden Fragen lauten: Vollzieht sich innerhalb der Sonderpädagogik eine Dethematisierung des sozio-kulturellen Charakters von ADHS? Inwieweit trägt die Sonderpädagogik zur Naturalisierung sozialer Probleme bei?

Bei der Wahl des methodologischen und methodischen Ansatzes wird in erster Linie die Foucaultsche Diskursanalyse (Foucault 1973, 1974) benutzt, welche durch eine Bezugnahme auf die kritische Diskursanalyse nach Jäger (1999) sowie die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2007) methodisch konkretisiert wird. Der Textkorpus setzt sich zusammen aus Aufsätzen in sonderpädagogischen Fachzeitschriften und Handbüchern zum Thema ADHS. Die Auswahl beschränkt sich auf die Jahre 2001-2011, da das Thema zuvor kaum Erwähnung fand. Nach einer Analyse der Grobstruktur des Diskurses wird anhand ausgewählter Schlüsseltexte (Waldschmidt 2010) eine inhaltliche und exemplarische Vertiefung angestrebt, mittels derer vor allem die Verknüpfungen vorhandener Diskursstränge herausgearbeitet werden sollen.

Die Analyse der Thematisierungsweisen der Kategorie ADHS verweist auf zugrundeliegende Machtstrukturen und zeigt, wie im sonderpädagogischen Diskurs behinderte Körperbilder geschaffen und soziale Identitäten geformt werden. Im Anschluss an die Foucaultsche Machtanalytik gilt es, die Disziplin der Sonderpädagogik als gesellschaftliche Machtinstanz zu begreifen, deren Kategorisierungsprozesse auf die Biographien der betroffenen Kinder und Jugendlichen erhebliche Auswirkungen haben.

Literatur

  • Foucault, Michel (1973): Archäologie des Wissens. Frankfurt, Suhrkamp.
  • Foucault, Michel (1974): Ordnung des Diskurses. München, Hanser.
  • Jäger, Siegfried (2006): Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner; Viefhöfer, Willy (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. Wiesbaden, VS-Verlag, 2006, 2. Auflage. 83-115
  • Karsch, Fabian: Die Prozessierung biomedizinischen Wissens am Beispiel der ADHS. In: Keller, Reiner; Meuser, Michael (Hrsg.) (2011): Körperwissen. Wiesbaden, VS-Verlag. 271-288
  • Mayring, Phillip (2007): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim und Basel, Beltz, 9. Auflage, 11-90
  • Saß, Henning; Wittchen, Hans-Ulrich; Zaudig, Michael; Houben, Isabel (Hrsg.) (2003): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen: Textrevision - DSM-IV-TR. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle, Hogrefe.
  • Waldschmidt, Anne (2010): Der Humangenetik-Diskurs der Experten: Erfahrungen mit dem Werkzeugkasten der Diskursanalyse. In: Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner; Viefhöfer, Willy (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2: Forschungspraxis. Wiesbaden, VS-Verlag, 2010, 4. Auflage. 149-170